Steuerrecht

Änderung der Einkommensteuerbescheide

Aktenzeichen  2 K 102/16

Datum:
23.4.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 36298
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
EStG § 15 Nr. 1, § 22 Nr. 1 S. 1, § 24 Nr. 2
FGO § 135 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

II.
Die Klage ist unbegründet. Der Beklagte durfte die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2009 bis 2012 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern. Die ursprünglichen Bescheide sind -was zwischen den Beteiligten nicht streitig istmateriell unrichtig gewesen und die Änderung hat auf nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen beruht.
1. Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen.
a) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Entscheidungen vom 30. Oktober 2003 III R 24/02, BStBl II 2004, 394, unter II.1., und vom 19. Oktober 2011 X R 29/10, BFH/NV 2012, 227, unter II.1.a).
Gemäß § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a/bb EStG sind Leibrenten und sonstige Einkünfte, die nicht solche im Sinne des Doppelbuchstaben aa sind und bei denen in den einzelnen Bezügen Einkünfte aus Erträgen des Rentenrechts enthalten sind. Vor dem materiell-rechtlichen Hintergrund, dass die vom Versorgungswerks der … Versicherungs AG an den Kläger ausgezahlte Vertreterversorgungsrente als Einkünfte aus Gewerbebetrieb vollständig der Besteuerung (vgl. BFH-Urteil vom 25. März 1976 IV R 174/73, BStBl II 1976, 487) und nicht der subsidiären Leibrentenbesteuerung zu unterwerfen gewesen ist (vgl. § 22 Nr. 1 Satz 1 EStG), ist im Streitfall als „Tatsache“ der Umstand anzusehen, dass der in den Streitjahren rentenberechtigte Kläger zuvor keine Finanzierungsbeiträge an das Versorgungswerk geleistet hat. Die dem Kläger zugeflossenen Versorgungsbezüge sind daher keine Leibrenten i. S. des § 22 Nr. 1 Satz 3 EStG (vgl. BFH-Urteil vom 21. Oktober 1996 VI R 46/96, BStBl II 1997, 127, Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 5. November 1997 12 K 168/96, EFG 1998, 363).
b) Diese für den Streitfall entscheidungserhebliche Tatsache ist dem Beklagten erst durch die Kontrollmitteilung des Finanzamts K nachträglich bekannt geworden. Danach ist die Finanzierung der ausgezahlten Vertreterversorgungsrente an den Kläger als ehemaligen hauptberuflichen „Ausschließlichkeitsvertreter“ der … Versicherungs AG ausschließlich durch das Versorgungswerk erfolgt.
aa) Ein Steuerbescheid wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel darf zugunsten des Steuerpflichtigen nur aufgehoben oder geändert werden, wenn der Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet hingegen aus, wenn die Unkenntnis der später bekanntgewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist, weil die Finanzbehörde auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre. Rechtfertigender Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO ist nicht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung, sondern der Umstand, dass die Finanzbehörde bei seiner Entscheidung von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Das Kriterium der Rechtserheblichkeit (Kausalität) der neuen Tatsache bei der ursprünglichen Veranlagung schließt demnach aus, dass die Beteiligten des Steuerschuldverhältnisses mit Hilfe eines Änderungsbescheids eine neue Tatsache zum bloßen Anlass oder Vorwand nehmen, ihre geläuterte Rechtsansicht nachträglich durchzusetzen. Maßgebend für die Frage nach der Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache oder eines neuen Beweismittels ist grundsätzlich der Zeitpunkt, in dem die Willensbildung der Finanzbehörde über die Steuerfestsetzung abgeschlossen wird, d.h. im Normalfall der Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens (bei EDVmäßiger Abwicklung der Steuerfestsetzung) oder der Verfügung zum Steuerbescheid. Wie die Finanzbehörde bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der Rechtsprechung des BFH ausgelegt worden ist, und den die die bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch die Finanzbehörde gegolten haben. Das mutmaßliche Verhalten des einzelnen Sachbearbeiters und seine individuellen Rechtskenntnisse sind hingegen für die Frage, ob die Veränderung im Tatsächlichen oder in der rechtlichen Beurteilung liegt, aus gleichheitsrechtlichen Erwägungen ohne Bedeutung. Subjektive Fehler der Finanzbehörden und damit des einzelnen Bearbeiters, wie sie sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht denkbar sein mögen, sind für die Beurteilung der Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekanntgewordenen Tatsache unbeachtlich (vgl. BFH-Urteil vom 22. April 2010 VI R 40/08, BStBl II 2010, 951, m.w.N.)
bb) Dem zuständigen Veranlagungsbearbeiter des Beklagten sind im Streitfall bei Zeichnung der Eingabewertbögen zum Erlass der Erstbescheide der Streitjahre folgende Tatsachen nicht bekannt gewesen, nämlich dass der Kläger bis 2007 hauptberuflicher Ausschließlichkeitsvertreter bei der … V. AG gewesen ist und die Rente vom Versorgungswerk der … Versicherungs AG gestammt hat, die auf der Beendigung des Agenturvertrags zwischen der … Versicherungs AG beruht hat und der kein Rentenstammrecht zugrunde gelegen hat. Eine Übermittlungspflicht der Daten seitens des Versorgungswerks an den Beklagten hat nicht bestanden.
Diese Tatsachen sind erst mit der Kontrollmitteilung des Finanzamts … und den Angaben der Kläger im Einspruchsverfahren und damit erst nach Zeichnung der Eingabewertbögen im für die Kläger zuständigen Veranlagungsbezirk dem Beklagten bekannt geworden. Die Kläger haben in ihren Steuererklärungen unrichtige und unvollständige Angaben gemacht.
Hinsichtlich des Grades der erforderlichen Kenntnis ist zu differenzieren: Der Inhalt der in der zuständigen Dienststelle geführten Steuerakten gilt als bekannt, ohne dass es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt. Bei Tatsachen, die sich nicht aus den Akten ergeben, ist hingegen die positive Kenntnis des zuständigen Bearbeiters erforderlich; ein Kennenmüssen reicht hier nicht aus (vgl. BFH-Beschluss vom 14. Mai 2013 X B 33/13, BStBl II 2013, 997, m.w.N.).
Vorliegend ergab sich aus den Akten nicht, dass der Kläger keinen Finanzierungsbeitrag für die vom Versorgungswerk ausgezahlte Rente geleistet hat. Hinzu kommt, dass selbst, wenn als wahr unterstellt wird, dass die Entgeltabrechnungen der … Versicherungs AG im Streitfall den Steuererklärungen beigelegen haben, auch daraus keine entsprechende Tatsachenkenntnis des zuständigen Sachbearbeiters folgt. Der Inhalt dieser Entgeltabrechnungen lässt nicht erkennen, dass er mit den Erklärungen in der Anlage R nicht übereinstimmt.
Der Umstand, dass dem Veranlagungssachbearbeiter bei einer sorgfältigen Analyse der Steuererklärungen Zweifel an der Richtigkeit der dort gemachten Angaben hätten kommen können bzw. müssen, ändert nichts daran, dass ihm die maßgebenden Tatsachen -objektivnachträglich bekannt geworden ist. Dieser Umstand ist allerdings im Rahmen der Prüfung, ob eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist, zu berücksichtigen.
c) Die Grundsätze von Treu und Glauben führen im Streitfall allerdings auch nicht dazu, dass ausnahmsweise von der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO abzusehen wäre.
Die Änderung eines Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist trotz Vorliegens aller Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm in Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn der Finanzbehörde die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Allerdings muss der Steuerpflichtige dann seinerseits seine Mitwirkungspflicht erfüllt haben. Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch die Finanzbehörde es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft in der Regel den Steuerpflichtigen die Verantwortung, mit der Folge, dass die Berufung der Finanzbehörde auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht als treuwidrig anzusehen ist. Demgegenüber scheidet in Fällen beiderseitiger Pflichtverletzungen eine Änderungsmöglichkeit aus, wenn der Verstoß der Finanzbehörde deutlich überwiegt (vgl. BFH in BStBl II 2013, 997, m.w.N.).
Im Streitfall kann dahinstehen, ob die Entgeltabrechnungen zusammen mit den Steuererklärungen beim Beklagten eingereicht worden sind. Denn entgegen der Auffassung der Kläger ist aus den „Entgeltabrechnungen“ gerade nicht auf das Vorliegen gewerblicher Einkünfte zu schließen gewesen.
Die Schreiben der … Versicherungen vom 21. Mai 2007 und vom 14. September 2007 haben nach den Angaben der Kläger in der mündlichen Verhandlung jedenfalls nicht ihren beim Beklagten eingereichten Steuererklärungen beigelegen.
Vorliegend könnte der Beklagte zwar seine Ermittlungspflichten bei der Bearbeitung der Steuererklärungen der Kläger verletzt haben, wenn als wahr unterstellt wird, dass die Entgeltabrechnungen den Steuererklärungen beigefügt gewesen sind. Die Frage, ob die Bezeichnungen „Entgeltabrechnung“, „Personalnummer“ und „Lohnart“ hinsichtlich der Vertreterversorgungsrente bezogen auf die in der Anlage R erklärten Leibrenteneinkünfte aus Privatversicherung schon zu Unschlüssigkeiten in den Erklärungen und damit zu Nachfragen des Beklagten über die Einkunftsart hätten führen müssen, stellt sich nicht ohne Weiteres, weil dort Hinweise über Finanzierungsbeiträge des Klägers oder über weiter auszugleichende Provisionszahlungen fehlen. Ferner kommt in den Entgeltabrechnungen nicht zum Ausdruck, dass die Rentenzahlungen vom Versorgungswerk der … Versicherungs AG herrühren und auf der Beendigung des Agenturvertrags beruht haben. Die Wortwahl, wie „Entgelt“, „Personalnummer“, „Tarifgruppe“ und „Lohnart“ deutet jedenfalls nicht ausschließlich auf gewerbliche Einkünfte hin.
Zudem haben auch die Kläger ihre Mitwirkungspflichten verletzt. Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO sind Angaben in Steuererklärungen wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Daran fehlt es, da die Kläger unter Mitwirkung ihres Steuerberaters die Vertreterversorgungsrente des Klägers als Leibrente in der Anlage R erklärt haben und eindeutige Unterlagen dem Beklagten nicht vorgelegt worden sind (vgl. BFH in BStBl II 2013, 997). Die in ihrer unrichtigen Erklärung liegende Pflichtverletzung entfällt ersichtlich auch nicht deshalb, weil die Kläger ihren Steuererklärungen unklare Entgeltabrechnungen der … Versicherungs AG beigefügt haben.
Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Verletzung von Ermittlungspflichten auf Seiten des Beklagten -bei Wahrunterstellung, die Entgeltabrechnungen seien den Steuererklärungen beigefügt gewesenjedenfalls nicht schwerer wiegen als die Verletzung der Steuererklärungspflichten der Kläger, so dass die Grundsätze von Treu und Glauben der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht entgegenstehen.
Ausschlaggebend hierfür ist, dass allein die Kläger den vollständigen Sachverhalt gekannt haben. Sie haben gewusst, dass der Kläger keine Beträge für die vom Versorgungswerk der … Versicherungs AG gewährte Versicherungsversorgungsrente geleistet hat. Diesen Umstand haben sie seit dem Rentenbeginn im Dezember 2007 weder gegenüber dem zuständigen Veranlagungsbeamten des Beklagten offengelegt noch hatte dieser Kenntnis davon. Hinzu kommt, dass die Angaben der Kläger in den Steuererklärungen über eine Leibrente aus Privatversicherung durchaus für sich betrachtet schlüssig gewesen sind.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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