Sozialrecht

Übergangsgeld für die Dauer einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme

Aktenzeichen  S 3 R 12/17

Datum:
25.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 20 Nr. 3b
SGB V SGB V § 19 Abs. 2

 

Leitsatz

Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „zuvor“ in § 20 Nr. 3b SGB VI. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Übergangsgeld für die Zeit vom 05.09.2016 bis 04.03.2017 zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die vom Kläger gemäß den §§ 87, 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet.
Die angefochtenen Bescheide sind zu Unrecht ergangen. Der Bescheid der Beklagten vom 12.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2016 ist rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung von Übergangsgeld während der medizinischen Reha-Maßnahme. Die gesetzlichen Vorrausetzungen sind erfüllt. Der Anspruch ergibt sich aus § 20 Nr. 3b SGB VI.
Dieser lautet:
Anspruch auf Übergangsgeld haben Versicherte, die
1. (…)
2. (…)
3. bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder sonstigen Leistungen zur Teilhabe unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder, wenn sie nicht arbeitsunfähig sind, unmittelbar vor Beginn der Leistungen
a) (…)
b) Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übergangsgeld, Kurzarbeitergeld, Arbeitslosengeld, Arbeitslosengeld II oder Mutterschaftsgeld bezogen haben und für die von dem der Sozialleistung zugrunde liegenden Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen oder im Falle des Bezugs von Arbeitslosengeld II zuvor aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt worden sind.
Streitig ist vorliegend allein die Rechtsfrage, ob der unbestimmte Rechtsbegriff des „zuvor“ als Tatbestandsvoraussetzung des Übergangsgeldanspruches gem. § 20 Nr.3 b SGB VI vorliegend gegeben ist, d.h. ob hier ein nahtloser Übergang zwischen vorheriger Pflichtbeitragsleistung zur Rentenversicherung und dem Arbeitslosengeld II-Bezug zu fordern ist oder nicht. Dies ist nach Auffassung der Kammer der Fall.
Unstreitig wurde Arbeitslosengeld von der Arbeitsagentur bis 17.07.2015 gewährt und Arbeitslosengeld II vom 01.08.2015 bis zum 04.09.2016; die Maßnahme zur Rehabilitation begann am 05.09.2016. Zwischen dem Ende des Arbeitslosengeld I-Bezuges und dem Beginn des Arbeitslosengeld II-Bezuges liegt damit zwar eine Lücke vom 18.07.2015 bis 31.07.2015, die aber unschädlich ist, so dass nach Auffassung der Kammer das Tatbestandsmerkmal des „zuvor“ gemäß § 20 Nr. 3b SGB VI erfüllt ist.
Die Beklagte vertritt hingegen die Ansicht, dass das Tatbestandsmerkmal und der unbestimmte Rechtsbegriff „zuvor“ mit einem nahtlosen Übergang gleichzusetzen sei und insoweit keine Ausnahme möglich ist.
Da nach der ursprünglich ab 01.01.2005 geltenden Fassung des § 20 Nr. 3b SGB VI idF des Gesetzes vom 23. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2848) Versicherte, die vor Beginn der Maßnahme Arbeitslosengeld II bezogen hatten, vom Übergangsgeld-Bezug gänzlich ausgeschlossen gewesen wären, weil dem vor Beginn der Maßnahme bezogenen Arbeitslosengeld II kein rentenversicherungspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zugrunde lag, sondern nach § 166 Abs. 1 Nr. 2a SGB VI in der seinerzeit geltenden Fassung ein monatlicher Pauschalbetrag von 400,- €, hat der Gesetzgeber die Vorschrift mWv 01.01.2005 unter Verweis auf ein „redaktionelles Versehen“ (vgl. BT-Drucks 15/2816 S. 16) dahingehend geändert, dass im Falle des Arbeitslosengeld II-Bezugs „zuvor“ Beiträge zur Rentenversicherung aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen gezahlt worden sein müssen.
Über den Wortlaut hinaus erfüllt auch eine Sozialleistung, die den Anforderungen der Nr. 3 Buchst. b genügt, die Voraussetzung des Vorbezugs (Rechtshandbuch der DRV Bund, SGB VI, Stand 2. 1. 2013, § 20 4.1.4). Eine entsprechende Anwendung ist gerechtfertigt, da die Regelungslücke als planwidrig anzusehen ist. So würden anderenfalls beispielsweise Arbeitslosengeld II-Empfänger schlechter gestellt, die nach Verlust einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zunächst Arbeitslosengeld I beziehen, während diejenigen, die etwa mangels Anwartschaft (und damit i. d. R. mit geringerem Beitrag zur Solidargemeinschaft insgesamt) sogleich auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, einen Anspruch auf Übergangsgeld erlangen könnten. Diese unterschiedliche Behandlung wäre nicht zu rechtfertigen (siehe Jüttner in Hauck/Noftz § 20 SGB VI, Stand 2/16).
Umstritten ist, ob sich aus der Formulierung „zuvor“ in § 20 Nr. 3b SGB VI ergibt, dass ein nahtloser Übergang zwischen vorheriger Pflichtbeitragsleistung zur Rentenversicherung und dem Arbeitslosengeld II-Bezug zu fordern ist (so Lilge, SGB VI, § 20 Nr. 6.2; Kreikebohm, SGB VI, 3. Auflage 2008, § 20 Rn. 4; Oberscheven in Lueg/von Maydell/Ruland, GK-SGB VI, § 20 Rn. 67) oder nicht (so Haack in jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 20 Rn. 6; Hirsch in LPK-SGB VI, 2. Auflage 2010, § 20 Rn. 6; Kater in KassKomm SGB VI, Stand Mai 2014, § 20 Rn. 11; KomGRV, SGB VI, Stand Oktober 2006, § 20 Rn. 3, Jüttner in Hauck/Noftz § 20 SGB VI Rn. 26, Stand 2/16, BSG SozR 2200 § 1240 Nr. 11).
Zunächst ist zu beachten, dass ein vom Gesetzgeber gewählter unbestimmter Rechtsbegriff nicht unter Vernachlässigung des Einzelfalls und des Normzwecks durch ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal ersetzt werden kann (vgl. BSG vom 07.09.2010, B 5 R 104/08 R, Rn. 19).
Aus der Zielrichtung des Übergangsgelds als fortlaufende Sicherung nach Entfall von Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen ergibt sich, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang zu fordern ist. Hierfür ist analog § 19 Abs. 2 SGB V ein Zeitraum bis zu einem Monat anzusetzen. Andere Auslegungen würden zu unbilligen Ergebnissen führen, was folgende Beispiele aufzeigen: Hätte der Kläger nur für wenige Tage im Juli Arbeitslosengeld I bezogen, hätte er im Juli noch Arbeitslosengeld II bezogen und damit nach Ansicht der engen Auslegung einen Anspruch auf Übergangsgeld. Das gleiche wäre der Fall, wenn der Arbeitslosengeld I-Anspruch bis zum 17.07.2017 so niedrig gewesen wäre, dass der Kläger im ganzen Juli Anspruch auf Arbeitslosengeld II gehabt hätte. Einer Auslegung, die den Anspruch von Übergangsgeld von solchen Zufälligkeiten abhängig macht, kann nach Ansicht der Kammer nicht gefolgt werden.
Der angefochtene Bescheid ist daher materiell rechtswidrig, der Kläger hat einen materiellen Anspruch auf Leistung des Übergangsgeldes gemäß § 20 Nr. 3b SGB VI. Der Klage war daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben