Aktenzeichen XI R 5/19
Leitsatz
1. Wurden Umsätze in Änderungsbescheiden zur Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer zunächst rechtsirrig als umsatzsteuerpflichtig (und eine Umsatzsteuerverbindlichkeit auslösend) berücksichtigt, darf das Finanzamt, wenn es dem Einspruch des Steuerpflichtigen gegen den Umsatzsteuerbescheid dadurch abhilft, dass es die Umsätze umsatzsteuerfrei belässt, den bestandskräftigen Körperschaftsteuerbescheid nach § 174 Abs. 4 AO einkommenserhöhend in dem Umfang ändern, in dem es zuvor zu einer Einkommensminderung gekommen war.
2. Eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts i.S. des § 174 Abs. 4 AO liegt vor, wenn sich dessen Beurteilung nachträglich als unrichtig erweist; ob der dafür ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen liegt, ist unerheblich.
3. Die zutreffende Berücksichtigung desselben Sachverhalts kann auch bei einer anderen Steuerart in Frage kommen, sofern –bezogen auf den zu beurteilenden Sachverhalt– eine sachliche Verbindung zwischen beiden Regelungsgegenständen besteht.
Verfahrensgang
vorgehend FG Köln, 21. Februar 2019, Az: 10 K 1074/17, Urteil
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 21.02.2019 – 10 K 1074/17 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) die gegenüber der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ergangenen Körperschaftsteuer-Änderungsbescheide für die Jahre 2011 und 2012 (Streitjahre) vom 12.05.2014 nach § 174 Abs. 4 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) erneut ändern durfte.
2
Die Klägerin, eine GmbH, gab in den Streitjahren u.a. elektronische Versicherungsbestätigungen (eVB) für die Zulassung von Fahrzeugen an andere Unternehmer weiter. Aus dieser Tätigkeit erzielte sie Betriebseinnahmen von 17.526,45 € (2011) und 52.603,10 € (2012), die sie in ihren Umsatzsteuer-Jahreserklärungen für das Jahr 2011 vom 25.07.2012 und für das Jahr 2012 vom 02.08.2013 als umsatzsteuerfrei nach § 4 Nr. 11 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) deklarierte.
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Das FA folgte dem und veranlagte die Klägerin mit Körperschaftsteuerbescheiden für das Jahr 2011 vom 12.10.2012 und für das Jahr 2012 vom 30.09.2013 antragsgemäß zur Körperschaftsteuer.
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Nach einer Außenprüfung im Jahr 2014 vertrat das FA in den Umsatzsteuer-Änderungsbescheiden für die Streitjahre vom 12.05.2014 die Auffassung, dass die Umsätze der Umsatzsteuer zu unterwerfen seien. Gleichzeitig seien weitere Vorsteuerbeträge zum Abzug zuzulassen. In den Körperschaftsteuer-Änderungsbescheiden für die Streitjahre vom selben Tag verminderte das FA den Gewinn entsprechend. Es folgte der Auffassung des Prüfers, der in der “Mehr- und Weniger-Rechnung” (neben weiteren Prüfungsfeststellungen) u.a. höhere Umsatzsteuer und den höheren Vorsteuerabzug für die Streitjahre berücksichtigte und (durch Einbuchung eines “steuerlichen Ausgleichspostens” auf der Passivseite der Prüferbilanzen) den Gewinn insoweit entsprechend minderte.
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Die Klägerin legte gegen die Umsatzsteuer-Änderungsbescheide Einspruch ein. Nach Ergehen des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 24.07.2014 – V R 9/13 (BFH/NV 2014, 1783) half das FA mit Änderungsbescheiden vom 26.04.2016 dem Einspruch der Klägerin wegen Umsatzsteuer für die Streitjahre ab.
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Unter dem 01.07.2016 (für das Jahr 2011) und dem 12.07.2016 (für das Jahr 2012) erließ das FA auf § 174 Abs. 4 AO gestützte Körperschaftsteuer-Änderungsbescheide, mit denen es die in den Körperschaftsteuer-Änderungsbescheiden vom 12.05.2014 vorgenommenen Gewinnminderungen (2.579 € für das Jahr 2011 und 7.758 € für das Jahr 2012) wieder rückgängig machte.
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Mit ihrem Einspruch machte die Klägerin geltend, dass die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO nicht vorlägen. Der Begriff des “bestimmten Sachverhalts” sei auf einen einheitlichen Lebensvorgang bezogen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpfe. Die Regelung erlaube nur Änderungen, die unmittelbar aus dem Sachverhalt selbst (und nicht aus den steuerlichen Folgen dieses Sachverhalts) resultierten. Ergebe sich auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten eine Änderung der umsatzsteuerrechtlichen Einstufung eines Sachverhalts, würden sich die Folgerungen bei der Ertragsteuer nicht aus dem Sachverhalt selbst, sondern nur aus der Rechtsfolge dieses Sachverhalts ergeben.
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Das FA wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 07.04.2017 als unbegründet zurück. Da die Klägerin umsatzsteuerrechtlich erfolgreich für ihre Rechtsansicht gestritten habe, müsse sie ertragsteuerrechtlich die damit verbundenen Nachteile hinnehmen.
9
Das Finanzgericht (FG) Köln wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2019, 1428 veröffentlichten Urteil vom 21.02.2019 – 10 K 1074/17 ab. Der der rechtlichen Beurteilung zugrunde liegende Sachverhalt sei die entgeltliche Weitergabe der eVB. Diese Tätigkeit der Klägerin sei der einheitliche Lebensvorgang, der bei der Umsatzsteuer dazu führe, dass diese Tätigkeit nach § 4 Nr. 11 UStG steuerfrei sei, und gleichzeitig bei der Körperschaftsteuer dazu führe, dass die Einnahmen als Nettoeinnahmen nicht um Umsatzsteuer zu kürzen seien. Beides beruhe auf demselben Sachverhalt ohne Ergänzung um weitere Sachverhaltselemente. Unerheblich sei, dass die Folgeänderung nicht auf die gleiche Rechtsfolge gerichtet sei und unterschiedliche Steuerarten betroffen seien.
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Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO sowie einen Verfahrensfehler. Das Urteil des FG widerspreche der Auffassung des FG München in seinem Urteil vom 08.05.2014 – 15 K 2272/11 (EFG 2014, 1352). Der Begriff des “bestimmten Sachverhalts” i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO sei zwar auf einen einheitlichen Lebensvorgang bezogen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpfe. Die Regelung erfasse allerdings nur Anpassungen, die sich aus diesem einheitlichen Lebensvorgang, nicht aber aus den steuerlichen Folgen dieses einheitlichen Lebensvorgangs ergäben. Die vom FA zuvor berücksichtigten Umsatzsteuerverbindlichkeiten hätten sich nicht aus dem Sachverhalt “Zwischenhandel mit eVB” ergeben, sondern aus dem umsatzsteuerrechtlichen Streit zwischen der Klägerin und dem FA. Die Klägerin ermittle ihren Gewinn nach § 4 Abs. 1 Satz 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und § 238 des Handelsgesetzbuchs (HGB) durch Betriebsvermögensvergleich. Durch den Streit mit dem FA habe dieses bei der Klägerin eine Umsatzsteuerverbindlichkeit als sonstige Verbindlichkeit (§ 266 Abs. 3 C Nr. 8 HGB) betriebsvermögensmindernd berücksichtigt. Diese Rechtsfolge habe das FA nicht aus dem Sachverhalt selbst, sondern der rechtsirrigen Beurteilung des Sachverhalts gezogen. Gleiches gelte für die spätere Abhilfe. Als bilanzsteuerrechtliche Folge aus der Umsatzsteuerbefreiung seien die nach § 266 Abs. 3 C Nr. 8 HGB passivierten Umsatzsteuerverbindlichkeiten entfallen. Auch dies stelle eine ertragsteuerrechtliche Rechtsfolge aus einer anderen Rechtsfolge dar, die nicht zu einer Änderung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO berechtige. Bis zum Erlass der Umsatzsteuer-Änderungsbescheide vom 26.04.2016 seien die Körperschaftsteuer-Änderungsbescheide vom 12.05.2014 weiterhin richtig gewesen.
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Die Klägerin verweist ergänzend auf ihren Hilfsvortrag im Klageverfahren, wonach die ertragsteuerrechtlichen Folgen richtigerweise erst im Jahr der Abhilfe zu ziehen seien. Zu diesem auch in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argument enthalte die Vorentscheidung keine Ausführungen.
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Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung vom 07.04.2017 sowie die Körperschaftsteuer-Änderungsbescheide für das Jahr 2011 vom 01.07.2016 und für das Jahr 2012 vom 12.07.2016 aufzuheben, hilfsweise, die Vorentscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen.
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Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
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Zwar liege der Änderung vorliegend ein Rechtsirrtum zugrunde. Dieser Rechtsirrtum beruhe jedoch auf einem bestimmten Sachverhalt. Unter Zugrundelegung der Auffassung der Klägerin wäre im Fall eines Rechtsirrtums des FA eine Folgeänderung generell ausgeschlossen; diese restriktive Auslegung widerspreche dem Zweck des § 174 Abs. 4 AO.
Entscheidungsgründe
II.
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Die Revision ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat zu Recht angenommen, dass die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO erfüllt sind; entgegen dem Hilfsvortrag der Klägerin waren die Körperschaftsteuer-Änderungsbescheide für die Streitjahre vom 12.05.2014 auch nicht bis zum Erlass der Umsatzsteuer-Änderungsbescheide vom 26.04.2016 richtig. Auch die Verfahrensrüge bleibt ohne Erfolg.
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1. Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, können nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Nach § 174 Abs. 4 Satz 3 AO ist der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden.
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a) Der Regelungsmechanismus des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO setzt hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen aufgehoben oder geändert wird. Dies löst sodann –“nachträglich”– die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. § 174 Abs. 4 AO regelt mithin den Fall, dass verfahrensrechtliche Folgerungen aus einer vorherigen Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zu ziehen sind (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 10.11.1997 – GrS 1/96, BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83, Rz 54; BFH-Urteile vom 11.02.2009 – X R 56/06, BFH/NV 2009, 1411, Rz 16; vom 14.03.2012 – XI R 2/10, BFHE 237, 391, BStBl II 2012, 653), wobei der Umstand, dass die Bescheide unter demselben Datum ergangen sind, der Annahme einer Nachträglichkeit nicht entgegen steht (vgl. BFH-Urteil vom 08.04.2014 – I R 51/12, BFHE 246, 7, BStBl II 2014, 982).
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b) Die Vorschrift soll in dieser Situation (erfolgreiches Vorgehen gegen einen anderen Bescheid) den Grundsätzen von Treu und Glauben zur Geltung verhelfen (vgl. BFH-Urteil vom 04.05.2011 – I R 67/10, BFH/NV 2012, 6): Der Steuerpflichtige soll im Falle seines Obsiegens mit einem gewissen Rechtsstandpunkt an seiner Auffassung festgehalten werden, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen ist (vgl. BFH-Urteile vom 10.05.2012 – IV R 34/09, BFHE 239, 485, BStBl II 2013, 471, Rz 26; vom 02.10.2018 – IV R 24/15, BFH/NV 2019, 516). Wer erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (BFH-Urteile vom 10.03.1999 – XI R 28/98, BFHE 188, 409, BStBl II 1999, 475; vom 11.05.2010 – IX R 25/09, BFHE 230, 203, BStBl II 2010, 953; vom 24.04.2013 – II R 53/10, BFHE 241, 63, BStBl II 2013, 755, Rz 19).
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c) Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist der einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Gegenstand der irrigen Beurteilung muss –anders als diese Beurteilung selbst– ausschließlich der Seinswelt angehören, d.h. es muss sich um einen Zustand, einen Vorgang, eine Beziehung bzw. eine Eigenschaft materieller oder immaterieller Art handeln, die ihrerseits Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sind (vgl. BFH-Urteil vom 26.02.2002 – X R 59/98, BFHE 198, 20, BStBl II 2002, 450). Der Begriff ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex (vgl. BFH-Urteile vom 19.11.2003 – I R 41/02, BFH/NV 2004, 604; vom 18.03.2004 – V R 23/02, BFHE 205, 402, BStBl II 2004, 763; vom 14.11.2012 – I R 53/11, BFH/NV 2013, 690; kritisch dazu Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 24. Aufl., Rz 21.429; Loose in Tipke/Kruse, § 174 AO Rz 41 f.), wobei mehrere Sachverhaltselemente dann einen Sachverhaltskomplex bilden, wenn die Elemente einen inneren Zusammenhang aufweisen (vgl. BFH-Urteil vom 12.02.2015 – V R 38/13, BFHE 248, 504, BStBl II 2017, 31).
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Entscheidend ist, dass aus demselben –unveränderten und nicht durch weitere Tatsachen ergänzten– Sachverhalt andere steuerliche Folgerungen in einem anderen Steuerbescheid gegenüber dem Steuerpflichtigen zu ziehen sind (vgl. BFH-Urteil vom 08.03.2007 – IV R 41/05, BFH/NV 2007, 1813), wobei der ursprünglich beurteilte und der tatsächlich verwirklichte Lebens- und Besteuerungssachverhalt nicht vollständig übereinstimmen müssen. Je nach den Erfordernissen des jeweiligen steuerlichen Tatbestandes kann eine teilweise Deckungsgleichheit genügen (vgl. BFH-Urteile vom 19.08.2015 – X R 50/13, BFHE 251, 389, BStBl II 2017, 15; vom 19.08.2015 – X R 51/13, BFH/NV 2016, 721; vom 21.09.2016 – V R 24/15, BFHE 254, 505, BStBl II 2017, 143; vom 25.01.2017 – X R 45/14, BFH/NV 2017, 1039).
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d) Eine irrige Beurteilung im Sinne der Vorschrift liegt vor, wenn sich die Beurteilung des bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist (BFH-Urteile vom 25.10.2016 – X R 31/14, BFHE 255, 399, BStBl II 2017, 287; vom 20.11.2019 – XI R 49/17, BFH/NV 2020, 497, Rz 18). Ob der dafür ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen liegt, ist unerheblich (vgl. BFH-Urteil vom 05.05.2011 – V R 45/09, BFH/NV 2011, 1655; vom 21.09.2017 – VIII R 59/14, BFHE 259, 411, BStBl II 2018, 163; a.A. v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 174 AO Rz 237). Eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts liegt daher auch dann vor, wenn das FA aus einem bestimmten Sachverhalt unzutreffende steuerrechtliche Folgerungen zieht (vgl. BFH-Urteile vom 28.06.1990 – V R 93/85, BFH/NV 1991, 210; vom 18.02.1997 – VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647; vom 02.05.2001 – VIII R 44/00, BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562), oder wenn das FA den Sachverhalt zwar in subjektiv vertretbarer Weise beurteilt, dabei aber die objektive Rechtslage verfehlt (vgl. BFH-Beschluss vom 19.05.1981 – VIII B 90/79, BFHE 133, 348, BStBl II 1981, 633). Eine Änderung wegen der irrigen Beurteilung des Sachverhalts in einem anderen Bescheid ist noch nicht einmal ausgeschlossen, wenn das FA insoweit vorsätzlich fehlerhaft gehandelt hat (vgl. BFH-Beschluss vom 21.05.2004 – V B 30/03, BFH/NV 2004, 1497; BFH-Urteil in BFHE 239, 485, BStBl II 2013, 471). Welcher Art der Irrtum des FA war, d.h. ob das FA fälschlich von einer steuerlichen Relevanz dem Grunde nach ausgegangen ist oder die steuerlichen Folgen anderweit fehlerhaft beurteilt hat, stellt keinen rechtserheblichen Unterschied dar (vgl. BFH-Urteil in BFHE 251, 389, BStBl II 2017, 15, Rz 26). Selbst das Übersehen einer möglichen Rechtsfolge erlaubt eine Änderung nach § 174 Abs. 4 AO (vgl. BFH-Urteil vom 08.04.1992 – X R 213/87, BFH/NV 1993, 406, unter 2.b). Es kann deshalb dahinstehen, auf welcher Ebene die Fehlbeurteilung durch die Finanzbehörde liegt.
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e) Die zutreffende Berücksichtigung desselben Sachverhalts kann auch bei einer anderen Steuerart in Frage kommen, sofern –bezogen auf den zu beurteilenden Sachverhalt– eine sachliche Verbindung zwischen beiden Regelungsgegenständen besteht (vgl. BFH-Urteile vom 03.08.1988 – I R 115/84, BFH/NV 1989, 482; vom 27.09.2006 – IV R 39, 40/05, BFH/NV 2007, 221; in BFHE 246, 7, BStBl II 2014, 982, Rz 20; vom 04.02.2016 – III R 12/14, BFHE 253, 290, BStBl II 2016, 818, Rz 18, m.w.N.; Loose in Tipke/Kruse, § 174 AO Rz 48). Auch bilanzrechtlich zwingende Folgerungen aus der unrichtigen Beurteilung des Sachverhalts reichen für die Anwendung des § 174 Abs. 4 AO aus (vgl. BFH-Urteile vom 27.02.1997 – IV R 38/96, BFH/NV 1997, 388; vom 27.10.2015 – VIII R 47/12, BFHE 252, 80, BStBl II 2016, 600, Rz 60).
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2. Nach diesen Grundsätzen hat das FG zutreffend eine Änderungsbefugnis nach § 174 Abs. 4 AO bejaht. Die Annahme des FA, dass bei der entgeltlichen Weitergabe von eVB für die Zulassung von Fahrzeugen eine zu passivierende Umsatzsteuerverbindlichkeit entstehe, ist eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts i.S. des § 174 Abs. 4 AO.
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a) Rechtsfehlerfrei gehen FA und FG davon aus, dass der Sachverhalt, um dessen zutreffende Beurteilung es im Streitfall geht, die Weitergabe von eVB für die Zulassung von Fahrzeugen an andere Unternehmer gegen Entgelt ist.
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aa) Die Klägerin hatte diesen Sachverhalt in ihren Bilanzen, Umsatz- und Körperschaftsteuererklärungen für die Streitjahre rechtlich zutreffend dahin gehend beurteilt, dass diese Tätigkeit umsatzsteuerfrei sei, insoweit keine Umsatzsteuer beim FA angemeldet und dort abgeführt werden müsse sowie keine Verbindlichkeit zur Zahlung von Umsatzsteuer für diese Umsätze in ihren Bilanzen passiviert werden dürfe. Dies ist –abweichend zur Rechtsansicht des FG München im Urteil in EFG 2014, 1352– die unmittelbare bilanzielle Folge aus dem Sachverhalt selbst. Ob das FA Umsatzsteuer für diese Umsätze festsetzt oder nicht, ist für die Beurteilung an den Bilanzstichtagen nicht von Belang (zu den Jahren 2014 und 2016 s. unter II.3.).
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bb) Demgegenüber hat das FA in seinen Umsatzsteuer-Änderungsbescheiden vom 12.05.2014 den Sachverhalt irrig dahin gehend beurteilt, dass diese Tätigkeit umsatzsteuerpflichtig sei und die Klägerin Umsatzsteuer für diese Umsätze schulde. Ihm ist insoweit ein Rechtsirrtum unterlaufen.
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cc) Darüber hinaus hat das FA in den Körperschaftsteuer-Änderungsbescheiden vom 12.05.2014 den Sachverhalt ebenfalls irrig dahin beurteilt, dass die Klägerin in ihren Bilanzen für die Streitjahre jeweils eine Verbindlichkeit zur Zahlung von Umsatzsteuer passivieren müsse. Ihm ist insoweit bei der bilanz- und körperschaftsteuerrechtlichen Beurteilung derselbe Rechtsirrtum unterlaufen wie bei der Umsatzsteuer.
28
dd) Die unter bb) und cc) angeführten Rechtsmeinungen des FA erwiesen sich jedoch als Folge des BFH-Urteils in BFH/NV 2014, 1783 (s.a. Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 08.12.2015, BStBl I 2015, 1066) als rechtsirrig: Danach kann ein Versicherungsmakler i.S. des § 4 Nr. 11 UStG auch sein, wer sog. Blanko-Deckungskarten für Kurzzeitversicherungen an- und verkauft. Dies führt dazu, dass die Umsätze umsatzsteuerfrei sind, eine Umsatzsteuer nicht geschuldet wird und daher auch eine Verbindlichkeit zur Zahlung von Umsatzsteuer nicht zu passivieren ist. Beide Änderungsbescheide vom 12.05.2014 waren insoweit unzutreffend.
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Dies zeigt, dass sich dieselbe irrige Beurteilung desselben Sachverhalts (derselbe Rechtsirrtum) in verschiedenen Steuerbescheiden verschiedener Steuerarten (hier: gegenläufig) ausgewirkt hat, ohne dass diese Beurteilung allerdings rechtlich voneinander abhinge. Nach § 157 Abs. 2, § 179 Abs. 1 AO ermittelt das Finanzamt die einzelnen Besteuerungsgrundlagen eines Steuerbescheids in der Regel für jede Steuerfestsetzung selbständig und ohne Bindung an ihren Ansatz in anderen Steuerbescheiden (vgl. allgemein zum Verhältnis von Einkommensteuer und Umsatzsteuer z.B. BFH-Beschlüsse vom 06.07.1999 – IX B 21/99, BFH/NV 2000, 4 unter Verweis auf BFH-Urteil vom 25.01.1994 – IX R 97, 98/90, BFHE 174, 386, BStBl II 1994, 738, unter 2.a; vom 19.09.2007 – XI B 52/06, BFH/NV 2008, 63; BFH-Urteil vom 12.04.2016 – VIII R 60/14, BFH/NV 2016, 1455, Rz 20). Da die gegenüber der Klägerin ergangenen Umsatzsteuerbescheide –wegen fehlender entsprechender gesetzlicher Bestimmung– hinsichtlich der Umsatzsteuerfreiheit der Umsätze keine Grundlagenbescheide für die Körperschaftsteuerbescheide sind, hatte das FA die Frage, ob materiell eine Umsatzsteuerverbindlichkeit entstanden ist, in den Körperschaftsteuerbescheiden unabhängig vom Inhalt der Umsatzsteuerbescheide zu beurteilen. Der Irrtum darüber, ob ein Sachverhalt das Entstehen von Umsatzsteuerverbindlichkeiten nach sich zieht, ist daher im Bilanz-, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuerrecht eine irrige Beurteilung eines Sachverhalts i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO, die lediglich mit der bei der Umsatzsteuer inhaltlich übereinstimmt. Die (zu Unrecht) angenommene Umsatzsteuerpflicht ist auch nicht notwendige Rechtsfolge der in den Umsatzsteuer-Änderungsbescheiden vertretenen Rechtsauffassung, sondern einer eigenständigen (hier: irrigen) bilanzrechtlichen und körperschaftsteuerrechtlichen Beurteilung des von der Klägerin verwirklichten Besteuerungssachverhalts. Die rechtsirrige Beurteilung der Umsatzsteuerpflicht in den gegenüber der Klägerin ergangenen Umsatzsteuer-Änderungsbescheiden vom 12.05.2014 führte nicht zum rückwirkenden Entstehen von materiellen Umsatzsteuerverbindlichkeiten der Klägerin in den Streitjahren (zu den Jahren 2014 und 2016 s. unter II.3.).
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ee) Die unzutreffende Umsatzsteuerfestsetzung vom 12.05.2014 wurde auf den Einspruch der Klägerin durch die Umsatzsteuer-Änderungsbescheide vom 26.04.2016 zugunsten der Klägerin geändert, was dazu führt, dass das FA gemäß § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 3 AO durch die Körperschaftsteuer-Änderungsbescheide vom 01.07.2016 und 12.07.2016 die aufgrund desselben Rechtsirrtums in den Körperschaftsteuer-Änderungsbescheiden vom 12.05.2014 zugunsten der Klägerin berücksichtigte Einbuchung von (in Wahrheit nicht existierenden) Umsatzsteuerverbindlichkeiten wieder rückgängig machen durfte.
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b) Die Einwendungen der Klägerin bleiben erfolglos.
32
aa) Soweit die Klägerin meint, das FA habe keinen Sachverhalt irrig beurteilt, sondern lediglich die Rechtsfolgen des Sachverhalts (vgl. auch Urteil des FG München in EFG 2014 1352; s.a. von Wedelstädt in Gosch, AO § 174 Rz 108.1), führt dieser Einwand aus den unter II.1.d) und II.2.a) genannten Gründen zu keiner anderen Beurteilung. Auch ein Rechtsirrtum über die bilanziellen Folgen eines bestimmten Sachverhalts berechtigt zur Änderung nach § 174 Abs. 4 AO (vgl. oben II.1.a)cc) bis ee)).
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bb) Dieser Sichtweise steht das BFH-Urteil vom 15.03.1994 – XI R 45/93 (BFHE 174, 290) schon deshalb nicht entgegen, weil es einerseits durch den BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 1497 und das BFH-Urteil in BFH/NV 2011, 1655 überholt ist, und auch andererseits jedenfalls einen anderen Sachverhalt (Änderung der Verhältnisse i.S. des § 15a UStG) betrifft.
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c) Auch § 4 Abs. 2 Satz 1 EStG führt zu keiner anderen Beurteilung (vgl. dazu Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl., § 174 Rz 61 ff.); denn die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO liegen vor, so dass die Steuerbescheide für die Streitjahre noch änderbar sind.
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3. Der Hilfsvortrag der Klägerin, die ertragsteuerrechtlichen Folgen seien im Jahr der Abhilfe (2016) zu ziehen, ist für die Streitjahre ohne Auswirkungen.
36
a) Die Klägerin weist zwar zu Recht darauf hin, dass der Steuerbescheid, der geändert wird, infolge der irrigen Beurteilung unrechtmäßig sein muss und eine lediglich von der Behörde angenommene, tatsächlich aber nicht bestehende Unrichtigkeit die Anwendbarkeit des § 174 Abs. 4 AO nicht erlaubt (BFH-Urteile vom 04.03.2009 – I R 1/08, BFHE 225, 312, BStBl II 2010, 407; vom 21.11.2017 – VIII R 17/15, BFH/NV 2018, 522). Auch trifft der Hinweis der Klägerin zu, dass nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG, § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes, § 247 Abs. 1, § 266 Abs. 1, Abs. 3 C Nr. 8 HGB, sonstige Verbindlichkeiten, davon aus Steuern, auf der Passivseite der Bilanz auszuweisen sind.
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b) Dabei ist allerdings (auch bei der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich) die objektiv richtige Rechtslage zugrunde zu legen (vgl. grundlegend Beschluss des Großen Senats des BFH vom 31.01.2013 – GrS 1/10, BFHE 240, 162, BStBl II 2013, 317, Rz 61 ff.). Die Körperschaftsteuer-Änderungsbescheide vom 12.05.2014 waren, anders als die Klägerin meint, nicht bis zum Erlass der Umsatzsteuer-Änderungsbescheide vom 26.04.2016 richtig, sondern falsch (s. oben II.2.b)). Es bestanden zu den Bilanzstichtagen der beiden Streitjahre, wie dargelegt, keine Umsatzsteuerverbindlichkeiten der Klägerin für die vorliegend zu beurteilenden Umsätze, die unter Zugrundelegung der objektiv richtigen Rechtslage zu passivieren gewesen wären; denn diese Umsätze waren (nach der übereinstimmenden Auffassung aller Beteiligten und des FG) umsatzsteuerfrei. Eine Verbindlichkeit war daher nicht auszuweisen. Davon ist die Klägerin in ihren Bilanzen auch zutreffend ausgegangen.
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c) Soweit die Klägerin sinngemäß geltend macht, dass das FA gleichwohl am 12.05.2014 (zu Unrecht) gegenüber der Klägerin Umsatzsteuer festgesetzt und diese Festsetzungen erst im Jahr 2016 wieder aufgehoben habe, was die Klägerin bilanziell habe abbilden müssen, mögen diese Vorgänge Auswirkungen auf die Bilanzen der Klägerin der Jahre 2014 und 2016 haben. Auswirkungen auf die Streitjahre ergeben sich hieraus indes nicht, weil die Bilanzen der Klägerin für die Streitjahre insoweit objektiv richtig und die Prüferbilanzen für die Streitjahre insoweit objektiv falsch waren.
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d) Auf die sich im anhängigen Revisionsverfahren XI R 19/21 stellende Rechtsfrage, ob für die Nachforderung nicht hinterzogener Steuerbeträge eine Rückstellung im Jahr der wirtschaftlichen Veranlassung oder in dem Jahr zu bilden ist, in dem der Sachverhalt von der Außenprüfung aufgegriffen wird, kommt es hier nicht an; denn im Streitfall sind nach der objektiv richtigen Rechtslage keine Steuern bei der Klägerin nachzufordern.
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4. Auf dieser Grundlage bleibt auch die Verfahrensrüge erfolglos.
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a) Nach § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO muss ein finanzgerichtliches Urteil u.a. Entscheidungsgründe enthalten. Fehlt es hieran, ist das Urteil als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen (§ 119 Nr. 6 FGO). Die Vorschrift des § 119 Nr. 6 FGO erfasst daher die von der Klägerin gerügten Mängel in der rechtlichen Begründung der vom FG im angefochtenen Urteil getroffenen Entscheidung, während das (versehentliche) Übergehen eines Sachantrags mit dem Antrag nach § 109 FGO zu korrigieren ist (s. allgemein z.B. BFH-Urteil vom 18.04.1991 – VIII R 82, 83/89, BFH/NV 1992, 670, Rz 27, zu § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO a.F.). Das Übergehen eines Sachantrags wird von der Klägerin mit der Revision nicht geltend gemacht.
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b) Es kann offenbleiben, ob das Urteil des FG insoweit teilweise nicht mit Gründen versehen ist, weil es auf den Vortrag, dass die Berücksichtigung erst im Jahr 2016 zu erfolgen habe, nicht ausdrücklich eingegangen ist; denn das Urteil des FG stellt sich insoweit jedenfalls als richtig dar (§ 126 Abs. 4 FGO).
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aa) Der von der Klägerin gerügte Verfahrensfehler würde zwar, wenn er vorläge, grundsätzlich nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung führen (s. z.B. allgemein BFH-Urteil vom 04.04.2000 – VII R 24/99, BFH/NV 2000, 1141, unter II.2.), und zwar ohne materiell-rechtliche Ausführungen des Revisionsgerichts (vgl. BFH-Urteil vom 29.07.2010 – VI R 39/09, BFH/NV 2010, 2296, Rz 26).
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bb) Allerdings gilt dies nicht, wenn das übergangene Angriffs- oder Verteidigungsmittel zur Begründung oder zur Abwehr des Angriffs ungeeignet war und eine erneute Entscheidung des FG deshalb nur zu einer Bestätigung des Urteils führen könnte (vgl. dazu BFH-Urteile vom 29.11.2000 – I R 16/00, BFH/NV 2001, 626, unter II.4., m.w.N.; vom 18.06.2009 – V R 4/08, BFHE 226, 382, BStBl II 2010, 310, Rz 16). In einem solchen Fall kann das Revisionsgericht selbst die Sache abschließend entscheiden und die Revision als unbegründet zurückweisen (vgl. dazu z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 2000, 1141, unter II.2.). Eine solche Situation läge, wenn ein Verfahrensfehler des FG zu bejahen wäre, aufgrund der Ausführungen unter II.3. im Streitfall vor.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
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6. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 90 Abs. 2, § 121 Satz 1 FGO).