Sozialrecht

Schwerbehindertenrecht: Bildung des Gesamt-GdB bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen

Aktenzeichen  L 3 SB 165/16

Datum:
16.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 30890
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BVG § 30 Abs. 1, Abs. 2
KOV-VfG § 3 Abs. 1
SGB IX § 2 Abs. 2, § 152 Abs. 1, § 241 Abs. 5
SGG § 99 Abs. 1, § 109 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Der Wohnsitzwechsel eines Menschen mit Behinderung im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens bedingt bei Änderung der Zuständigkeit der Feststellungsbehörde einen entsprechenden Parteiwechsel auf Beklagtenseite. (Rn. 30)
2. Bei Einzel-GdB-Werten von 30, 20, 10 und 10 beträgt der Gesamt-Grad der Behinderung (GdB) im Regelfall 30 oder wie hier 40, nicht jedoch 50. Eine Funktionsstörung bzw. Funktionseinschränkung darf nicht doppelt in die Bildung des Gesamt-GdB einfließen, auch wenn sie aus unterschiedlicher fachärztlicher Sicht beurteilbar ist. (Rn. 46 – 47)
3. Eine etwaige besondere berufliche Betroffenheit ist im Schwerbehindertenrecht nicht GdBerhöhend zu berücksichtigen. (Rn. 36)
4. Die Benennung eines ärztlichen Sachverständigen eigener Wahl erst in der mündlichen Verhandlung ist verspätet. (Rn. 48 – 50)
Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen zusätzliche leichtere Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen.  (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 7 SB 112/15 2016-09-05 SGREGENSBURG SG Regensburg

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 05. September 2016 aufgehoben und der Bescheid vom 11. August 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03. Februar 2015 insoweit abgeändert, als der Beklagte verurteilt wird, mit Wirkung ab 27. Mai 2014 einen GdB von 40 festzustellen.
II. Der Beklagte erstattet die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zur Hälfte.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, jedoch nur insoweit begründet, als mit Wirkung ab 27.05.2014 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 festzustellen ist.
Auch wenn der ehemals beklagte Freistaat Bayern den Bescheid des ZBFS vom 11.08.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.02.2015 erlassen hat, ist alleinig zuständig nunmehr als neuer Beklagter das Land Mecklenburg-Vorpommern, vertreten durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern Versorgungsamt Neubrandenburg. Der Parteiwechsel im Sinne von § 99 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beruht auf dem Umzug des Klägers und Berufungsklägers von P-Stadt nach A-Stadt. Nunmehr ist die Versorgungsbehörde Neubrandenburg nach § 69 Abs. 1 SGB IX a. F. bzw. § 152 Abs. 1 SGB IX n. F. i. V. m. § 3 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) zuständig geworden. Diese hat über den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum ab Antragseingang vom 27.05.2014 zu entscheiden, so dass eine Beiladung gemäß § 75 Abs. 1 oder 2 SGG nicht erforderlich ist.
Auch wenn es sich hier um einen langen streitgegenständlichen Zeitraum handelt, ist maßgeblich für die Beurteilung der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung. Hierbei sind sowohl rechtliche als auch tatsächliche Änderungen zu berücksichtigen, die im Laufe des Verfahrens eingetreten sind.
In den rechtlichen Verhältnissen ist keine wesentliche Änderung eingetreten. Denn das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG -) vom 23.12.2016 – BGBl. I 2016, 3234 ff. sieht in Art. 26 Abs. 1 vor, dass dieses Gesetz vorbehaltlich der Abs. 2 bis 4 am 01.01.2018 in Kraft tritt. Gleichzeitig treten das Neunte Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (Art. 1 des Gesetzes vom 19.06.2001, BGBl. I S. 1046, 1047), das zuletzt durch Art. 2 dieses Gesetzes geändert worden ist, außer Kraft. Unter Hinweis auf Art. 26 Abs. 2 und Art. 2 Änderungen des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (Übergangsrecht zum Jahr 2017) sind die bisher maßgebenden Rechtsnormen übergangsweise weiter anzuwenden. Soweit das BTHG einzelne Ausnahmen hiervon vorsieht, sind diese hier nicht entscheidungserheblich.
§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a. F. entspricht § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX n. F. Danach werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Weiterhin ist in der Übergangsregelung § 241 Abs. 5 SGB IX normiert, soweit noch keine Verordnung nach § 153 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend.
Daher sind zur Beurteilung der jeweiligen Funktionsstörungen und -beeinträchtigungen die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung in der jeweiligen Fassung) unverändert zugrunde zu legen. Diese haben die vormals geltenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996 ff., 2008“ mit Wirkung zum 01.01.2009 abgelöst.
Wenn die Bevollmächtigten des Klägers in diesem Zusammenhang mit Schriftsatz vom 23.08.2018 u. a. auf einen erweiterten Behinderungsbegriff in § 2 Abs. 1 SGB IX n. F. hingewiesen haben, betrifft dies vor allem den Arbeits- und Reha-Bereich. Für das hiesige Feststellungsverfahren sind jedoch aufgrund der Übergangsregelung § 241 Abs. 5 SGB IX weiterhin die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ maßgebend (vgl. Kainz, „Wesentliche Änderungen durch das neue Bundesteilhabegesetz“, NZS 2017 S. 649 bis 655).
Des Weiteren beinhaltet die Übergangsregelung § 241 Abs. 5 SGB IX, dass wie bisher eine etwaige besondere berufliche Betroffenheit des Klägers, der nunmehr langzeitarbeitslos ist, nicht GdBerhöhend zu berücksichtigen ist. Denn es findet ebenfalls unverändert lediglich eine Verweisung auf die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG statt und keine zusätzliche Verweisung auf § 30 Abs. 2 BVG und die dort im sozialen Entschädigungsrecht vorgesehene Möglichkeit, eine besondere berufliche Betroffenheit GdBerhöhend zu berücksichtigen. Maßgeblich ist daher weiterhin die Partizipationsfähigkeit am Leben in der Gesellschaft bzw. die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne von § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX.
Hiervon ausgehend ist festzustellen, dass im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren im Wesentlichen nur die nervenfachärztliche und die orthopädische Beschwerdesymptomatik thematisiert worden sind. Erst zweitinstanzlich ist deutlich geworden, dass auch auf internistischem Fachgebiet ein Beschwerdekomplex vorliegt, der sich auf die Bildung des GdB auswirkt. Im Einzelnen:
Auf nervenfachärztlichem Gebiet besteht bei dem Kläger eine seelische Störung in Form einer Depression, die infolge des Jobverlustes im März 2013 aufgetreten ist. Der Kläger beklagt in diesem Zusammenhang eine negative Zukunftsperspektive, die Kränkung durch den Arbeitsplatzverlust. Er beschreibt Rückzugstendenzen, Lustlosigkeit, Partnerprobleme, affektive Beschwerden, vegetative Störungen und auch zahlreiche körperliche Beschwerden. Entgegen Med.-Dir. R. und in Übereinstimmung mit Dr. H. bestätigt die zweitinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. E. mit Gutachten vom 30.05.2018 schlüssig und überzeugend das Vorliegen eines diesbezüglichen Einzel-GdB von 30. Der psychische Querschnittsbefund ist geprägt von einer stabilen Affektlage, eine tiefgreifende depressive Verstimmung ist nicht erkennbar. Hervorzuheben ist ein spontaner, lebhaft weit ausholender Beschwerdevortrag ohne Ermüdungserscheinungen. Es ergeben sich auch keine Hinweise für schwerwiegende seelische Erkrankungen mit inhaltlichen oder formalen Denkstörungen oder erworbenen kognitiven Defiziten. Zu betonen ist, dass der spontane Bewegungsablauf und die Körperhaltung, auch was die Angaben im Gespräch betrifft, keine Hinweise für ein stärkeres Schmerzsyndrom auf der Grundlage der wirbelsäulenabhängigen Beschwerden ergeben. Dementsprechend wird diese auch nicht behandelt, so Dr. E..
Weiterhin begründet die gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. E. ihre Diagnose „chronifizierte depressive Störung mit Somatisierung“ damit, dass der Kläger über zahlreiche vegetative und Körperbeschwerden klagt, die als Somatisierungsstörung in die Diagnose mit eingehen, insbesondere auch die Neigung zur Diarrhoe. Entsprechend den vorliegenden Befunden liegt der Diarrhoe keine organische Darmerkrankung zugrunde. Kernsymptom einer Somatisierungsstörung ist der Widerspruch zwischen beklagten Körperbeschwerden und Organbefund. Die Symptomatik ist als chronifiziert einzuschätzen und hat sich unter Berücksichtigung aller zur Verfügung stehenden Informationen auf der Basis eines belastenden Lebensereignisses mit Arbeitsplatzverlust generiert. Was die Funktionseinschränkung betrifft, ist es auf der Grundlage der depressiven Störung nicht zu einem Autonomieverlust gekommen. Der Kläger ist im Alltag aktiv. Er ist zu einem selbstbestimmten Leben in der Lage. Er ist fähig, sein Verhalten zu steuern, was bei negativen Antwortverzerrungen in Testuntersuchungen erkennbar ist. Er wird derzeit nicht behandelt, ohne dass es zu einer Verschlechterung gekommen ist. Auch der psychische Befund selbst weist darauf hin, dass keine tiefgreifende, nicht auslenkbar depressive Störung vorliegt. Der Kläger wird von der Sachverständigen Dr. E. für fähig erachtet, seine psychischen Beschwerden zumindest teilweise auch aus eigenem Antrieb überwinden zu können.
Dementsprechend liegt bei dem Kläger eine „stärker behindernde Störung“ mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im Sinne der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ Teil B Rz. 3.7 vor. Vergleichbar werden auch ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert und somatoforme Störungen mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 berücksichtigt. In Übereinstimmung mit Dr. H. und Dr. E. erscheint hier ein Einzel-GdB von 30 als ausreichend, weil auch ausweislich des letzten Gutachtens der Sachverständigen Dr. E. sich die depressive Symptomatik zum großen Teil in einer Rückzugtendenz manifestiert. Auffälligkeiten im gesellschaftlichen Leben sind jedoch nicht beschrieben worden, auch nicht von dem Sachverständigen Med.-Dir. R.. Wenn dieser den vorgesehenen GdB-Rahmen mit einem Einzel-GdB von 40 ausgeschöpft hat, beruht dies aus der Sicht des erkennenden Senats auf einer „Momentaufnahme“ und stellt in Berücksichtigung der Gutachten des Dr. H. und der Dr. E. keinen Dauerzustand dar.
Zweitinstanzlich hat der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. H. mit internistischem Fachgutachten vom 12.04.2018 herausgearbeitet, dass bei dem Kläger folgende Erkrankungen auf seinem Fachgebiet vorliegen: Thrombose, asymptomatische Cholecystolithiasis, Ösophagitis und rezidivierende Ulcera ventriculi, ein seit Jahren bestehendes Reizdarmsyndrom mit rezidivierenden Diarrhöen, eine nachgewiesene Osteoporose sowie ein Zustand nach beidseitiger Herniotomie. Den Zustand nach Herniotomie beidseits ohne Restbeschwerden bewertet Dr. H. ebenso wie die steingefüllte funktionslose Gallenblase mit einem Einzel-GdB von jeweils 0, da ohne Restbeschwerden bzw. asymptomatisch. Weiterhin weist Dr. H. ebenfalls zutreffend darauf hin, dass die Osteoporose im Rahmen der Beurteilung dem orthopädischen Fachgebiet zuzuordnen ist.
Der Sachverständige Dr. H. hebt mit internistischem Gutachten vom 12.04.2018 hervor, dass die rezidivierende Ösophagitis mit Zustand nach Operation und wiederkehrenden Magengeschwüren seit Antragstellung mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten ist. Primär führend ist das Reizdarmsyndrom mit wiederkehrenden Durchfällen und funktionellen Darmbeschwerden mit relativer Inkontinenz, so dass es sich hier um einen Einzel-GdB von 20 bis 30 handelt. Der von Dr. H. beschriebene Bewertungsrahmen entspricht den Vorgaben der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Teil B Rz. 10.2.2. Danach werden chronische Darmstörungen mit stärkeren und häufig rezidivierenden oder anhaltenden Symptomen (z. B. Durchfälle, Spasmen) mit einem Einzel-GdB von 20 bis 30 berücksichtigt. Diesbezüglich erfolgte im Vorfeld keine invasive Untersuchung, wie z. B. eine Koloskopie, so dass Dr. H. hier mutmaßt, dass es sich um eine sehr ausgeprägte funktionelle Darmstörung handelt, wobei differenzialdiagnostisch durchaus auch eine Divertikulitis mit zu berücksichtigen wäre.
Dr. H. stützt sich hierbei somit im Wesentlichen auf die von dem Kläger selbst angegebenen Beschwerden. Von entscheidender Bedeutung für den vorliegenden Rechtsstreit ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Sachverständige Dr. E. auf S. 22 ihres Gutachtens vom 30.05.2017 hervorgehoben hat, der Kläger beklage eine negative Zukunftsperspektive, die Kränkung durch den Arbeitsplatzverlust, er beschreibe Rückzugstendenzen, Lustlosigkeit, Partnerprobleme, affektive Beschwerden, vegetative Störungen, auch zahlreiche Körperbeschwerden würden thematisiert. Hierbei ist insbesondere auch auf eine Neigung zur Diarrhoe hinzuweisen, so Dr. E..
Dies bedeutet, dass sowohl Dr. E. die nämliche Problematik (Reizdarmsymptomatik bzw. Diarrhoen) aus nervenfachärztlicher Sicht als auch Dr. H. aus internistischer Sicht mit Auswirkung auf den GdB berücksichtigt haben. Eine Doppelberücksichtigung der nämlichen Funktionsstörung ist jedoch rechtlich unzulässig, so dass entgegen dem Votum des Dr. H. der internistische Beschwerdekomplex nicht zu einem Einzel-GdB von 30 zusammengefasst werden kann. In diesem Zusammenhang weist der Beklagte mit Schriftsatz vom 25.06.2018 vielmehr zutreffend darauf hin, dass bei isolierter Betrachtung die funktionelle Störung des Dickdarms bei Reflux-Krankheit der Speiseröhre vielmehr mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten ist.
Die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule ist mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen. Es liegen Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen vor (vgl. „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ Teil B Rz. 18.9). Entsprechendes gilt für das bei dem Kläger bestehende Krampfaderleiden mit Dauerantikoagulation, das ab Juli 2017 beschrieben ist (vgl. „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ in Teil B Rz. 9.2.3).
Ausgehend von vier Beschwerdekomplexen mit Einzel-GdB-Werten von 30, 20 und zweimal 10 beträgt der Gesamt-GdB ab Antragstellung 27.05.2014 40. – Die Diarrhoen sind nach Angaben des Klägers bereits seit langem vorliegend; er hat sie jedoch erst im zweitinstanzlichen Verfahren eingehend thematisiert. – Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) führen zusätzliche leichtere Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichteren Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen („Versorgungsmedizinische Grundsätze“ in Teil A Rz. 3).
Im Fall des Klägers ist nochmals darauf hinzuweisen, dass entgegen dem Votum des Dr. H. auch mit ergänzender Stellungnahme vom 29.10.2018 das Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft zu verneinen ist. Ein Gesamt-GdB von 50 ist nicht zu bilden, da die Funktionsstörung Reizdarmsymptomatik mit Diarrhoen nicht doppelt aus nervenfachärztlicher und internistischer Sicht berücksichtigt werden kann. Andererseits handelt es sich bei diesem Beschwerdebild nicht um eine sogenannte „leichtere Funktionsbeeinträchtigung“, die im Rahmen der Bildung des Gesamt-GdB außer Acht gelassen werden könnte. Vielmehr wirkt sich dieses Beschwerdebild nach dem glaubhaften Vorbringen des Klägers sowohl in seiner Ehe als auch bei Verlassen des Hauses aus, wenn sich dieses Beschwerdebild fast imperativ äußert. Die Auffassung des Beklagten mit Schriftsatz vom 25.06.2018, der Gesamt-GdB betrage lediglich 30, erscheint daher zu restriktiv. Ein Gesamt-GdB von 40 ist befundangemessen.
Soweit die Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 15.07.2019, übergeben in der mündlichen Verhandlung vom 16.07.2019, beantragt hat, Prof. Dr. med. Dipl. Psych. M. nach § 109 SGG zu hören, ist diesem Antrag nicht stattzugeben gewesen. Denn zum einen würde durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits erheblich verzögert werden. Zum anderen ist der Antrag nach der freien Überzeugung des Senats aus grober Fahrlässigkeit nicht früher vorgebracht worden (§ 109 Abs. 2 SGG).
Denn der Berichterstatter des Senats hat der Bevollmächtigten des Klägers bereits mit Nachricht vom 08.01.2019 unter Fristsetzung bis 28.02.2019 mitgeteilt, dass der Rechtsstreit entscheidungsreif und ein GdB von 40 befundangemessen erscheine. Sie hat daher nicht erwarten können, dass das Gericht sich vorab nochmals mit den gegenteiligen Auffassungen beider Beteiligten vom 27.12.2018 (der GdB betrage 30) und 26.02.2019 (der GdB betrage 50) auseinandersetzt. Vielmehr ist bei solchen Fallkonstellationen mit einer alsbaldigen Terminierung des Rechtsstreits zu rechnen.
Und selbst wenn man zugunsten des Klägers nicht auf die Nachricht des Gerichts vom 08.01.2019 abstellt, hätte die Bevollmächtigte des Klägers spätestens auf die Ladung vom 29.05.2019, eingegangen bei der Bevollmächtigten des Klägers am 11.06.2019, unverzüglich reagieren können und müssen. Die Benennung von Prof. Dr. med. Dipl. psych. M. erst mit Vorlage des Schriftsatzes vom 15.07.2017 in der mündlichen Verhandlung vom 16.07.2019 ist daher verspätet.
Nach alledem ist der Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Regensburg vom 05.09.2016 nur in dem beschriebenen Umfange stattzugeben gewesen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG. Der nunmehrige Beklagte hat die hälftigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen, da er aufgrund des Wohnsitzwechsels des Klägers für den ehemals zuständigen Freistaat Bayern in das Verfahren eingetreten ist.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG). Soweit die Bevollmächtigte des Klägers den Antrag, die Revision zuzulassen, auf § 160 Abs. 3 SGG wegen Nichteinholung eines weiteren Gutachtens nach § 109 SGG stützt, ist dies unbehelflich.


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