Sozialrecht

Sozialgerichtliches Verfahren – Unfallversicherung – Klage auf Feststellung des Versicherungsfalls – Versterben des Klägers während des Klageverfahrens – Fortführung der Klage durch die Sonderrechtsnachfolger und Erben – Klagebefugnis – Feststellungsinteresse – bestandskräftige Leistungsablehnung – keine verbindliche Entscheidung bei pauschaler Ablehnung aller Leistungen – Gerichtskostenfreiheit

Aktenzeichen  B 2 U 17/19 R

Datum:
16.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BSG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BSG:2021:160321UB2U1719R0
Normen:
§ 55 Abs 1 Nr 3 SGG
§ 77 SGG
§ 183 SGG
§ 56 SGB 1
§ 58 SGB 1
§ 59 SGB 1
§ 31 SGB 10
§ 44 SGB 10
§ 36 SGB 4
§ 1922 BGB
Spruchkörper:
2. Senat

Verfahrensgang

vorgehend SG Hamburg, 23. August 2018, Az: S 36 U 11/16, Urteilvorgehend Landessozialgericht Hamburg, 4. Dezember 2019, Az: L 2 U 40/18, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Klägerinnen und Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Dezember 2019 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1
Die Klägerin zu 1 ist die Witwe, die Klägerin zu 2 und die Kläger zu 3 bis 5 sind die Kinder des während des Klageverfahrens verstorbenen AS. Sie streiten mit der Beklagten darüber, ob bei dem im September 2016 Verstorbenen eine Berufskrankheit (BK) nach Nr 4105 der Anl 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV – durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Perikards – in Zukunft: BK Nr 4105) vorgelegen hat.
2
Der 1960 geborene Verstorbene wuchs in der türkischen Provinz S auf. Nach seiner Übersiedlung nach Deutschland 1981 übte er verschiedene Tätigkeiten aus und war ua bei einer Werft mit Maler- und Sandstrahlarbeiten im Schiffsbau und als Facharbeiter für Oberflächentechnik beschäftigt. Im Juni 2015 erstattete eine Ärztin nach der Verdachtsdiagnose eines malignen epitheloiden Mesothelioms Anzeige wegen einer BK Nr 4105. AS sei als Maler und Lackierer Asbest ausgesetzt gewesen. Die Beklagte nahm daraufhin Ermittlungen bei den früheren Arbeitgebern auf und stellte im September 2015 fest, dass bei AS keine BK Nr 4105 vorliege; Ansprüche auf Leistungen bestünden nicht, eine Asbestbelastung lasse sich nicht im Vollbeweis sichern (Bescheid vom 24.9.2015 und Widerspruchsbescheid vom 5.1.2016).
3
Hiergegen hat AS 2016 Klage zum SG erhoben. Nach Klageerhebung ist er infolge eines tumortoxischen Herzkreislaufversagens bei Pleuramesotheliom verstorben. Der Prozessbevollmächtigte des Verstorbenen hat erklärt, dass das Verfahren mit dem Ziel der Feststellung einer BK Nr 4105 nunmehr für seine Witwe, die Klägerin zu 1, als Sonderrechtsnachfolgerin iS des § 56 SGB I fortgesetzt werde. Das SG hat die Klage, mit der die Klägerin zu 1 begehrt hat, unter Aufhebung der Bescheide der Beklagten eine BK Nr 4105 festzustellen, abgewiesen. Es sei nicht nachweisbar, dass der Verstorbene tatsächlich asbestexponiert gewesen sei (Urteil vom 23.8.2018).
4
Gegen das Urteil hat zunächst nur die Klägerin zu 1 Berufung eingelegt. Nachdem das LSG darauf hingewiesen hatte, dass keine Sonderrechtsnachfolge eingetreten sei und dass neben der Klägerin zu 1 die Kinder des Verstorbenen Gesamtrechtsnachfolger geworden seien, haben auch diese Berufung eingelegt. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen und Kläger hat erklärt, dass diese Gesamtrechtsnachfolgerinnen und Gesamtrechtsnachfolger des Verstorbenen seien und das Verfahren weiter betreiben wollten. Die Klägerinnen und Kläger zu 1 bis 5 haben begehrt, unter Aufhebung des Urteils des SG und der Bescheide der Beklagten eine BK Nr 4105 bei dem Verstorbenen festzustellen.
5
Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 4.12.2019). Die Klage sei bereits unzulässig. Eine Sonderrechtsnachfolge der Klägerin zu 1 nach § 56 SGB I sei nicht eingetreten, weil Gegenstand des Verfahrens keine fälligen Ansprüche auf laufende Leistungen gewesen seien. Den in den Rechtsstreit als Gesamtrechtsnachfolgerinnen bzw -nachfolgern gemäß § 58 SGB I iVm § 1922 BGB eingetretenen Klägerinnen zu 1 und zu 2 bzw Klägern zu 3 bis 5 fehle die Klagebefugnis, weil eine Verletzung subjektiver Rechte für sie nicht in Betracht komme und deshalb das erforderliche Feststellungsinteresse fehle. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung habe zwar ein Feststellungsinteresse des Verstorbenen bestanden. Auch wenn die pauschale Leistungsablehnung in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten in Bestandskraft erwachsen sei, weil seine Klage auf die Feststellung der BK Nr 4105 beschränkt gewesen sei, hätte er gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X Ansprüche auf Geld- und auf Dienst- und Sachleistungen geltend machen können. Die Klägerinnen und Kläger könnten dagegen aus einer für sie positiven feststellenden Entscheidung keine Rechte herleiten, weil sie gegen die bestandskräftige Ablehnungsentscheidung nicht im Zugunstenverfahren nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X vorgehen könnten. § 59 Satz 2 SGB I ermächtige Rechtsnachfolger nur zur Fortsetzung eines in diesem Zeitpunkt anhängigen Verfahrens über Leistungen und zur Entgegennahme festgestellter Leistungen. Zur Einleitung eines Korrekturverfahrens nach § 44 SGB X seien weder Sonderrechtsnachfolger noch Erben berechtigt. Der mit dem Tode erloschene Anspruch könne nicht wegen eines später gestellten Überprüfungsantrags wieder entstehen. Soweit das BSG entschieden habe, dass auch bei einem Antrag eines Sonderrechtsnachfolgers nach § 44 SGB X das Verwaltungsverfahren iS des § 59 Satz 2 SGB I rückwirkend als anhängig betrachtet werden könne, sei dem nicht zu folgen.
6
Mit ihrer Revision rügen die Klägerinnen und Kläger eine Verletzung der § 44 Abs 1 SGB X, § 59 SGB I und § 55 SGG. Klagebefugnis und Feststellungsinteresse hätten bestanden, weil auf sie übergegangene Leistungsansprüche des Verstorbenen durch ein Verfahren nach § 44 SGB X rückwirkend wieder anhängig würden und dann nicht gemäß § 59 Satz 2 SGB I erloschen seien. Auch Rechtsnachfolger könnten ein Verfahren gemäß § 44 SGB X zur Überprüfung der Leistungsablehnung betreiben.
7
Die Klägerinnen und Kläger beantragen sinngemäß,
        
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Dezember 2019 und des Sozialgerichts Hamburg vom 23. August 2018 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 2016 aufzuheben und festzustellen, dass bei dem Verstorbenen eine BK Nr 4105 der Anlage 1 zur BKV vorlag.
8
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
        
die Revision zurückzuweisen.
9
Sie halten das Urteil des LSG für zutreffend.
10
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.


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