Sozialrecht

Zumutbare Verweisungstätigkeit in der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung

Aktenzeichen  31 O 1774/17

Datum:
5.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41851
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG § 172
BUZ § 2 Abs. 1, Abs. 4

 

Leitsatz

1. Bei der Auslegung des Begriffs “bisherigen Lebensstellung” (§ 2 BUZ) ist auch ein geographischer Moment im Hinblick auf die Mobilität des jeweilig Betroffenen zu berücksichtigen. Insbesondere ist deshalb auch auf die tägliche Pendelstrecke von der Wohnung zum Berufsort abzustellen (Anschluss an OLG Nürnberg BeckRS 2015, 3652). (Rn. 63) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Frage der (abstrakten) Verweisung eines Postzustellers auf die Tätigkeit als Mitarbeiter in einem Postzentrum (Verweisbarkeit bejaht). (Rn. 52 – 79) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 6.500,- EUR vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
I.
1. Das bisherige Berufsbild des Klägers konnte durch die Vernehmung des Zeugen … herausgearbeitet werden.
Danach betrug der regelmäßige Arbeitstag zwischen 7.00 Uhr und 8.00 Uhr bis 15.00 Uhr und 16.00 Uhr. Der Kläger habe als Verbundzusteller gearbeitet und musste dabei Briefe, Zeitschriften und Pakete transportieren.
Diese Sendungen mussten in Behälter abgepackt werden. Diese Behälter hatten zum Teil ein Gewicht von 20 bis 25 kg. Diese mussten dann auch von der Packstelle in ein Fahrzeug über eine Strecke von über 30 m verbracht und dort eingeschichtet werden.
Dabei waren auch immer wieder beladene Rollbehälter mit mehreren derartigen Kisten zu ziehen.
Jeden Tag waren etwa 50 Pakete mit unterschiedlichen Gewichten zu tragen.
Die Maximalgewichte von Paketen betrugen bis zu 31,5 kg. Derart schwere Pakete mit mehr als 20 kg waren täglich wohl 2-3 Stück, zum Teil auch bis zu 10. Täglich war zumindest eines dieser Pakete zu befördern.
Insgesamt waren etwa 7-8 % der Pakete als derart schwere Pakete einzustufen. Dies konnte auch anhand von Waagen nachvollzögen werden.
Der Zeuge wusste jedenfalls aufgrund von Erfahrungswerten und auch Mitteilungen von Kollegen, dass immer über die Schwere der Pakete geschimpft worden sei.
Aus der Vernehmung des Zeugen wurde zumindest deutlich, dass der Kläger im Rahmen seiner Tätigkeit als Zusteller zumindest mehrfach täglich derart schwere Pakete im Rahmen von Zustellvorgängen zu bewegen und auch in sein Fahrzeug einzuladen hatte.
Die Bewegung derart schwerer Pakete von mehr als 20 kg war damit Teil des Berufsbildes des Klägers.
2. Die Untersuchung des Klägers durch den Sachverständigen … hat ergeben, dass der Kläger hinsichtlich seines bisherigen Berufsbildes als Postzusteller berufsunfähig ist.
Der Sachverständige hat festgestellt, dass der Kläger auf orthopädischem Fachgebiet an einer initialen Verschleißerkrankung beider Hüftgelenke mit radiologisch nachweisbaren Impliminent leide, eine deutlich schmerzhafte Einschränkung der Hüftgelenksbeweglichkeit, rechts und auch links, liege nicht vor. Allerdings habe sich eine endgradige Einschränkung der Hüftgelenksbeweglichkeit beidseits ergeben, wobei jedoch keine relevanten Beschwerden angegeben worden seien.
Daneben fand sich eine initiale Koxarthrose beidseits sowie Zeichen einer möglichen Impinimentsymptomatik.
Im Bereich der Wirbelsäule finden sich initiale Abnutzungserscheinungen des unteren Wirbelsäulenabschnitts, insbesondere in Form einer Osteokontrose speziell der Etage L 4/L 5 sowie im Sinne eines Bandscheibenvorfalles der Etage L 4/5 mit Spondylkontrose ebenfalls Etage L 4/L 5. Darüber hinaus zeigen sich Spondylarthrosen in beiden Segmenten L 4/5 und L 5/S 1. Hierbei handele es sich um initiale Abnutzungserscheinungen, ein mittelgradiges oder fortgeschrittenes Verschleißerscheinen liege jedoch nicht vor.
Nachvollziehbar sei, dass durch diese initialen Degenerationserscheinungen es unter dem Lendenwirbelsäulenabschnitt rezidivierende LWS-Beschwerden in Form einer Lumbalgie bzw. in Form von chronisch rezidivierenden Lumbalbeschwerden auftreten. Darüber hinaus sei es nachvollziehbar, dass phasenweise pseudo-radiokuläre lumbale Schmerzen rechts vorhanden wären. Im Hinblick auf Gefühlsstörungen hätten sich keine Ursachen ergeben, seien auch nicht nervenärztlich abgeklärt worden.
Die weiter geäußerten Beschwerden könnten durch ihn als Sachverständigen nicht begutachtet werden.
Daneben hat der Sachverständige die dargestellte Problematik mit dem Berufsbild des Klägers abgeglichen.
Dabei war von Bedeutung, dass klägerseits nurmehr eine eingeschränkte Belastbarkeit der Wirbelsäule vorliege, welche insbesondere Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen (über 20 kg) nicht mehr zumutbar seien, sowie längerfristige Tätigkeiten in Zwangshaltung wie Bücken, Hocken und vornübergebeugt.
Tätigkeiten wie gelegentliche Tragvorgänge mit leichten Gewichten (bis zu 10 kg), gering- bzw. kurzzeitig auch von mittelschweren Gewichten zwischen 10 und 20 kg seien jedoch noch zumutbar.
Der Kläger wäre danach zwar in der Lage, aufgrund seiner Wirbelsäulenerkrankung gering- bzw. kurzzeitig noch mittelschwere Gewichte von 10-20 kg zu bewegen. Hebe- und Tragetätigkeiten bei Gewichten von mehr als 20 kg seien jedoch nicht mehr möglich.
Zwar würden diese Tragetätigkeiten als solche nicht die prägende Tätigkeit des Klägers als Postzusteller darstellen und würden, zeitlich gesehen, auch nicht 50 % seiner gesamten Tätigkeit ausmachen.
Allerdings könnten diese wohl als Teil der prägenden Tätigkeit des Klägers aufgefasst werden, weshalb insoweit von Berufsunfähigkeit ausgegangen werden könne.
Hierbei bezog der Sachverständige sich insbesondere auf die Darstellungen des Zeugen …, wonach dem Kläger aufgrund seiner orthopädischen Erkrankung ein seinen Beruf prägendes Arbeitsfeld versagt bleibe, obwohl dies zeitlich gesehen nicht 50 % seiner Tätigkeit ausmachen muss.
Beim Kläger bestehe danach eine qualitative Beeinträchtigung seiner Arbeitstätigkeit.
Unter Beachtung des Ergebnisses dieses Gutachtens ist deshalb davon auszugehen, dass der Kläger in seinem bisherigen Beruf berufsunfähig war, da er ein seinen Beruf bislang prägendes Tätigkeitsbild, nämlich gerade das Heben und Tragen auch schwerer Gegenstände, krankheitsbedingt nicht mehr ausführen kann.
Die vom Sachverständigen als qualitative Berufsunfähigkeit dargestellte Form der Berufsunfähigkeit muss insoweit ausreichen.
II.
Allerdings muss der Kläger sich, wie beklagtenseits behauptet, auf eine andere Tätigkeit verweisen lassen.
1. Die Frage der abstrakten Verweisungen ist bedingungsgemäß zwischen den Parteien vereinbart.
Nach § 2 Abs. 1 und Abs. 4 der Bedingungen ist darauf abgehoben, dass der Kläger auch eine andere Tätigkeit auszuüben hat, die aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht.
Damit ist die Frage der abstrakten Verweisung zwischen den Parteien ordnungsgemäß vereinbart.
2. Die grundsätzliche Möglichkeit dieser abstrakten Verweisung wurde durch das Gutachten der Sachverständigen … vom 22.8.2019 belegt.
Die Beklagtenseite wollte den Kläger auf die Tätigkeit als Briefsortierer/Mitarbeiter im Postzentrum der … oder aber als Mitarbeiter in der Poststelle der … verweisen.
Hinsichtlich des ersten Berufsbildes ist der Kläger nach Ansicht der Sachverständigen aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung dem Berufsbild nicht gewachsen. Das Anforderungsprofil dieser Tätigkeit korreliert nicht mit seinem gesundheitlichen Restleistungsvermögen. Die Arbeit werde überwiegend gehend und stehend ausgeübt, ein Wechsel der Körperhaltung sei nicht möglich. Darüber hinaus sei zweifelhaft, ob es überhaupt noch eine Tätigkeit in dem Briefzentrum geben könnte, die ein Bewerber mit der Qualifikation des Klägers und seinen Restleistungsvermögen noch ausüben könnte.
Hinsichtlich des zweiten Berufsbildes entspreche das Anforderungsprofil dem Leistungsvermögen des Klägers. Arbeitsplätze seien auch in nicht unerheblicher Anzahl im … vorhanden. Die Arbeit nämlich sei als körperlich leicht bis mittelschwer zu bezeichnen. Sie wird in geschlossenen Räumen ausgeführt und im Wechsel zwischen gehen, stehen und sitzen ohne häufige Zwangshaltungen.
Damit sei dieses Berufsbild grundsätzlich für den Kläger geeignet.
3. Beklagtenseits wurden nunmehr eine Mehrzahl von Stellen aus dem Bereich … und … dargestellt, die dem Kläger nach den Darstellungen beider Sachverständiger durchaus zumutbar sind.
Dabei wird nicht verkannt, dass zwar die Lage auf dem Arbeitsmarkt grundsätzlich unberücksichtigt bleiben muss, dies aber voraussetzt, dass für die konkret zu verweisende Tätigkeit ein Arbeitsmarkt tatsächlich existiert.
Bei Auslegung des Begriffes „bisherigen Lebensstellung“ ist dabei auch ein geographischer Moment im Hinblick auf die Mobilität des jeweilig Betroffenen zu berücksichtigen. Insbesondere ist deshalb auch auf die tägliche Pendelstrecke von der Wohnung zum Berufsort abzustellen (OLG Nürnberg, NJW-RR 2015, 869).
Bei der Prüfung, ob ein Arbeitsmarkt überhaupt besteht, ist sowohl in geographischer Sicht als auch unter dem Gesichtspunkt der zu berücksichtigenden Stellen darauf abzustellen, was dem Versicherungsnehmer zumutbar ist.
Die Frage der beruflichen Mobilität ist für sich allein kein taugliches Entscheidungskriterium.
Vielmehr ist entscheidend, ob und in welchem Umfang dem Versicherten ein Pendeln vom Wohnort zum Arbeitsplatz zumutbar ist (OLG Nürnberg, a.a.O.).
Diese Vorgaben sind vorliegend durch die beklagtenseits dargestellten Arbeitsplätze durchgehend erfüllt.
So wurden zum einen Mitarbeiter bei der Poststelle der Sparkasse in … als mögliche Posten dargestellt.
Daneben wurde eine Stelle bei der … beschrieben. Diese suche Mitarbeiter für die Handerfassung in Vollzeit für die Sortierung privater Briefdienstleister in der …, wobei sich die Arbeitszeiten zwischen 8.00 Uhr und 16.30 Uhr sowie zwischen 16.00 Uhr und 1.00 Uhr nachts bewegen. Man müsse belastbar sein und mit Zeitdruck zuverlässig umgehen können. Weiters würden gute Deutschkenntnisse verlangt und Schreibmaschinenkenntnisse.
Eine weitere Stelle in … würde dargestellt als Mitarbeiter der Poststelle/Logistik.
Die Aufgaben wären die Wareneingangskontrolle, die Abwicklung des Warenversandes, Lagerhandling des internen und Bestandsverwaltung des externen Lagers, Dokumentation des Verschrottungsprozesses sowie allgemeine Tätigkeiten im Bereich der Logistik. Gerade dieses Anforderungsprofil würde vom Kläger unzweideutig erfüllt werden.
Eine weitere Stelle als Mitarbeiter der Poststelle würde die Verteilung und Sortierung der Eingangspost, Zustellung der Sendungen auf Botengänge und Recherchetätigkeiten beinhalten, die ebenfalls dem Profilbild des Klägers unzweideutig ähnlich wären.
Diese Stellen würden dem Kläger monatliche Verdienste von mehr als 2.000,- EUR gewähren.
Dies entspricht in etwa dem Gehalt, das der Kläger im Rahmen seiner bisherigen Tätigkeit ebenfalls erzielt hat.
Hinsichtlich der neuen Tätigkeit läge auch keine überdurchschnittliche Unterforderung des Klägers vor.
Die Tätigkeit könnte auch aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Fähigkeit ausgeübt werden. Insbesondere aber entspricht die neue Tätigkeit auch der bisherigen Tätigkeit im Rahmen des erzielbaren Verdienstes, weshalb eine Einkommenseinbuße nicht zu erwarten ist.
Auch im Rahmen der Wertschätzung der Tätigkeit ergeben sich zum bisherigen Beruf des Postzustellers keinerlei Unterschiede.
Ein sozialer Abstieg wäre mit den neuen Tätigkeiten nicht verbunden.
Die Beklagte beruft sich damit zu Recht auf die Verweisungsmöglichkeit des Klägers, weshalb die vorliegende Klage nicht begründet ist.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 209 ZPO.


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