Sozialrecht

Weitergewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung

Aktenzeichen  S 1 R 106/15

Datum:
4.8.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 030010
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2
SGG § 109

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 12. August 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Februar 2015 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die streitgegenständlichen Verwaltungsakte waren nicht rechtswidrig. Der Kläger hat demzufolge keinen Anspruch auf Weitergewährung der bis zum 31.12.2014 gewährten Rente wegen (voller) Erwerbsminderung.
Prüfungsmaßstab ist § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Danach sind Versicherte teilweise erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 5GB VI). Nach der in Rechtsfortbildung der Versicherungsfälle der verminderten Erwerbsfähigkeit durch das Bundessozialgericht (BSG) entwickelten und vom Gesetzgeber auch durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (EMRefG) gebilligten (vgl. § 43 Abs. 3 SGB VI) Arbeitsmarktrente ist der Versicherte darüber hinaus auch voll erwerbsgemindert, wenn das Leistungsvermögen auf unter sechs Stunden abgesunken ist und der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen ist, weil der Versicherte keinen zumutbaren Arbeitsplatz innehält (Beschluss des Großen Senates des BSG vom 19.12.1996, SozR 3-2600 § 44 Nr. 8).
Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit zwar dahingehend eingeschränkt ist, dass er Schwerarbeit, (ständige) mittelschwere Arbeit, Zeitdruckarbeit, Einzel-/Gruppenakkord, Fließband-/taktgebundene Arbeiten, Nachtarbeiten, Arbeiten überwiegend in Zwangshaltung bzw. über Schulterhöhe, mit häufigem Heben/Tragen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel oder häufigem Bücken, Tätigkeiten mit überdurchschnittlichen Anforderungen an die Kraft und Feinmotorik der rechten Hand sowie mit besonderen Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit, das Konzentrations-/Reaktionsvermögen oder die Umstellungs-/Anpassungsfähigkeit nicht mehr verrichten kann. Unter Berücksichtigung und ungeachtet dieser (qualitativen) Einschränkungen ist er zumutbar in der Lage, körperlich leichte Arbeiten, bevorzugt im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen (Gehen), überwiegend im Sitzen noch vollschichtig, d.h. wenigstens 6 Stunden täglich, auszuüben.
Dieses Leistungsvermögen ergibt sich aus dem vom Gericht von Amts wegen eingeholten Gutachten des Dr. F., das im Wesentlichen im Einklang mit den im Verwaltungsverfahren erstellten (und von der Kammer im Wege des Urkundenbeweises verwerteten) Gutachten von Dr. L. und Dr. H. steht. Die von diesen (gerichtlichen) Sachverständigen über den Gesundheitszustand des Klägers abgegebenen Beurteilungen sind überzeugend, weil sie sich folgerichtig aus den nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft erfolgten Würdigung der anamnestischen Angaben des Klägers, den aktuellen klinischen Untersuchungsbefunden unter Berücksichtigung aller vorliegenden ärztlichen Befundberichte ergeben. Der Kläger leidet an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, anzunehmender Opiatabhängigkeit, Dysthymia im Sinne einer anhaltenden milden Depression und rezidivierenden depressiven Störung (Letztere) gegenwärtig remittiert, mäßig ausgeprägter Funktionseinschränkung der rechten Hand bei Restlähmung im Bereich vom Nervus ulnaris versorgter kleiner Handmuskulatur und Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet des Nerven (Klein-/Ringfinger, ulnarseitige Hand) nach Unfall mit Schnittverletzung 1982 sowie Belastbarkeits- und Funktionsminderung beider Schultergelenke unter Linksbetonung bei Zustand nach mehrfachen operativen Eingriffen und Lendenwirbelsäulensyndrom mit leichten Funktionsbehinderungen, ohne nachweisbaren Nervenwurzelbeteiligung bei kernspintomografisch vorbeschriebenem kleinen Bandscheibenvorfall LWK5/SWK1.
Die bei dem Unfall 1982 zugezogenen Schnittverletzungen bewirken zwar unverändert eine neurologisch nachzuweisende Kraftminderung sowie sensible Defizite namentlich am Kleinfinger. Sie bewirken aber keine rentenrechtlich relevanten funktionellen Einschränkungen bzw. Ausfallerscheinungen. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Kläger auch zeitlich nach der 1982 erlittenen Nervenschädigung über viele Jahre weiter in der Lage war, seinen Beruf tatsächlich auszuüben.
Auf orthopädischem Gebiet ist der Kläger insbesondere durch die Funktionsbehinderungen im Bereich beider Schultern beeinträchtigt. Objektivierbar sind in diesem Zusammenhang Beeinträchtigungen bei der Seitwärts- bzw. nach-vorne-Hebung der Arme in den Schultergelenken sowie darüber hinaus leichtgradige Bewegungseinschränkungen der Brust-/Lendenwirbelsäule. Rentenrechtlich gewürdigt sind diese Umstände durch vorstehend aufgelistete qualitative Leistungseinschränkungen, wie zum Beispiel einer Unzumutbarkeit von Arbeiten über Schulterhöhe und mit häufigem Heben und Tragen.
Bezüglich der psychiatrischen Beschwerden des Klägers hat die Beweisaufnahme ergeben, dass diese bei weitem nicht mehr in dem ursprünglich zur Rentengewährung führenden Ausmaß vorhanden sind, vielmehr nur noch ein relativ mildes depressives Syndrom mit mäßiger Herabgestimmtheit, nachvollziehbarer Grübelneigung, insbesondere im Zusammenhang mit Zukunftsängsten und Ängsten, wieder ins Berufsleben zurückkehren zu müssen, besteht. Konkret verfügt der Kläger gegenwärtig, d.h. im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, über eine ausreichende Kontaktfähigkeit, eine noch ausreichende affektive Schwingungsfähigkeit und lässt insbesondere eine signifikante Denkverlangsamung, eine Affektlabilität, eine erheblichere Antriebsminderung bzw. Zeichen der Erschöpfung oder wesentlichen Ermüdung oder inhaltlichen Denkstörung nicht erkennen. Wenn der Kläger hier einwendet, dass sein gebesserter psychischer Zustand insbesondere auch darauf zurückzuführen sei, dass er sich nicht mehr den Anforderungen des Erwerbslebens stellen müsse, denen zufolge eine (gravierende) Verschlechterung seines Gesundheitszustandes eintreten würde, wenn er wieder arbeiten müsste, kann ihm mit diesen rein spekulativen Vorstellungen nicht gefolgt werden.
Die vom Kläger als im Vordergrund stehend beschriebenen Schmerzen rechtfertigen ebenfalls nicht die Annahme einer zeitlichen Leistungseinschränkung. Sie sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme durch körperliche Störungen bzw. einen physiologischen Prozess nicht vollständig erklärbar, was bedeutet, dass psychische Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Insoweit ist aber festzustellen, dass zum einen eine relevante und leistungsmindernde psychische Beeinträchtigung nicht zu verifizieren ist und es zum anderen an der Wahrnehmung zumutbarer Therapieoptionen wie zum Beispiel hochfrequente Konsultation durch einen Nervenarzt, Anbindung an eine Schmerzambulanz bzw. spezielle psychotherapeutische Betreuung fehlt. Ungeachtet dessen war beim Kläger – belegt durch die während der Begutachtung beobachtete Spontanmotorik bzw. das Bewegungsmuster – eine überbordende Schmerzwahrnehmung signalisiert durch erhebliche Einschränkungen des Gangbildes, vermehrter Körperstellungswechsel bzw. Einnahme einer Schonhaltung von Extremitäten nicht zu objektivieren.
Soweit sich der Kläger mit seiner gegenteiligen Auffassung auf das nach § 109 SGG bei Dr. E. eingeholte Gutachten stützt, ist ihm nicht zu folgen. Auch dieser Sachverständige beschreibt den psychischen Befund des Klägers als wach, bewusstseinsklar, vollständig orientiert und in der Konzentration lediglich leicht gemindert. Auch er beobachtet keine wesentliche Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung des Klägers oder eine erhebliche Antriebsminderung und kommt schließlich zu der Feststellung, dass beim Kläger auf psychiatrisch psychotherapeutischem Fachgebiet aktuell keine wesentliche Gesundheitsstörung vorliegt. Hinsichtlich der Schmerzsymptomatik kommt er zwar zu der Feststellung, dass insoweit eine Verschlechterung eingetreten sei, erkennt aber auch, dass die Schmerzsymptomatik vom Kläger (zumutbar) durch Medikation deutlich gebessert wird.
Bei im Wesentlichen gleicher Diagnostik stützt Dr. E. schließlich seine Feststellung eines zeitlich geminderten Leistungsvermögens im Wesentlichen darauf, dass der Kläger durch die langjährige Herausnahme aus dem Arbeitsleben in seine Fähigkeit zur Anpassung an Regeln, Routinen, Planung und Strukturierung von Aufgaben, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, Selbstbehauptungsfähigkeit, Kontaktfähigkeit zu Dritten sowie Gruppenfähigkeit deutlich beeinträchtigt ist. Damit verkennt er, dass eine längere Herausnahme aus dem Arbeitsprozess und eine damit einhergehende Entwöhnung von demselben keine einen Rentenanspruch begründende gesundheitlich-funktionelle Leistungseinschränkung darstellt.
Die gesundheitliche Situation des Klägers rechtfertigt auch nicht die Annahme einer sog. Verschlossenheit des Arbeitsmarktes mit der Folge, dass die Beklagte verpflichtet wäre, ihm eine zumutbare Verweisungstätigkeit zu benennen. Rechtssystematisch kommt bei dem hier vorliegenden Beweisergebnis eines noch vollschichtigen Leistungsvermögens für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes der allgemeine Erfahrungssatz des offenen Arbeitsmarktes (BSG SozR Nr. 59 zu § 1246 RVO) zum Tragen. Dieser Grundsatz besagt, dass es für Vollzeittätigkeiten in ausreichendem Umfang Arbeitsplätze gibt (BSGE 44, 39). Gründe für eine ausnahmsweise Benennungspflicht liegen nicht vor. Voraussetzung dafür wäre, dass der Kläger an einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung (z. B. Einarmigkeit) leidet, oder sein Leistungsvermögen durch eine Vielzahl („Summierung“) ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen geprägt und er deshalb überdurchschnittlich stark leistungsgemindert ist. Weder das eine, noch das andere liegt vor. Der Große Senat des BSG hat in seinem Beschluss vom 19.12.1996 (GS 1/95) beispielhaft zusammentreffende Leistungseinschränkungen wiedergegeben, die nach seiner Auffassung nicht zu einer konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit Anlass geben. Gemessen daran muss dem Kläger keine bestimmte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes als zumutbare Verweisungstätigkeit benannt werden. Denn von einer überdurchschnittlich starken Leistungseinschränkung oder einer schweren ungewöhnlichen Leistungsbehinderung (BSG a.a.O.) kann bei ihm nicht gesprochen werden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Kammer auch davon überzeugt, dass der Kläger die ihm zumutbaren Tätigkeiten unter betriebsüblichen Bedingungen verrichten kann. Bezogen auf den für die Beurteilung des Klageanspruchs maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ergeben sich insbesondere aus den in den eingeholten Sachverständigengutachten beschriebenen Befunden und dargelegten Beurteilungen -soweit ihnen gefolgt werden konntekeine Hinweise dafür, dass es beim Kläger aufgrund seiner Gesundheitsstörungen zu derart häufigen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit kommt, dass ernsthafte Zweifel daran bestehen, ob er noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem Betrieb einsetzbar ist (vgl. BSG vom 31.10.2012, B 13 R 107/12 B).
Der Kläger ist nicht teilweise erwerbsgemindert. Ebenso wenig ist er voll erwerbsgemindert im Sinne von § 43 SGB VI. Denn ein Versicherter, der nicht teilweise erwerbsgemindert ist, kann noch weniger die strengeren Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 SGB VI erfüllen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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