Sozialrecht

Überlanges Gerichtsverfahren – Entschädigungsklage – immaterieller Nachteil eines minderjährigen Klägers – seelischer Unbill – keine aktive Involvierung in das Gerichtsverfahren – Vertretung durch die Eltern – besondere Belange des Minderjährigen als Verfahrensgegenstand – Belastungen der Eltern – Bemessung der Überlänge – Aktivmonate – richterliche Verfügung – Zeitpunkt der Ausführung – Abwarten auf Eingang eines Originalschriftsatzes – Fehler des Gerichts – freigestellte Stellungnahme anstelle einer Aufforderung zur Stellungnahme

Aktenzeichen  L 10 SF 13/19 EK

Datum:
2.2.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 10. Senat
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:LSGST:2022:0202.L10SF13.19EK.00
Normen:
§ 198 Abs 2 S 1 GVG
§ 198 Abs 2 S 3 GVG
§ 198 Abs 1 S 1 GVG
Spruchkörper:
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Leitsatz

Einen immateriellen Nachteil durch die überlange Dauer eines gerichtlichen Verfahrens, der in Geld zu entschädigen ist, kann auch ein minderjähriger Kläger erleiden, der abgesehen von seiner formalen Beteiligtenstellung nicht persönlich in das Verfahren involviert ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Verfahrensgegenstand besondere Belange des minderjährigen Klägers (hier: Kostenübernahme für eine Petö-Therapie) betrifft. Es ist dann auf die gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen und deren Belastungen abzustellen. (Rn.43)

Verfahrensgang

vorgehend SG Magdeburg, 2. April 2019, S 25 SO 23/15, Urteil

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 200 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und der Beklagte jeweils zur Hälfte.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 400 € festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Entschädigung gemäß § 202 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).
Im Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg (S 25 SO 23/15) war zwischen den Beteiligten die Kostenübernahme für eine Petö-Therapie streitig.
Der am … 2010 geborene – körperlich behinderte – Kläger hatte erstmalig im Oktober 2013 an einer Petö-Therapie teilgenommen, deren Kosten nach Ablehnung durch die Sozialagentur eine Stiftung getragen hatte. Mit Bescheid des Landkreises S. vom 20. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Sozialagentur Sachsen-Anhalt vom 27. Januar 2015 wurde die Übernahme der Kosten i.H.v. insgesamt 1.170 € für eine weitere, vom 3. bis zum 21. März 2014 durchgeführte Petö-Therapie abgelehnt.
Hiergegen erhob der Kläger am 6. Februar 2015 die Ausgangsklage beim SG und beantragte Akteneinsicht. Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2015 ergänzte er sein Vorbringen. Die Sozialagentur legte am 20. April 2015 ihre Klageerwiderung nebst Verwaltungsakte vor. Der Kläger nahm mit Schreiben vom 1. Juni 2015, eingegangen am 4. Juni 2015, dazu Stellung und wies auf die noch nicht gewährte Akteneinsicht hin. Das SG verfügte am 5. Juni 2015 die Übersendung dieses Schreibens an die Sozialagentur zur Stellungnahme ohne Fristsetzung sowie die Übersendung der Verwaltungsakte an den Kläger. Dieser nahm vom 19. bis zum 22. Juni 2015 Einsicht in die Verwaltungsakte und legte diese am 25. Juni 2015 dem SG wieder vor. Mit gerichtlichem Schreiben vom 23. September 2015 übersandte das SG das klägerische Schreiben vom 1. Juni 2015 der Sozialagentur zur Stellungnahme. Auf das am 13. November 2015 eingegangene Schreiben der Sozialagentur nahm der Kläger nach gewährter Fristverlängerung mit Schreiben vom 26. Januar 2016, eingegangen am 28. Januar 2016, Stellung. Dieses Schreiben wurde der Kammervorsitzenden am 5. Februar 2016 vorgelegt, die am 22. Februar 2016 die Übersendung an die Sozialagentur zur Stellungnahme binnen 4 Wochen veranlasste. Die Verfügung wurde am 1. März 2016 ausgeführt. Hierzu und auf eine vom Kläger am 20. Oktober 2015 benannte und am 28. Dezember 2015 vorgelegte Entscheidung eines SG nahm die Sozialagentur nach Fristverlängerung mit Schreiben vom 30. März 2016 Stellung. Dieses am selben Tag per Fax und am 1. April 2016 im Original eingegangene und an diesem Tag der Vorsitzenden vorgelegte Schreiben leitete das SG aufgrund der richterlichen Verfügung vom 19. April 2016 unter dem 4. Mai 2016 an den Kläger zur Stellungnahme innerhalb eines Monats weiter. Nach Erinnerung durch das SG mit Schreiben vom 15. Juni 2016 nahm der Kläger am 1. Juli 2016 Stellung. Es folgten Stellungnahmen der Sozialagentur am 8. August 2016, des Klägers am 16. September 2016 und der Sozialagentur am 27. Oktober 2016. Unter dem 1. November 2016 verfügte das SG „SF – ET“ und leitete mit Schreiben vom 2. November 2016 die letzte Stellungnahme der Sozialagentur vom 24. Oktober 2016 weiter an den Kläger zur Kenntnisnahme.
Am 4. August 2017 ersuchte der Kläger das SG „zur Vermeidung einer Verzögerungsrüge“ um Terminierung innerhalb der nächsten 3 Monate.
Im Erörterungstermin am 21. September 2017, zu welchem das SG aufgrund richterlicher Verfügung vom 28. August 2017 geladen hatte, wies es auf die Erforderlichkeit einer Beiladung der Krankenkasse und der Einholung von Befundberichten hin. Das Sitzungsprotokoll wurde den Beteiligten mit Schreiben vom 4. Oktober 2017 zugeleitet. Dem Kläger wurde mit Schreiben vom selben Tag auch ein „Arztfragebogen“ mit einer Schweigepflichtentbindungserklärung übersandt.
Am 4. Januar 2018 ersuchte der Kläger das SG erneut um Verfahrensfortgang.
Das SG lud mit Beschluss vom 9. Januar 2018 die Krankenkasse bei. Deren Schreiben vom 24. Januar 2018 wurde mit gerichtlichem Schreiben vom 12. Februar 2018 an die Beteiligten zur Kenntnis weitergeleitet. Nach gerichtlicher Aufforderung bereits vom 9. Januar 2018 ging am 22. Februar 2018 der ausgefüllte und unterschriebene „Arztfragebogen“ samt Schweigepflichtentbindungserklärung ein.
Am 4. April 2018 erinnerte der Kläger erneut an den weiteren Verfahrensfortgang.
Mit Schreiben vom 14. Mai 2018 forderte das SG von mehreren Ärzten Befundberichte an. Mit weiterem Schreiben vom 14. Mai 2018 teilte es den Beteiligten mit, dass sich die Einholung von Befundberichten aufgrund des hohen Kammerbestandes und der hohen Anzahl einstweiliger Rechtsschutzverfahren verzögert habe. Nach Eingang des letzten Befundberichtes am 4. Juli 2018 wurden die Berichte mit gerichtlichen Schreiben vom 20. Juli 2018 an alle Beteiligten zur freigestellten Stellungnahme übersandt. Das am 10. August 2018 eingegangene Schreiben des Klägers zu den Befundberichten leitete das SG unter dem 13. August 2018 weiter an die Sozialagentur und die Krankenkasse zur freigestellten Stellungnahme. Mit Schreiben vom 30. Oktober 2018 bat das SG die Sozialagentur und die Krankenkasse jeweils „noch“ um Stellungnahme zu den mit gerichtlichem Schreiben vom 20. Juli 2018 übersandten Befundberichten unter Fristsetzung von 6 Wochen.
Am 2. November 2018 rügte der Kläger die Dauer des Verfahrens.
Mit Schreiben vom selben Tag wies das SG den Kläger auf die – entgegen der gerichtlichen Verfügung vom 19. Juli 2016 – versehentliche Übersendung der Befundberichte an die Sozialagentur und die Krankenkasse lediglich zur freigestellten Stellungnahme hin. Am 8. November 2018 ging die Stellungnahme der Krankenkasse ein.
Am 4. Januar 2019 erinnerte der Kläger erneut an den Fortgang des Verfahrens.
Nach Erinnerung mit gerichtlichem Schreiben vom 7. Januar 2019 legte die Sozialagentur ihre Stellungnahme am 16. Januar 2019 vor. Diese wurde den Beteiligten mit Schreiben vom 17. Januar 2019 übersandt. Das SG teilte den Beteiligten mit Schreiben vom 25. Januar 2019 mit, dass das Verfahren zur Terminierung vorgesehen sei. Nach Weiterleitung eines Schriftsatzes der Krankenkasse vom 23. Januar 2019 mit gerichtlichem Schreiben vom 28. Januar 2019 an den Kläger und die Sozialagentur zur Kenntnis fand auf die Ladungsverfügung vom 5. März 2019 die öffentliche Sitzung am 2. April 2019 statt. In diesem Termin wies das SG die Klage mit Urteil vom 2. April 2019 ab. Dieses wurde dem Kläger und der Sozialagentur am 24. April 2019, der Krankenkasse am 25. April 2019 zugestellt.
Am 4. Juni 2019 hat der Kläger Klage beim SG Magdeburg erhoben, welches diese an das Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt weitergeleitet hat, wo sie am 11. Juni 2019 eingegangen ist. Die Klage ist dem Beklagten am 2. September 2019 zugestellt worden. Der Kläger hat vorgetragen, eine Entschädigung von zumindest 400 € erscheine angemessen. Das Ausgangsverfahren habe mehr als 4 Jahre gedauert. Er habe viermal – mit Schreiben vom 4. August 2017, 4. Januar, 4. April und 2. November 2018 – die überlange Dauer des Verfahrens gerügt. Darüber hinaus habe das SG selbst mit Schreiben vom 14. Mai und 2. November 2018 eine verzögerte Bearbeitung eingestanden. Die Dauer des Prozesses habe wegen der finanziellen Belastung seiner Eltern in Anbetracht der ungeklärten Kostenfrage bei der – wiederholt, zuletzt im Oktober 2017 durchgeführten – Petö-Therapie für ihn körperliche und seelische Folgen gehabt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beklagten zu verurteilen, ihm eine Entschädigung von mindestens 400 € zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
Er ist der Auffassung, dass es vorliegend an einem immateriellen Nachteil des minderjährigen Klägers fehle. Dieser habe in Anbetracht seines Alters weder Kenntnis von dem Ausgangsverfahren gehabt noch sei er davon betroffen gewesen. Auch habe er auf keine therapeutische Maßnahme verzichten müssen. Im Übrigen sei eine unangemessene Verfahrensdauer in einem äußerst geringen Umfang festzustellen, zu der die Beteiligten selbst geringfügig beigetragen hätten. Es habe sich nicht um eine existenzielle Streitigkeit gehandelt. Die Schwierigkeit des Verfahrens sei zwar als überdurchschnittlich anzusetzen. Das Ausgangsverfahren weise jedoch allenfalls eine Verzögerung von 2 Monaten auf. Selbst wenn man vom Bestehen eines immateriellen Nachteils ausgehen wollte, sei eine Wiedergutmachung auf andere Weise durch bloße Feststellung einer etwaigen Überlänge als ausreichend anzusehen.
Der Kläger hat am 18. August 2021 und der Beklagte am 30. August 2021 sein Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vom Senat beigezogenen Gerichtsakte des Ausgangsverfahrens S 25 SO 23/15 verwiesen. Diese sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte den Rechtsstreit entscheiden, ohne eine mündliche Verhandlung durchzuführen, da sich die Beteiligten übereinstimmend hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) statthafte sowie unter Wahrung der Fristen gemäß § 198 Abs. 5 Satz 1, Satz 2 GVG erhobene Entschädigungsklage ist zulässig. Das SG konnte die am 4. Juni 2019 eingegangene Klage formlos an das LSG abgeben, da diese dem Beklagten noch nicht zugestellt worden und damit gemäß § 94 Satz 2 SGG noch nicht rechtshängig gewesen ist.
Die Klage ist teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Entschädigung i.H.v. 200 €.
Die für eine Entschädigung erforderliche Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG hat der Kläger am 2. November 2018 wirksam erhoben.
Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wenn er zuvor bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Erforderlich ist eine konkrete Festlegung des Entschädigungsgerichts hinsichtlich der Angemessenheit oder der Unangemessenheit der Verfahrensdauer, weil die Höhe der Entschädigung von der Dauer der Überlänge abhängt (vgl. § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG; Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/14 R, juris, Rn. 29).
Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist in 3 Schritten zu prüfen (ständige Rechtsprechung, zuletzt: BSG, Urteil vom 17. Dezember 2020, B 10 ÜG 1/19 R, juris, Rn. 45 m.w.N.). Den Ausgangspunkt und ersten Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. In einem zweiten Schritt ist der Ablauf des Verfahrens insbesondere an den von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen, bei denen es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt. Soweit das Entschädigungsgericht Tatsachen feststellt, um diese Begriffe auszufüllen, hat es einen erheblichen tatrichterlichen Beurteilungsspielraum. Auf dieser Grundlage ergeben erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat. Dabei ist davon auszugehen, dass vorbehaltlich besonderer Gesichtspunkte des Einzelfalls die Verfahrensdauer jeweils insgesamt noch als angemessen anzusehen ist, wenn eine Gesamtverfahrensdauer, die 12 Kalendermonate je Instanz übersteigt, auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht.
1.
Die Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens betrug von der Klageerhebung am 6. Februar 2015 bis zur Zustellung des Urteils am 24. bzw. 25. April 2019 49 Monate (März 2015 bis März 2019). Grundsätzlich ist nach der Rechtsprechung des BSG auf volle Kalendermonate abzustellen (vgl. zur Berechnung BSG, Urteile vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 11/13 R, juris, Rn. 23, vom 7. September 2017, B 10 ÜG 1/16 R, juris, Rn. 31, und B 10 ÜG 3/16 R, juris, Rn. 24, sowie vom 12. Dezember 2019, B 10 ÜG 3/19 R, juris, Rn. 32).
2.
Das Ausgangsverfahren weist 14 Monate gerichtlicher Inaktivität auf.
Eine erste Untätigkeit des SG bei der Bearbeitung des Verfahrens ohne hinreichenden Grund stellt der Senat mit einem Kalendermonat im September 2015 fest. Der Kläger hatte sich in dem Schreiben vom 1. Juni 2015 mit der Klageerwiderung auseinandergesetzt und auf als Anlagen beigefügte medizinische Unterlagen Bezug genommen. Dieses Schreiben übersandte die Geschäftsstelle des SG ungeachtet der richterlichen Verfügung vom 4. Juni 2015 erst unter dem 23. September 2015 und damit verzögert an die Sozialagentur zur Stellungnahme. Zwar durfte es unter Berücksichtigung der Akteneinsicht vom 19. bis zum 22. Juni 2015 weiteren Vortrag des Klägers bis August 2015 abwarten. Schließlich hatte sich dieser in der Klageschrift eine ergänzende Begründung nach Akteneinsicht vorbehalten. Allerdings ist das SG – statt bereits im Juni 2015 – erst unter dem 23. September 2015 seiner Verpflichtung nach § 108 Abs. 2 SGG zur Übersendung von eingehenden Schreiben an Beteiligte nachgekommen. Die monatelange Untätigkeit bis zur Übersendung des Schriftsatzes geht nicht zugunsten des Beklagten. In Anbetracht dieses „nachgeholten“ Tätigwerdens wertet der Senat den September 2015 als Zeit der Inaktivität des SG.
Eine weitere Zeit gerichtlicher Untätigkeit liegt im Februar 2016 mit einem Kalendermonat vor. Das bereits am 28. Januar 2016 eingegangene Schreiben des Klägers ist der Sozialagentur erst mit Schreiben vom 1. März 2016 und damit nach Ablauf von mehr als einem Kalendermonat weitergeleitet worden. Trotz richterlicher Verfügung vom 22. Februar 2018 wertet der Senat den Monat Februar 2018 als einen Zeitraum gerichtlicher Inaktivität. Diese ohnehin erst spät – nach Vorlage des klägerischen Schreibens am 4. Februar 2018 – erfolgte Verfügung ist deutlich verzögert ausgeführt und damit für die Beteiligten erst im März 2016 erkennbar geworden (vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26. Mai 2020, L 37 SF 150/19 EK AL, juris, Rn. 31).
Der Senat stellt hingegen im Monat April 2016 keine Untätigkeit des SG fest. Dessen Vorgehensweise, erst den Eingang des Originals zum Schreiben der Sozialagentur vom 30. März 2016 abzuwarten, ist nicht zu beanstanden. Zwischen dem Eingang am 1. April 2016 und dem Versendungsschreiben vom 4. Mai 2016 liegt kein voller Kalendermonat, in welchem das SG untätig gewesen ist.
Eine Zeit gerichtlicher Inaktivität von 8 Kalendermonaten liegt vom 2. November 2016 bis zum 28. August 2017 (Dezember 2016 bis Juli 2017) vor. Der Schriftsatz der Sozialagentur vom 24. Oktober 2016 wurde dem Kläger unter dem 2. November 2016 lediglich zur Kenntnisnahme übersandt. Es bestanden keine hinreichenden Gründe für das Zuwarten des SG bis zur Ladungsverfügung vom 28. August 2017, mit welcher zum Erörterungstermin am 21. September 2017 geladen wurde.
Entgegen der Auffassung des Klägers stellt der Senat keine Untätigkeit des SG in der Zeit ab dem gerichtlichen Schreiben vom 4. Oktober 2017 (Übersendung des auszufüllenden und zu unterschreibenden „Arztfragebogens“ samt Schweigepflichtentbindungserklärung) bis zu dem Schreiben des Klägers vom 4. Januar 2018 (Rüge der noch fehlenden Beiladung und der noch nicht erfolgten Einholung von Befundberichten) fest. Es sind zwar keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Beiladung der Krankenkasse nicht bereits früher und damit vor dem 9. Januar 2018 hätte erfolgen können. Das SG konnte aber erst mit der Vorlage des ausgefüllten und unterschriebenen „Arztfragebogens“ (mit der Angabe der den Kläger behandelnden Ärzten) samt der unterschriebenen Schweigepflichtentbindungserklärung am 22. Februar 2018 weitere medizinische Ermittlungen veranlassen. Diese Verfahrensverzögerung ist allein auf die fehlende Mitarbeit des Klägers und damit auf dessen Verhalten i.S.d. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG zurückzuführen.
Darüber hinaus stellt der Senat weitere 2 Kalendermonate des Nichtbetreibens des Verfahrens durch das SG vom 22. Februar 2018 bis zu den gerichtlichen Befundberichtsanfragen vom 14. Mai 2018 (März und April 2018) fest. Es bestand kein hinreichender Grund, mit der Einholung der Befundberichte mehr als 2 Monate zu warten.
Zudem liegt eine weitere Zeit der Untätigkeit von 2 Kalendermonaten ab dem gerichtlichen Schreiben vom 20. Juli 2018 bis zu dem gerichtlichen Schreiben vom 30. Oktober 2018 (August und September 2018) vor. Wie das SG selbst einräumte, wurden die Befundberichte mit Schreiben vom 20. Juli 2018 statt zur Stellungnahme – ausweislich der richterlichen Verfügung vom 19. Juli 2018 – lediglich zur freigestellten Stellungnahme an die Sozialagentur und die Beigeladene übersandt. Die falsche Ausführung der Verfügung ist dem Kläger nicht zuzurechnen. Vielmehr ist in den Monaten August und September 2018 keine Verfahrensförderung festzustellen. Daran ändert der Umstand nichts, dass das SG unter dem 13. August 2018 die Stellungnahme des Klägers zu den Befundberichten den anderen beiden Beteiligten zur freigestellten Stellungnahme übermittelte. Diese Aktivität des SG kompensiert nicht die durch die fehlerhafte Ausführung der Verfügung vom 19. Juli 2018 eingeleitete Verzögerung. Diese ist auf die nicht schon früher gefertigten und bis Oktober 2018 eingegangenen Stellungnahmen der Sozialagentur und der Krankenkasse zu den Befundberichten zurückzuführen. Schließlich hatte sich das SG eine Frist zur Wiedervorlage von 3 Monaten gesetzt.
Eine weitere Untätigkeit vermag der Senat nicht festzustellen.
3.
Bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände stellt der Senat eine entscheidungsrelevante Verzögerung von 2 Monaten (14 Monate abzüglich 12 Monaten) fest. Ein Abzug von 12 Monaten ergibt sich aus der vom BSG aus der Struktur und Gestaltung sozialgerichtlicher Verfahren abgeleiteten Regel, der zufolge vorbehaltlich besonderer Umstände je Instanz eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten noch hinzunehmen ist (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 7/14 R, juris, Rn. 37). Die besonderen Umstände des Falles gebieten vorliegend keine andere Bewertung.
Der Senat bewertet die Schwierigkeit des Ausgangsverfahrens als überdurchschnittlich. Das SG hatte zu prüfen, ob hinsichtlich der Petö-Therapie die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Eingliederungshilfe oder der gesetzlichen Krankenversicherung vorlagen. Zur Klärung der Frage, ob die Therapie der medizinischen oder der sozialen Rehabilitation diente, waren medizinische Ermittlungen in Form der Einholung und Beiziehung von medizinischen Unterlagen sowie deren Auswertung erforderlich. Die Bedeutung des Ausgangsverfahrens ist für den Kläger als überdurchschnittlich festzustellen, da es um die Förderung seiner gesundheitlichen Entwicklung ging. Zudem hat er nur geringfügig zur Verzögerung des Verfahrens beigetragen, indem er zur Übersendung des ausgefüllten und unterschriebenen „Arztfragebogens“ samt Schweigepflichtentbindungserklärung fast 3 Monate benötigte.
4.
Wenn ein Verfahren unangemessen lange gedauert hat, wird gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet. Bei dieser normierten gesetzlichen Vermutungsregelung handelt es sich um eine widerlegbare gesetzliche Tatsachenvermutung i.S.d. § 292 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) (dazu BSG, Urteil vom 17. Dezember 2020, B 10 ÜG 1/19 R, juris, Rn. 52; Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 5. Juni 2020, 5 C 3/19 D, juris, Rn. 12; Bundesgerichtshof [BGH], Urteil vom 12. Februar 2015, III ZR 141/14, juris, Rn. 40). Sie soll dem Betroffenen die Geltendmachung eines immateriellen Nachteils erleichtern, weil in diesem Bereich ein Beweis oft nur schwierig oder gar nicht zu führen ist (BT-Drucks. 17/3802 Seite 19, 41). Diese Vermutungsregel, die sich sowohl auf das Vorliegen eines Nichtvermögensnachteils als auch auf die haftungsausfüllende Kausalität erstreckt, entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Dieser nimmt eine starke, aber widerlegbare Vermutung dafür an, dass die überlange Verfahrensdauer einen Nichtvermögensschaden verursacht (EGMR, Urteil vom 29. März 2006, 36813/97, NJW 2007, 1259, Rn. 204; vgl. BSG, a.a.O., Rn. 53; BGH, a.a.O., Rn. 40).
Danach ist im Fall des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG die Vermutung eines auf der Verfahrensdauer beruhenden immateriellen Nachteils nur dann widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht nach einer Gesamtbewertung der Folgen die Überzeugung gewinnt, dass die (unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu einem Nachteil beim Kläger geführt hat (BSG, a.a.O., Rn. 54; BVerwG, Urteil vom 5. Juni 2020, 5 C 3/19 D, juris, Rn. 13; BGH, Urteil vom 13. April 2017, III ZR 277/16, juris, Rn. 21; BGH, Urteil vom 12. Februar 2015, III ZR 141/14, juris, Rn. 41). Dies kann gegeben sein, wenn eine Gesamtbewertung den Schluss rechtfertigt, dass die unangemessene Verfahrensdauer entweder als solche nicht nachteilig (oder sogar vorteilhaft) gewesen ist oder es an einem Kausalzusammenhang zwischen Verfahrensdauer und Nachteil fehlt (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 54 m.w.N.). Dies ist – auch nach dem Vortrag des Beklagten – nicht der Fall.
Andere außergewöhnliche Umstände, die der Vermutungsregelung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG entgegenstünden, sind nicht feststellbar. Insbesondere entkräftet die Tatsache, dass der Kläger während der Dauer des Ausgangsverfahrens zwischen 4 und 8 Jahre alt war, die Vermutungswirkung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG nicht. Der Beklagte geht zu Unrecht davon aus, dass der Kläger als Minderjähriger keinen immateriellen Nachteil erlitten habe.
Der Entschädigungsanspruch ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG als ein „Jedermann-Recht“ konzipiert. Es handelt sich insoweit um einen „personenbezogenen Anspruch“. Auch in Fällen einer subjektiven Klagehäufung steht der Entschädigungsanspruch jeder am Gerichtsverfahren beteiligten einzelnen Person zu (BSG, Urteil vom 5. Mai 2015, B 10 ÜG 5/14 R, juris, Rn. 31; Bundesfinanzhof [BFH], Urteil vom 2. Dezember 2015, X K 6/14, juris, Rn. 48; BVerwG; Urteil vom 27. Februar 2015, 5 C 1/13 D, juris, Rn. 37). Insoweit ist das LSG Mecklenburg-Vorpommern in der von dem Beklagten angeführten Entscheidung (Urteil vom 27. Juni 2018, L 12 SF 43/17 EK AS, juris, Rn. 32) von einem eigenen Entschädigungsanspruch eines Minderjährigen als weiterem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft ausgegangen. Allerdings hat es diesen Anspruch im Hinblick auf die Abstufung der Regelbedarfe nach dem Alter der Leistungsbedürftigen nach unterschiedlichen Regelbedarfsstufen für den minderjährigen Kläger der Höhe nach begrenzt. Es hat aber ausdrücklich eine andere Beurteilung im Sinne einer individuellen Betrachtungsweise für den Fall, dass der Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens besondere Belange des Minderjährigen betrifft (z.B. Zuschuss oder Übernahme der Kosten für eine Klassenfahrt u.ä.) für möglich erachtet (LSG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O., Rn. 33). Vorliegend handelt es sich um eine solche Fallkonstellation, da hinsichtlich der Frage der Kostenübernahme einer Petö-Therapie besondere Belange des Klägers betroffen waren.
Obwohl der minderjährige Kläger in dem Ausgangsverfahren durch seine Mutter gesetzlich vertreten wurde und darin nicht persönlich involviert war, hat er durch die Länge des Verfahrens einen immateriellen Nachteil erlitten. Die Teilnahme an der streitgegenständlichen Therapie und weiterer Therapien war für die gesundheitliche Entwicklung des jungen Klägers von großer Bedeutung. Da allerdings dessen Eltern zunächst die Kosten für die streitgegenständliche Therapie getragen und dem Kläger die Teilnahme daran ermöglicht hatten, war durch die Länge des Ausgangsverfahrens keine Klärung der Finanzierung der Petö-Therapie erreicht worden. Zudem war in Anbetracht der unsicheren Rechtslage auch die Frage der Finanzierung weiterer derartiger Therapien nicht geklärt. Diese für den Kläger objektiv bestehende Unsicherheit war jedenfalls seiner gesetzlichen Vertreterin bewusst. Das BSG hat bereits entschieden, dass für einen Entschädigungsanspruch einer juristischen Person des Privatrechts wegen immaterieller Nachteile auf die für diese handelnden Personen und deren Belastungen abzustellen ist (Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 1/13 R, juris, Rn. 37; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Mai 2020, L 13 SF 5/19 EK AS, juris, Rn. 20).
5.
Der Entschädigungsanspruch beträgt 200 €.
Der Senat legt in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG und im Interesse einer gleichmäßigen und nachvollziehbaren Anwendung der pauschalen Entschädigung nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG den gesetzlich genannten Betrag von 1.2000 €/Jahr zugrunde. Hiervon sollte nur in ganz besonders gelagerten Fällen abgewichen werden. Eine solche Fallkonstellation liegt aber nicht vor. Insbesondere ist eine Wiedergutmachung auf andere Weise i.S.d. § 198 Abs. 4 GVG nicht ausreichend. Das folgt schon aus der beschriebenen erheblichen objektiven Bedeutung, die das Ausgangsverfahren für den Kläger hatte.
6.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
7.
Anlass, die Revision nach §§ 160 Abs. 2, 202 Satz 2 SGG, § 201 Abs. 2 Satz 3 GVG zuzulassen, bestand nicht.
8.
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 52 Abs. 1 und 3, 63 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss über den Streitwert ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).


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