Aktenzeichen L 19 R 812/15
Leitsatz
1. Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.
2. Der Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des SGB VII hat eine andere Bedeutung als der der Erwerbsminderung im Sinne des § 43 SGB VI. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 12 R 882/14 2015-10-14 GeB SGNUERNBERG SG Nürnberg
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.10.2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist zulässig, jedoch unbegründet. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Rente wegen voller noch wegen teilweiser Erwerbsminderung, denn sie kann noch wenigstens sechs Stunden täglich mit qualitativen Einschränkungen Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erbringen. Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit besteht ebenfalls nicht, die Klägerin ist auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.
Gemäß § 43 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die Klägerin noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten im Wechselrhythmus wenigstens sechs Stunden täglich zu verrichten. Die Tätigkeiten sollten ohne häufige Überkopfarbeit und ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten, ohne Hilfsmittel sowie ohne häufiges Bücken und ohne häufige Zwangshaltungen durchgeführt werden. Arbeiten mit Hocken und Knien sowie mit der Notwendigkeit des Ersteigens von Treppen, Leitern und Gerüsten können nicht mehr abverlangt werden. Tätigkeiten mit subtiler Feinmotorik an den Händen kann die Klägerin nicht mehr verrichten. Zu vermeiden sind ebenfalls Tätigkeiten an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen, Arbeiten an laufenden Maschinen, unter ungünstigen äußeren Bedingungen sowie Tätigkeiten im Freien mit Einfluss von Kälte, Hitze, Zugluft und starken Temperaturschwankungen. Tätigkeiten über die Horizentale können nicht verrichtet werden.
Zur Beurteilung dieses beruflichen Leistungsvermögens stützt sich der Senat in vollem Umfang auf das Gutachten von Prof. Dr. C. sowie auf die im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten von Dr. R. und Dr. M..
Die Einschränkungen der Klägerin liegen im Wesentlichen auf orthopädischem Gebiet. Prof. Dr. C. hat insoweit folgende Diagnosen gestellt:
a. Endlagige Bewegungsbehinderung der Halswirbelsäule mit Nervenwurzelreiz an beiden Händen (C-6-Symptomatik beidseits)
b. degenerative Veränderung der Lendenwirbelsäule mit Fehlstatik, Wirbelgleiten, Bandscheibenschaden. Leichte Funktionseinbuße der Rumpfwirbelsäule bei klinischer Prüfung
c. Konzentrische Bewegungsbehinderung beider Arme in den Schultergelenken, rechts mehr als links
d. Streckdefizit des rechten Unterarmes im Ellenbogengelenk.
e. Rhizarthrose beidseits. Endlagige Beugebehinderung der Langfinger beider Hände. Operiertes Carpaltunnelsyndrom beidseits.
f. Trochantertendinose beidseits.
g. Streck- und Beugebehinderung des rechten Unterschenkels im Kniegelenk bei röntgenologisch nachgewiesener, vornehmlich medialer Gonarthrose beidseits, rechts mehr als links Die oben genannten Gesundheitsstörungen bedingen jedoch lediglich die schon genannten Einschränkungen qualitativer Art. Im Wesentlichen gleiche Diagnosen haben Dr. R. und Dr. M. im sozialgerichtlichen Verfahren gestellt. Auch sie sind zu einer wenigstens 6-stündigen Leistungsfähigkeit mit qualitativen Einschränkungen gelangt. Der Senat schließt sich insoweit in vollem Umfang der Beweiswürdigung durch das Sozialgericht Nürnberg an und verweist gemäß § 153 Abs. 2 SGG insoweit auf die Entscheidungsgründe im Gerichtsbescheid des SG Nürnberg.
Der sozialmedizinischen Beurteilung, die Prof. Dr. C. getroffen hat, steht auch nicht das Gutachten von Prof. Dr. D. entgegen, das im Rahmen eines berufsgenossenschaftlichen Verfahrens erstellt worden ist. Soweit Dr. D. eine MdE auf 20 ab 10/2008 einschätzt, ist festzustellen, dass der Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des SGB VII eine andere Bedeutung hat, als der der Erwerbsminderung im Sinne des § 43 SGB VI. Sofern die Klägerin darauf hinweist, dass das Gutachten von Prof. Dr. C. nicht verwertbar sei, da Prof. Dr. D. andere Beobachtungen gemacht habe, ist folgendes festzustellen:
Die Klägerin gibt an, die Diagnosen würden voneinander abweichen. Prof. Dr. D. geht von einem Carpaltunnelsyndrom beidseits aus, Prof. Dr. C. von einer C-6-Symptomatik aus der Halswirbelsäule. Insoweit ist der Klägerin entgegenzuhalten, dass es für die Frage der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nicht darauf ankommt, welche Diagnosen gestellt werden, sondern welche Funktionsstörungen damit einhergehen.
Hinsichtlich der bei der Klägerin im Vordergrund stehenden Störungen der Hände besteht keine wesentliche Abweichung. Prof. Dr. D. berichtet von einem Taubheitsgefühl im 1. bis 3. Finger beidseits und eine Beeinträchtigung der Feinmotorik sowie eine deutliche Krafteinbuße bei der Daumenabduktion und etwas geringer ausgeprägt, bei der Daumenopposition beidseits. Prof. Dr. C. beschreibt insoweit eine Gefühlsstörung an den Finger 1 bis 3 beider Hände, eine grobe Handkraft mit rechts zu 3/5, links zu 4/5. Einbeugung der Langfinger aktiv bis Fingerkuppenhandabstand von 5 bis 10 mm beidseits, Daumenkuppenlangfingerspitzgriff aktiv durchgeführt rechts bis zum 4. Finger, links bis zum 3. Finger.
Auch soweit die Klägerin geltend macht, es seien teilweise verschiedene klinische Untersuchungsbefunde, z. B. die Beweglichkeit der Halswirbelsäule gefunden worden, entspricht dies dem Untersuchungsalltag, wie er sich dem Senat immer wieder darstellt. Geringgradige Ausmaße der Beweglichkeiten werden an unterschiedlichen Untersuchungstagen festgestellt. Sofern nicht deutlich abweichende Unterschiede bestehen, sind diese für die sozialmedizinische Beurteilung – wie hier – nicht relevant.
Da nach den gutachterlichen Feststellungen eine quantitative Einschränkung des Einsatzvermögens der Klägerin bei Beachtung der Arbeitsbedingen nicht besteht, liegt auch keine teilweise Erwerbsminderung vor; damit scheidet auch eine mit der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes begründete Gewährung einer vollen Erwerbsminderungsrente von vornherein aus.
Zwar kann in bestimmten Ausnahmefällen eine Rentengewährung wegen voller Erwerbsminderung auch dann erfolgen, wenn bei der Klägerin keine quantitative Einschränkung besteht; dazu müssten jedoch die Voraussetzungen für einen von der Rechtsprechung des BSG entwickelten sogenannten Katalogfall erfüllt sein, was aus Sicht des Senates nicht der Fall ist. Für die Prüfung ist nach dem BSG vom 09.05.2012, B 5 R 68/11 R – zitiert nach juris – mehrschrittig vorzugehen. Zunächst ist festzustellen, ob mit dem Restleistungsvermögen Verrichtungen erfolgen können, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden, wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Maschinenbedienung, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen. Wenn sich solche abstrakten Handlungsfelder nicht oder nur unzureichend beschreiben lassen und ernste Zweifel an der tatsächlichen Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen kommen, stellt sich im 2. Schritt die Frage nach der besonderen spezifischen Leistungsbehinderung oder der Summierung ungewöhnlicher Einschränkungen und falls eine solche Kategorie als vorliegend angesehen wird, wäre im 3. Schritt von der Beklagten eine Verweisungstätigkeit konkret zu benennen und die Einsatzfähigkeit dann hinsichtlich dieser Tätigkeit abzuklären.
Auch wenn bei der Klägerin nicht die volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände gegeben ist, sondern die Feinmotorik eingeschränkt ist, hat der Senat keine Zweifel an der Einsatzfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, da ungelernte Tätigkeiten wie Reinigen, Sortieren, Zureichen, Abnehmen nicht in jedem Fall feinmotorische Fähigkeiten erfordern.
Aber selbst wenn man zur Annahme der ernstlichen Zweifel gelangen würde, so stellen jedenfalls die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen sich nicht als schwere spezifische Behinderung wie etwa eine – gegebenenfalls funktionale – Einarmigkeit und auch nicht als Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen dar. Die bei der Klägerin festgestellten Einschränkungen stellen keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Neben der Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit beider Hände ist keine weitere ungewöhnliche Leistungseinschränkung gegeben.
Selbst bei Annahme der Summierung von ungewöhnlichen Einschränkungen wäre der Klägerin eine Tätigkeit als Pförtnerin zu benennen. Die Tätigkeit eines Pförtners besteht in der Erteilung von Auskünften, gegebenenfalls Weiterverbindung von Telefonaten, Ausgabe von Parkmarken und ähnlichem. Die Tätigkeit kann im Wechselrhythmus verrichtet werden, besondere Anforderungen an den Bewegungsapparat werden nicht gestellt. Dies stimmt mit dem Leistungsbild der Klägerin überein.
Ein Anspruch auf teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI scheidet aus, da die Klägerin aufgrund ihres beruflichen Werdeganges keinen Berufsschutz genießt und auf das gesamte Tätigkeitsfeld des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.