Sozialrecht

Voraussetzungen einer Befreiung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1; § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI

Aktenzeichen  L 6 R 749/17

Datum:
11.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 49702
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 3
SGB VI § 6 Abs. 1 Nr. 1
SGB VI § 6 Abs. 5 Satz 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

S 10 R 4112/15 2017-09-21 SGREGENSBURG SG Regensburg

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21. September 2017 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 20.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2015 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 21.09.2017 ist zu beanstanden. Der Bescheid der Beklagten vom 20.08.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2015 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht hinsichtlich ihrer befristeten Beschäftigung als Sachbearbeiterin bei der Stadt W. in der Zeit vom 01.02.2013 bis 31.01.2014. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI i.V.m. § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI liegen nicht vor.
Die Klägerin war zwar ab 01.07.2005 als Rechtsanwältin tätig und Pflichtmitglied in der Berufskammer und in der Bayerischen Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung. Ihr wurde aufgrund ihres Antrages vom 13.09.2005 mit Bescheiden vom 05.12.2005 und 13.12.2005 eine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI bei Arbeitslosigkeit erteilt. Als Bezieherin eines Existenzgründerzuschusses wurde sie von der Versicherungspflicht gem. § 2 Satz 1 Nr. 10 SGB VI gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI befreit. In der Folgezeit übte die Klägerin verschiedene befristete Beschäftigungen aus, hinsichtlich derer sie von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI befreit worden ist. Auch bezüglich ihrer Beschäftigung als Sachbearbeiterin bei der Stadt W. erfolgte zunächst mit Bescheid vom 09.02.2012 eine Befreiung von der Versicherungspflicht. Hinsichtlich der Verlängerung der Beschäftigung dort vom 01.02.2013 bis 31.01.2014, die zunächst befristet war und seit 01.02.2014 unbefristet erfolgt, hat die Beklagte zu Recht die Befreiung abgelehnt. Die Klägerin ist daher für die versicherungspflichtige Tätigkeit bei der Stadt W. nicht von der Rentenversicherungspflicht zu befreien.
Unstreitig handelt es sich bei der Tätigkeit bei der Stadt W. nicht um einen Bestandteil der selbständigen Tätigkeit als Rechtsanwalt. Auch die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI für eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Sachbearbeiterin bei der Stadt W. liegen nicht vor. Hiernach werden von der Versicherungspflicht unter bestimmten Voraussetzungen befreit: Beschäftigte und selbständig Tätige für die Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit, wegen derer sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständigen Kammer sind. Die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit als Sachbearbeiterin bei der Stadt W. kann nur dann den Tatbestand des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI erfüllen, wenn diese als berufsspezifisch zu einer Anwaltstätigkeit bezeichnet werden kann (BSG, Urteil vom 31.10.2012, B 12 R 8/10 R). Die Tätigkeit als Sachbearbeiterin bei der Stadt W. wird jedoch unstreitig als berufsfremd zur Tätigkeit eines Rechtsanwalts angesehen. Diese Tätigkeit würde für sich allein auch keine Pflichtmitgliedschaft in der Rechtsanwaltskammer nach sich ziehen.
Auch eine Befreiung nach § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI kann für die streitgegenständliche Tätigkeit nicht erfolgen. Danach erstreckt sich die Befreiung in den Fällen des Abs. 1 Nr. 1 und 2 auch auf eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit, wenn diese in Folge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist und der Versorgungsträger für die Zeit der Tätigkeit den Erwerb einkommensbezogener Versorgungsanwartschaften gewährleistet.
Bereits aus dem Wortlaut ergibt sich, dass diese Regelung vorliegend nicht anwendbar ist, weil für den Zeitraum der streitigen Tätigkeit eine Befreiung nach § 6 Abs. 1 SGB VI nicht erteilt worden ist. Die Klägerin übt ihre Tätigkeit als Rechtsanwältin selbständig aus. Eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Rechtsanwältin hat zu keiner Zeit vorgelegen. Die ursprünglich nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erteilten Befreiungen erfolgten insoweit nicht aufgrund einer abhängigen Beschäftigung als Rechtsanwältin, sondern im Hinblick auf die vorübergehend Versicherungspflicht begründenden Sondertatbestände des § 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VI und des § 2 Satz 1 Nr. 10 SGB VI in der bis 31.03.2012 geltenden Fassung.
Die Erstreckungsvorschrift des § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI ist auch nicht analog auf die vorliegende Konstellation anzuwenden. Sie stellt keinen eigenständigen Befreiungstatbestand dar, sondern ist auf die Fälle beschränkt, in denen zum Zeitpunkt der Aufnahme der anderen Beschäftigung eine Befreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 SGB VI fortwirkt. Nach dem Wortsinn kann nach den Ausführungen des BSG (BSG, Urteil vom 31.10.2012, B 12 R 8/10 R, juris Rn. 26) nur ein fortbestehender Befreiungsstatus auf eine andere Tätigkeit erstreckt werden. Die systematische Stellung der Vorschrift im Anschluss an die gesetzliche Definition des auf die jeweilige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit beschränkten Bezugspunkts der Befreiung von der Versicherungspflicht in § 6 Abs. 5 Satz 1 SGB VI verdeutlicht im Zusammenhang mit der in ihr genannten Tatbestandsvoraussetzung einer zeitlich begrenzten anderen Tätigkeit, dass die Vorschrift lediglich eine Regelung enthält, die sich auf eine andere vorübergehende selbständige Tätigkeit bzw. Beschäftigung bezieht und daher keinen von den grundliegenden Voraussetzungen in § 6 Abs. 1 Satz 1 SGB VI losgelösten eigenständigen Befreiungstatbestand darstellt. Nach den Gesetzesmaterialien (vgl. BSG a.a.O., juris Rn. 28) sollte dadurch sichergestellt werden, dass eine vorübergehende berufsfremde Tätigkeit – insbesondere die Zeit des Wehrdienstes – nicht zu einem Wechsel des Alterssicherungssystems führt. Diese Begründung knüpft ebenfalls allein an den vorübergehenden Tätigkeitswechsel an. Eine Befreiung nach § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI i.V.m. § 6 Abs. 1 Satz 1 SGB VI ist daher nicht möglich.
Entgegen der Auffassung der Klägerin sind keine Grundrechte der Klägerin verletzt, insbesondere nicht der Gleichheitssatz des Art. 3 GG. Es liegen unterschiedliche Lebenssachverhalte hinsichtlich eines angestellten und eines selbstständigen Rechtsanwaltes vor. Im Hinblick auf die sozialversicherungsrechtliche Stellung der Gruppen der grundsätzlich versicherungspflichtigen beschäftigten Rechtsanwälte und der selbständigen Rechtsanwälte fehlt die erforderliche Vergleichbarkeit. Das gesamte Sozialversicherungsrecht ist davon geprägt, dass beide Gruppen unterschiedlichen Regelungen unterliegen und voneinander abzugrenzen sind. Es liegt im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, an den Lebenssachverhalt einer selbständig ausgeübten Tätigkeit andere Rechtsfolgen zu knüpfen als an den Lebenssachverhalt eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses (vgl. Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27.02.2018, L 13 R 4156/16; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22.07.2015, L 20 R 630/13).
Auch das BSG hat darauf hingewiesen, dass von Verfassungs wegen kein Wahlrecht besteht, das es ermöglichen würde, im Laufe eines Berufslebens die jeweils günstigste Versorgungsmöglichkeit zu wählen oder an ihr festzuhalten und die Anwendung aller anderen Versicherungspflichttatbestände auszuschließen (BSG, Urteil vom 31.10.2012, B 12 R 8/10 R, juris Rn. 30 m.w.N.).
Die Klägerin kann sich auch nicht auf ein Vertrauen auf den uneingeschränkten Fortbestand einer bereits erteilten Befreiung von der Versicherungspflicht berufen. Die bisher erfolgten Befreiungen sind jeweils für einen befristeten Zeitraum ausgesprochen worden. Ein Anspruch auf eine rechtswidrig erteilte Befreiung aufgrund vorangegangenen rechtswidrigen Verhaltens der Beklagten besteht nicht (vgl. BSG, Urteil vom 03.04.2014, B 5 RE 13/14 R, Rn. 58 m.w.N.).
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigung der Klägerin als Sachbearbeiterin bei der Stadt W. weiterhin gegeben ist. Eine Befreiung nach § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI erstreckt sich indessen nur dann auf eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gem. § 160 Abs. 1, Abs. 2 SGG zuzulassen, liege nicht vor. Die Auslegung des § 6 Abs. 5 Satz 2 SGB VI ist durch die bestehende Rechtsprechung des BSG ausreichend geklärt.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben