Sozialrecht

Verkehrsunfall, Unfall, Schmerzensgeld, Therapie, Rechtsanwaltskosten, Unfallgeschehen, Schmerzen, Gutachten, Krankengymnastik, Tinnitus, Unfallhergang, Widerspruch, Zustimmung, Unfallfolgen, manuelle Therapie, kein Anspruch, zeitlicher Zusammenhang

Aktenzeichen  16 O 4571/20

Datum:
27.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13501
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 8.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
A.
Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist das angerufene Gericht gem. § 1 ZPO i.V.m. §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich gem. § 20 StVG (analog) bzw. § 32 ZPO (analog) (vgl. Schultzky, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 32 Rn. 17 m.w.N.) örtlich zuständig.
B.
Die Klage ist jedoch unbegründet.
Dem Kläger stehen weder Ansprüche aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 11 StVG (I.), aus § 18 Abs. 1 S. 1 StVG (II.) noch aus § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB (III.) jeweils i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. §§ 1 ff. PflVG zu.
Nachdem auch keine anderen Anspruchsgrundlagen ersichtlich bzw. einschlägig sind, besteht mangels Anspruchs in der Hauptsache auch kein Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten und Zinsen (IV.).
I.
Ein Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 11 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. §§ 1 ff. PflVG besteht schon deshalb nicht, da es an unfallkausalen Rechtsgutsverletzungen des Klägers fehlt. Der Kläger ist insoweit beweisfällig geblieben.
1) Wird gem. § 7 Abs. 1 StVG bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Halter verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. § 11 S. 2, S. 1 StVG konkretisiert dies dahingehend, dass im Falle einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit eine billige Entschädigung für den Schaden, der nicht Vermögensschaden ist, gefordert werden kann.
a) Der Begriff der Körperverletzung i.S. der § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 11 StVG weit auszulegen. Er umfasst jeden unbefugten, weil von der Einwilligung des Rechtsträgers nicht gedeckten Eingriff in die Integrität der körperlichen Befindlichkeit (BGH, Urt. vom 17.09.2013 – VI ZR 95/13, NJW 2013, 3634 Rn. 12). Unter den Begriff der Gesundheitsverletzung fällt jedes Hervorrufen eines von den normalen körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden Zustands; unerheblich ist, ob Schmerzzustände auftreten, oder ob eine tiefgreifende Veränderung der Befindlichkeit eingetreten ist (BGH, Urt. vom 14.06.2005 – VI ZR 179/04, NJW 2005, 2614).
b) Aus dem Tatbestandsmerkmal „bei dem Betrieb“ folgt, dass die Körper- bzw. Gesundheitsverletzung kausal auf den Betrieb des Kraftfahrzeugs und damit das zugrundeliegende Unfallgeschehen zurückzuführen sein muss. Ein bloßer Verletzungsverdacht steht einer Verletzung haftungsrechtlich nicht gleich (BGH, Urt. vom 17.09.2013 – VI ZR 95/13, NJW 2013, 3634 Rn. 8 und Rn. 14).
c) Die für die Haftungsbegründung notwendige kausale Primärverletzung muss vom hierfür darlegungs- und beweisbelasteten Geschädigten nach dem Maßstab des § 286 ZPO zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden (BGH, Urt. vom 28.01.2003 – VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116, 1117; BGH, Urt. vom 03.06.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502 Rn. 7; BGH, Urt. vom 08.07.2008 – VI ZR 274/07, NJW 2008, 2845 Rn. 7).
aa) Nach § 286 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung darüber zu befinden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. Die streitige Tatsache muss demgemäß im Rahmen des Vollbeweises zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Wie sich im Umkehrschluss zu § 294 ZPO ergibt, reicht eine bloß überwiegende Wahrscheinlichkeit nicht aus. Allerdings bedarf es auch keiner absoluten Gewissheit oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Erforderlich und ausreichend ist vielmehr ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (ständige Rechtsprechung des BGH, siehe nur BGH, Urt. vom 19.07.2019 – V ZR 255/17, NJW 2019, 3147 Rn. 19). Neben den Strengbeweismitteln gem. §§ 371 ff. ZPO ist im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 286 ZPO auch der gesamte Inhalt der Verhandlungen in die Überzeugungsbildung des Gerichts einzustellen. Demnach kann auch die informatorische Anhörung der Parteien verwertet werden (Kockentiedt/Windau, NJW 2019, 3348).
bb) Einen Automatismus dergestalt, dass bei Unterschreiten einer gewissen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung grundsätzlich von einem Ausschluss der Unfallkausalität jeglicher Primärverletzungsfolgen auszugehen wäre (sog. Harmlosigkeitsgrenze), ist nicht anzuerkennen (BGH, Urt. vom 28.01.2003 – VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116, 1117; BGH, Urt. vom 03.06.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502 Rn. 15; BGH, Urt. vom 08.07.2008 – VI ZR 274/07, NJW 2008, 2845 Rn. 9).
Zwar bildet die Frage der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung bzw. der Grad der biomechanischen Krafteinwirkung auf den Geschädigten einen gewichtigen Umstand im Rahmen der Beweiswürdigung, indes sind auch alle übrigen Einzelfallumstände in die Betrachtung einzubeziehen (BGH, Urt. vom 28.01.2003 – VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116, 1117; BGH, Urt. vom 08.07.2008 – VI ZR 274/07, NJW 2008, 2845 Rn. 9).
Insofern ist auch der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Einsetzen von Verletzungssymptomen, die vorherige Beschwerdefreiheit des Geschädigten sowie die Befunde und Feststellungen der behandelten Ärzte bzw. der Erstuntersuchung von Bedeutung (BGH, Urt. vom 28.01.2003 – VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116, 1117; BGH, Urt. vom 08.07.2008 – VI ZR 274/07, NJW 2008, 2845 Rn. 11).
Hinsichtlich des Beweiswertes ärztlicher Befunde gilt es zu beachten, dass der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt. Für diesen steht demgemäß die Notwendigkeit einer Therapie im Mittelpunkt, während die Benennung der Diagnose als solche für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung ist. Deshalb sind zeitnah nach einem Unfall erstellte ärztliche Atteste für den medizinischen Sachverständigen eher von untergeordneter Bedeutung. Eine ausschlaggebende Bedeutung wird solchen Diagnosen im Allgemeinen jedenfalls nicht beizumessen sein. Im Regelfall wird das Ergebnis einer solchen Untersuchung nur als eines unter mehreren Indizien für den Zustand des Geschädigten nach dem Unfall Berücksichtigung finden können. Eine Vernehmung der behandelnden Ärzte als Zeugen oder sachverständige Zeugen ist zudem entbehrlich, wenn das Ergebnis ihrer Befundung schriftlich niedergelegt, vom Sachverständigen gewürdigt und in die Beweiswürdigung einbezogen worden ist, denn bei der Frage nach einem Zusammenhang der geltend gemachten Beschwerden mit dem Unfallgeschehen kommt es allein auf die Beurteilung durch Sachverständige und nicht auf die Aussagen von Zeugen an (BGH, Urt. vom 03.06.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502 Rn. 11).
d) Einzig eine auf die bewiesene oder unstreitige Primärverletzung aufbauende kausale Sekundärverletzung kann nach dem herabgesetzten Beweismaß des § 287 ZPO aufgrund greifbarer Anhaltspunkte mit lediglich überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommen werden (BGH, Urt. vom 28.01.2003 – VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116, 1117).
Nach dem Beweismaßstab des § 287 Abs. S. 1 ZPO entscheidet das Gericht nach Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung über die Entstehung eines Schadens bzw. dessen Höhe oder die Höhe eines zu ersetzenden Interesses.
Die Anwendung von § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO führt auf Darlegungsebene im Vergleich zu § 286 ZPO zu einer Reduzierung der Substantiierungslast. Es müssen demgemäß bloß ausreichend greifbare Anhaltspunkte für die Beurteilung nach § 287 ZPO vorgetragen werden (BGH, Urt. vom 23.11.2006 – IX ZR 21/03, NJW-RR 2007, 569 Rn. 21). Zudem wird auch das Beweismaß herabgesetzt. Demnach reicht für die richterliche Überzeugungsbildung eine überwiegende, freilich auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit aus (BGH, Urt. vom 23.11.2006 – IX ZR 21/03, NJW-RR 2007, 569 Rn. 21).
2) Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegend zu beurteilenden Streitfall steht nach Gesamtwürdigung (d) der informatorischen Anhörung des Klägers (a), der Ausführungen des Sachverständigen (b) sowie der vorgelegten Atteste (c) nicht zur Überzeugung des Gerichts gem. § 286 ZPO fest, dass die klägerseits behaupteten Primär-Verletzungsfolgen in Form des Schleudertraumas der Halswirbelsäule bzw. HWS-Distorsion und der Distorsion der Brustwirbelsäule ursächlich auf das streitgegenständliche Unfallgeschehen zurückzuführen sind. Einer Einvernahme der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen hat es nicht bedurft (e).
a) Der Kläger hat im Rahmen seiner informatorischen Anhörung den Klagevortrag bestätigt und im Wesentlichen ausgeführt, seit dem Unfallgeschehen an Nackenschmerzen zu leiden. Ungefähr drei Monate nach dem Unfall, im Oktober 2015, seien zudem Ohrengeräusche hinzugekommen, die bis heute anhalten würden. Zudem hat der Kläger Schmerzen, Schwindelgefühle und ein Kribbeln in der linken Hand beschrieben. Vor dem Unfall sei der Kläger beschwerdefrei gewesen. Vor dem Anstoß habe der Kläger normal im Pkw gesessen.
Der Vortrag des Klägers erscheint hierbei glaubhaft. Auch nach kritischer Sachprüfung durch das Gericht finden sich im stringenten Vortrag keine Widersprüchlichkeiten.
Zudem erscheint der Kläger auch grundsätzlich glaubwürdig. Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass dem Kläger nach aussagepsychologischen Grundsätzen durch seine persönliche und wirtschaftliche Betroffenheit ein erheblicher Lügenanreiz gesetzt wird. Indes hat der Kläger die Unfallfolgen sachlich und ohne Belastungseifer geschildert. Zudem werden die Schilderungen des Klägers zum Unfallgeschehen partiell von den objektiven Feststellungen des Sachverständigen getragen. So konnte dieser aus unfallanalytischer Sicht rekonstruieren, dass der erste Anprall eine stärkere Kraftwirkung entfaltet hat als der zweite Anstoß (hierzu sogleich).
b) Der Sachverständige konnte im Rahmen seines interdisziplinären biomechanisch-medizinischem Gutachten nach unfallanalytischer bzw. biomechanischer Rekonstruktion des Unfallgeschehens sowie ärztlicher Begutachtung folgendes feststellen:
aa) Ausgehend von der vorgelegten Schadensdokumentation konnte der Sachverständige den vorgetragenen Unfallhergang plausibilisieren und rekonstruieren. Im Rahmen dessen konnte der Sachverständige feststellen, dass die aus der Anstoßsituation resultierende intrakovisionäre Geschwindigkeitsänderung des Kläger-Fahrzeugs im Bereich von 7,82 bis 8,5 km/h lag. Bei qualitativer Betrachtung sei davon auszugehen, dass der Kläger in Folge des Anstoßgeschehens nach hinten in Richtung Sitzlehne bewegt worden sei. Eine verletzungsinduzierende Beaufschlagung der Brustwirbelsäule sei deshalb bereits rein qualitativ nicht plausibel und nicht nachvollziehbar.
Bei quantitativer Betrachtung sei unter Berücksichtigung der Geschwindigkeitsänderung sowie Stoßzeit von einer Fahrzeugbeschleunigung des Kläger-Pkws im Bereich von 7,24 m/s2 bis 15,74 m/s2 auszugehen. Dies entspreche bei Umrechnung in vielfacher der Erdbeschleunigung (g = 9,81 m/s2) einem Beschleunigungswert des Pkws von 0,74 g bis max. 1,6 g. Die Beschleunigung des Kopfes des Klägers bei Beaufschlagung läge dabei doppelt bis max. 4-mal so hoch, also in einem Bereich von 1,48 bis max. 6,4 g. Aus unfallrekonstruktiver und verletzungsmechanischer Sicht sei deshalb qualitativ und quantitativ nicht plausibel und nachvollziehbar, dass der Kläger bei der gegenständlichen Kollision Verletzungen an der HWS erlitten haben soll.
Hinsichtlich der Krankengeschichte des Klägers konnte der Sachverständige ausführen, dass es im Jahr 2012 und 2014 jeweils zu Unfällen gekommen ist, jedoch die durchgeführten bildgebenden Verfahren bzw. eine MRT keine unfallkausalen Läsionen oder knöcherne Traumafolgen ergeben hätten.
Auch bei medizinischer Begutachtung der vorgelegten ärztlichen Atteste (Anlage K1 bis K9) seien keine objektiven Befunde und Läsionen erhoben und dokumentiert worden, die auf eine Unfallkausalität der Verletzungen hinweisen könnten. Zudem sei der Tinnitus aufgrund des zeitlichen Auseinanderfallens des Unfallgeschehens und dem erstmaligen Auftreten der Beschwerden von rund drei Monaten nicht auf das Unfallgeschehen rückführbar.
Insgesamt seien damit die klägerseits vorgetragenen Verletzungen weder aus unfallrekonstruktiver, verletzungsmechanischer oder ärztlicher Sicht auf den streitgegenständlichen Unfall zurückzuführen.
bb) Das Gericht erkennt auch nach kritischer Sachprüfung keine Widersprüche in den Feststellungen des Sachverständigen.
Soweit der Kläger mit Schriftsätzen vom 26.03.2021, vom 22.04.2021 sowie vom 25.10.2021 Ergänzungsfragen gestellt bzw. vermeintliche Widersprüchlichkeiten im Gutachten des Sachverständigen angebracht hat, hat der Sachverständige diese in seinen beiden Ergänzungsgutachten vom 14.09.2021 (Bl. 110-119 der Akte) sowie vom 27.01.2022 (Bl. 140-151 der Akte) zur Überzeugung des Gerichts ausgeräumt.
Insofern hat sich der Sachverständige tiefgehend unter Zitierung der jeweiligen klägerischen Ausführungen mit den vermeintlichen Widersprüchlichkeiten auseinandergesetzt und diese aus technischer, medizinischer und tatsächlicher Sicht adressiert – die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen werden insofern in Bezug genommen (siehe hierzu auch sogleich unter lit. cc)).
cc) Es war auch kein neues Gutachten gem. § 412 Abs. 1 ZPO einzuholen, da das vom Sachverständigen erstatte Gutachten (samt Ergänzungsgutachten) nicht als ungenügend zu beurteilen ist.
(i) Nach § 412 Abs. 1 ZPO kann das Gericht eine neue Begutachtung durch denselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn es das Gutachten für ungenügend erachtet. Ausweislich der Formulierung „kann“ besteht ein gerichtliches Ermessen, das das Gericht in Übereinstimmung mit dem Normzweck pflichtgemäß auszuüben hat. Das gerichtliche Ermessen verdichtet sich unabhängig von der gerichtlichen Überzeugungsbildung nur dann zu einer echten Rechtspflicht, wenn das Gutachten grobe Mängel aufweist. Das ist z.B. dann der Fall, wenn dem Gutachter die notwendige Sachkunde fehlt, dieser von unzutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgeht oder wissenschaftlich umstrittene Kriterien heranzieht (statt vieler BeckOK-ZPO/Scheuch, 44. Ed. 01.03.2022, § 412 Rn. 4).
(ii) Demgemäß ist das erstattete Gutachten nicht als ungenügend zu beurteilen.
(a) Soweit der Kläger geltend macht, der Sachverständige habe andere als die in der Literatur gängigen Kriterien herangezogen, verfängt dieser Einwand nicht. Dies sowohl hinsichtlich der technischen Einordnung des Anstoßes auf die Anhängerkupplung als auch bezüglich der medizinischen Beurteilung des sog. „dancing dens“, also des tanzenden Zahns am zweiten Halswirbelkörper.
(aa) Hinsichtlich der technischen Beurteilung des Anstoßgeschehens hat der Sachverständige im Rahmen seines ersten Ergänzungsgutachtens vom 14.09.2021 (Bl. 111 der Akte) darauf hingewiesen, dass bei Auftreffen der Anhängerzugvorrichtung auf den Längsträger des stoßenden Fahrzeugs mit einer kürzeren Stoßzeit und damit mit einem steileren/schnelleren Anstieg der Beschleunigung auf ein evtl. höheres Beschleunigungsmaximum zu rechnen ist. Zuvor hat der Sachverständige dazu Stellung genommen, dass eine Verlängerung der Stoßzeit zu einer Abnahme der Stoßhärte führe. Weiterhin führt der Sachverständige aus, dass auch eine höhere Steifigkeit des Hecks durch Einbau einer Anhängervorrichtung dann zum Tragen komme, wenn der Heckverbund tatsächlich beaufschlagt und beschädigt werde. Diese abstrakten Zusammenhänge stellt der Sachverständige indes nicht in Frage, sondern kommt im Einzelfall aufgrund der weiteren unfallanalytischen Begutachtung zu dem Ergebnis, dass diese Grundsätze deshalb nicht zum Tragen kommen, da die Anhängerzugvorrichtung nicht auf den Längsträger des stoßenden Fahrzeugs aufgetroffen und auch der Heckverbund tatsächlich nicht beaufschlagt und beschädigt worden sei. Selbiges führt der Sachverständige sodann erneut im zweiten Ergänzungsgutachten vom 27.01.2022 (Bl. 144 der Akte) an.
Insofern steht das Gutachten nicht im Widerspruch zur gefestigten wissenschaftlichen Erkenntnis, vielmehr wendet der Sachverständige diese Grundsätze auf den Streitfall an. Hierfür spricht im Übrigen auch die von Beklagtenseite vorgelegte Abhandlung.
Es ist nach dem unsubstantiierten Klägervortrag demgemäß nicht ersichtlich, inwiefern der Sachverständige im Widerspruch zu gesicherten Erkenntnissen gehandelt haben soll bzw. worin diese gesicherten Erkenntnisse bestehen sollen – insofern wird lediglich pauschal und ohne Auseinandersetzung mit den differenzierenden Feststellungen des Sachverständigen oder Darlegung des konkreten Forschungsstandes und Nachweis desselben durch Vorlage entsprechender aussagekräftiger Fundstellen behauptet, der Sachverständige habe sich in Widerspruch zu wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen gesetzt. Dies reicht indes nicht aus, um die Voraussetzungen des § 412 Abs. 1 ZPO begründen zu können. Ausgehend hiervon war der Sachverständige auch nicht verpflichtet, entsprechende Literaturnachweise vorzulegen.
(bb) Hinsichtlich der Frage des tanzenden Zahns am zweiten Halswirbelkörper (sog. „dancing dens“) hat der Sachverständige sowohl im Rahmen seines mündlichen Gutachtens als in den schriftlichen Ergänzungsgutachten darauf hingewiesen, dass eine solche Diagnose nur bei dem Herrn H. von Rolbeck zu finden, diese auf keine Dokumentation zu stützen und die Diagnose zudem erst vier Jahre nach dem Unfall, also im Juli 2019, gestellt worden sei. Die der Diagnose zugrundeliegenden Befunde seien vor dem Unfall aufgenommen worden, am Unfalltag sei der Dens axis annährend gerade und mittelständig gewesen. Auch diesbezüglich ist nach den klägerischen Angriffen nicht ersichtlich, inwiefern der Sachverständige entgegen gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse gehandelt haben soll.
(b) Weiterhin hat der Sachverständige seiner biomechanischen und ärztlichen Begutachtung auch keine in der Wissenschaft umstrittenen Kriterien zugrunde gelegt. Substantiierte Angriffe hierauf sind nicht ersichtlich.
Insofern hat der Sachverständige im Rahmen seines Ergänzungsgutachtens vom 14.09.2021 (Rückseite Bl. 115 der Akte) ausgeführt, von keiner (tatsächlichen) Harmlosigkeitsgrenze auszugehen, sondern stets die im Fall wirkende Beschleunigung zu begutachten. Die aufgeführten Beispiele würden lediglich der Veranschaulichung der wirkenden Kraft dienen.
Hinsichtlich der Begutachtung der Frage des tanzenden Zahns am zweiten Halswirbelkörper hat der Sachverständige ebenfalls keine umstrittenen Kriterien herangezogen – auf die obigen Ausführungen ist sinngemäß zu verweisen.
(c) Aus dem Gesagten folgt zugleich, dass der Sachverständige auch über die notwendige Fachkenntnis zur Beurteilung der Beweisfragen verfügt. Substantiierte Angriffe auf die Fachkenntnis des Sachverständigen sind insofern nicht ersichtlich.
Soweit klägerseits die Beurteilung der Anstoßsituation in Frage gestellt wird, hat Sachverständige überzeugend ausgeführt, selbst über die notwendige technische Expertise aufgrund der Durchführung entsprechender Testreihen zu verfügen.
Im Übrigen hat es auch nicht der Einholung eines weiteren bzw. gesonderten medizinischen Gutachtens bedurft, da der Sachverständige als Arzt zugleich über die notwendige medizinische Expertise verfügt (vgl. zum Erfordernis der Einholung eines medizinischen Gutachtens BGH, Urt. vom 03.06.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502).
(d) Abschließend hat der Sachverständige der Beurteilung des vorliegenden Falls auch keine unzutreffenden Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt.
Entgegen den Einwänden des Klägers hat der Sachverständige nicht moniert, dass die mit Schreiben vom 15.11.2020 (Bl. 50-54 der Akte) angeforderten Unterlagen nicht vorgelegt worden wären. Vielmehr hat der Sachverständige im Rahmen seines zweiten Ergänzungsgutachtens vom 27.01.2022 (Bl. 146 der Akte) nachvollziehbar dargelegt, dass die angeforderten Unterlagen nicht in der im Schreiben vom 15.11.2020 näher spezifizierten Form vorgelegt wurden, die vom Kläger beigebrachten Unterlagen der Begutachtung dennoch vollständig zugrunde gelegt worden sind.
c) Hinsichtlich der vom Kläger vorgelegten Atteste (Anlage K1 bis K9) ist auszuführen, dass sich aus diesen keine objektivierbaren Verletzungsfolgen oder unfallspezifischen Befunde ergeben.
Zunächst festzuhalten ist hierbei, dass es sich bei den vorgelegten Attesten um Privaturkunden i.S.v. § 416 ZPO handelt. Wie sich im Umkehrschluss zu §§ 415, 416 ZPO ergibt, unterliegt die Würdigung des Inhalts der Atteste folglich der freien Beweiswürdigung, lediglich hinsichtlich der Frage der Ausstellereigenschaft ist das Gericht an die Beweisregel des § 416 ZPO gebunden. Diese Frage steht zwischen den Parteien indes nicht in Streit.
Inhaltlich folgen aus den ärztlichen Attesten keine objektivierbaren Verletzungsfolgen oder unfallspezifischen Befunde. Vielmehr fallen die auf den Schilderungen des Klägers beruhenden Befunde im Wesentlichen unspezifisch aus, da sie sowohl bei unfallunabhängigen als auch bei unfallabhängigen Beschwerdebildern insbesondere der Halswirbelsäule vorliegen können.
So werden bspw. im Durchgangsarztbericht vom 29.06.2015 (Anlage K2) unter Punkt 5 im Wesentlichen lediglich allgemeine Schmerzen im Nacken mit Ausstrahlung in den Kopfbereich sowie eine Schonhaltung des Klägers beschrieben. Unter Punkt 6 wird ausgeführt, dass das Röntgenergebnis keinen Anhaltspunkt für frische knöcherne Verletzungen biete.
Dem ärztlichen Zeugnis vom 10.09.2015 (Anlage K1) ist lediglich allgemein die gestellte Diagnose eines Schleudertraumas der Halswirbelsäule sowie einer Distorsion der Brustwirbelsäule zu entnehmen. Den zugrundeliegenden Befunden vom 02.07.2015 – 22.07.2015 sind gleichsam lediglich allgemeine Ausführungen zu Druckschmerzen bzw. allgemeinen Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und Kopfschmerzen zu entnehmen.
Gleiches gilt für die Nachschauberichte vom 10.07.2015 (Anlage K3), vom 18.01.2016 (Anlage K4), vom 02.03.2016 (Anlage K6), vom 19.05.2016 (Anlage K7), vom 27.06.2016 (Anlage K8) sowie vom 12.09.2016 (Anlage K9).
Der Arztbrief vom 14.06.2016 (Anlage K5) betrifft die Frage des Tinnitus. Objektive Befunde für die Frage der Unfallkausalität sind diesem gleichsam nicht zu entnehmen. Objektive Befunde zum Zeitpunkt der vom Kläger vorgetragenen Entstehung des Tinnitus im Oktober 2015 liegen nicht vor.
d) Nach nochmaliger Abwägung und Würdigung der erhobenen Beweise sowie den übrigen Einzelfallumständen konnte der Kläger die behauptete Unfallkausalität der Verletzungen nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen.
Im Ausgangspunkt stehen sich hierbei die grundsätzlich glaubhafte Aussage des ansonsten auch glaubwürdigen Klägers sowie die objektive Befundlage bzw. die objektiven Feststellungen des Sachverständigen zur biomechanischen und medizinischen Seite des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gegenüber.
Für die Unfallkausalität spricht hierbei zwar, dass ein gewisser zeitlicher Zusammenhang zwischen den vorgetragenen Verletzungsfolgen bzw. Schmerzen und dem Unfallgeschehen besteht. Gleiches gilt für den Umstand, dass der Sachverständige – trotz der Unfallgeschehen im Jahr 2012 und 2014 – keine objektiven Anhaltspunkte bzw. Befunde für einschlägige Vorerkrankungen des Klägers vortragen konnte.
Für das Gericht überwiegt jedoch der Umstand, dass die vorgetragenen Verletzungsfolgen bereits aus unfallanalytischer bzw. biomechanischer Sicht nicht plausibilisiert werden können und auch aus medizinischer Sicht nicht durch objektive Befunde gedeckt sind. Die Befunde fallen zudem auch insgesamt zu unspezifisch und allgemein aus, um in Anbetracht der objektiven Feststellungen des Sachverständigen zu verfangen. Zudem ist zu sehen, dass vorliegend auch nicht vorgetragen bzw. anderweitig im Rahmen der Beweisaufnahme festgestellt worden ist, dass der Kläger im Unfallzeitpunkt keine normale Sitzposition eingehalten hätte (BGH, Urt. vom 28.01.2003 – VI ZR 139/02, NJW 2003, 1116; Mazzotti/Castro, NZV 2002, 499, 500). Vielmehr spricht hiergegen gerade der eigene Vortrag des Klägers, dass er sich infolge des Unfallgeschehens zunächst nach hinten und sodann erst nach vorne bewegt habe, was nach den Ausführungen des Sachverständigen auch zu erwarten gewesen wäre.
In Anbetracht dieser Umstände, insbesondere der vom Sachverständigen festgestellten biomechanischen Belastung, erreichen die Ausführungen des Klägers im Rahmen seiner informatorischen Anhörung – ungeachtet der obenstehenden Ausführungen zur Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit – auch keine derartige Qualität bzw. Detaildichte, dass den Ausführungen des Klägers zwangsläufig der Vorzug zu gewähren wäre.
Unter Berücksichtigung all dessen kann sich das Gericht nicht die für § 286 ZPO notwendige Überzeugung von der Unfallkausalität der vorgetragenen Verletzungen bilden.
e) Die Einvernahme der klägerseits angebotenen sachverständigen Zeugen war in Anbetracht der schriftlichen Niederlegung der Befunde, deren Begutachtung durch den Sachverständigen und Einbeziehung im Rahmen der Beweiswürdigung obsolet (BGH, Urt. vom 03.06.2008 – VI ZR 235/07, NZV 2008, 502 Rn. 11).
3) Weiterhin konnte der Kläger auch die Sekundärverletzung in Form des Tinnitus nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen.
a) Zunächst festzuhalten ist hierbei, dass einer Anwendung von § 287 ZPO bereits entgegensteht, dass der Kläger die behaupteten Primärverletzungsfolgen nach den obigen Ausführungen, welche in Bezug genommen werden, nicht zur Überzeugung des Gerichts gem. § 286 ZPO nachweisen konnte.
b) Darüber hinaus und hiervon unabhängig ist zudem zu sehen, dass selbst bei Anwendung von § 287 ZPO in Übereinstimmung mit den obigen Ausführungen mangels greifbarer Anhaltspunkte im Einzelfall bzw. mangels überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht von der Unfallkausalität des Tinnitus auszugehen ist. Über die obigen Ausführungen hinaus spricht gegen die Unfallkausalität, dass kein enger zeitlicher Zusammenhang zum Unfallgeschehen besteht und auch keine objektiven Befunde im Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der Beschwerden vorliegen.
II.
Weiterhin besteht auch kein Anspruch gem. § 18 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. §§ 1 ff. PflVG.
Die Anwendung der Haftungsnorm des § 18 Abs. 1 S. 1 StVG erfordert gleichsam eine unfallkausale Rechtsgutsverletzung gem. § 7 Abs. 1 StVG. Die obigen Ausführungen werden sinngemäß in Bezug genommen. Der Kläger konnte die Unfallkausalität der behaupteten Verletzungsfolgen nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen.
III.
Es bestehen auch keine Ansprüche gem. § 823 Abs. 1 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 229 StGB.
Auch die Anwendung dieser Anspruchsgrundlagen setzt jeweils eine unfallkausale Rechtsgutsverletzung voraus. Die obigen Ausführungen werden insofern sinngemäß in Bezug genommen. Der Kläger konnte die Unfallkausalität der behaupteten Verletzungsfolgen nicht zur Überzeugung des Gerichts nachweisen.
IV.
Weitere Anspruchsgrundlagen sind nicht ersichtlich. Jedenfalls wäre der Kläger auch im Rahmen dieser bezüglich der Frage der haftungsbegründenden Kausalität beweisfällig geblieben.
Mangels Anspruchs in der Hauptsache besteht auch kein Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten sowie der geltend gemachten Zinsen.
C.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.
Der Streitwert war in Anwendung von §§ 3 ff. ZPO i.V.m. § 48 GKG i.V.m. § 63 Abs. 2 GKG mit 8.000,00 Euro festzusetzen. Die eingeklagten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten und Zinsen wirken nicht streitwerterhöhend, § 4 Abs. 1 Hs. 2 ZPO.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben