Steuerrecht

Gewerbesteuer: Anordnung der aufschiebenden Wirkung

Aktenzeichen  M 10 S 19.995

Datum:
19.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 50340
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AO § 233a, § 238

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Verfahren M 10 S 19.995 und M 10 S 19.996 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die Anträge werden abgelehnt.
III. Die Antragstellerin hat die Kosten der Verfahren zu tragen.
IV. Der Streitwert im Verfahren M 10 19.995 wird auf 196.540,50 EUR und im Verfahren M 10 S 19.996 auf 10.510,75 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Gewerbesteuer und Nachzahlungszinsen durch die Antragsgegnerin für die Jahre 2004 bis 2008.
Das Finanzamt München teilte der Antragsgegnerin mit verschiedenen Schreiben vom 17. Juli 2018 (im Verfahren M 10 S 19.995) und vom 22. August 2018 (im Verfahren M 10 S 19.996) für die Jahre 2004 bis 2008 jeweils aufgrund eines Steuerfahndungsberichts vom 7. März 2018 festgesetzte Gewerbesteuermessbeträge für zwei verschiedene Gewerbebetriebe der Antragstellerin (zum einen Unternehmensberatung, zum anderen Vermittlungstätigkeit) mit.
Für einen der Gewerbebetriebe setzte die Antragsgegnerin unter der Kassenkonto-Nr. … mit Bescheid vom 16. Oktober 2018 die Gewerbesteuer für die Jahre 2004 bis 2008 auf insgesamt 25.970,– € sowie Nachzahlungszinsen bis 2018 in Höhe von insgesamt 16.073,– € fest (streitgegenständlich im Verfahren M 10 S 19.996).
Für den anderen Gewerbebetrieb setzte die Antragsgegnerin unter der Kassenkonto-Nr. … mit Bescheid vom 22. Oktober 2018 für die Jahre 2004 bis 2007 die Gewerbesteuer auf insgesamt 346.454,50 € sowie für die Jahre 2006 und 2007 Nachzahlungszinsen bis 2018 in Höhe von insgesamt 197.502,– € und mit Bescheid vom 24. Oktober 2018 für das Jahr 2008 Gewerbesteuer in Höhe von 160.401,50 € sowie Nachzahlungszinsen bis 2018 in Höhe von 81.804,– € fest, für diesen Gewerbebetrieb also insgesamt Gewerbesteuer in Höhe von 506.856,– € und Nachzahlungszinsen in Höhe von 279.306,– € fest (streitgegenständlich im Verfahren M 10 S 19.995).
Gegen die Gewerbesteuerbescheide legte die Antragstellerin am 24. Oktober 2018 und 26. Oktober 2018 Widersprüche ein, über die noch nicht entschieden wurde.
Hinsichtlich aller dreier Bescheide beantragte die Antragstellerin mit Schriftsätzen vom 11. Dezember 2018 bei der Antragsgegnerin die Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung hinsichtlich der in den im Betreff genannten Bescheiden ausgewiesenen Zinsforderungen in voller Höhe (sowie nicht streitgegenständlich die Herabsetzung der Nachzahlungszinsen nach § 233a AO).
Mit Bescheiden vom 29. Januar 2019 (M 10 S 19.995) und vom 31. Januar 2019 (M 10 S 19.996) lehnte die Antragsgegnerin jeweils die Anträge auf Aussetzung der Vollziehung der Nachzahlungszinsen für die Veranlagungsjahre 2006-2008 bzw. für die Veranlagungsjahre 2004-2008 ab. Die Anträge auf Herabsetzung der Nachzahlungszinsen für die genannten Veranlagungsjahre, was als teilweiser Erlass zu werten sei, wurden abgelehnt.
Mit Schriftsätzen vom 27. Februar 2019 (M 10 S 19.996) und vom 1. März 2019 (M 10 S 19.995) beantragt die Antragstellerin
die Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids für 2004-2008 sowie der Zinsfestsetzung für 2004-2008 vom 16. Oktober 2018,
die Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids für 2004-2007 sowie der Zinsfestsetzung für 2004-2007 vom 22. Oktober 2018,
die Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheids für 2008 sowie der Zinsfestsetzung für 2008 vom 24. Oktober 2018
jeweils in voller Höhe ohne Sicherheitsleistung.
Zur Begründung wird ausgeführt, der Zinssatz gemäß § 238 AO entspreche seit vielen Jahren nicht mehr der Situation auf dem Kapitalmarkt. Die Zinshöhe müsse sich jedoch generell an realitätsgerechten Werten orientieren. Auch der Bundesfinanzhof habe nun diesen Grundsatz in seinem Beschluss vom 25. April 2018 (IX B 21/18) zu einem Verfahren zur Aussetzung der Vollziehung bestätigt. In diesem Beschluss habe der Bundesfinanzhof im Hinblick auf die Zinshöhe für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2015 schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 233a AO in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. In einem weiteren Beschluss vom 3. September 2018 (VIII B 15/18) habe der Bundesfinanzhof die begehrte Aussetzung der Vollziehung nicht nur auf den Zeitraum ab 2015, sondern auch auf die vorangegangenen Zeiträume ab 2012 erstreckt, da die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift für frühere Zeiträume bereits Gegenstand zweier Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sei. Von der Antragsgegnerin zitierte frühere Entscheidungen des Bundesfinanzhofs seien bereits durch Zeitablauf überholt, da es dort um Zinsen für den Zeitraum November 2004 bis März 2011 bzw. August 2006 bis Januar 2012 bzw. Juni 2008 bis Dezember 2011 gegangen sei (Urteile des BFH vom 01.07.2014, IX R 31/13; vom 14.04.2015, IX R 5/14; Beschluss vom 21.10.2015, V B 36/15).
Die Antragsgegnerin beantragt
die Anträge abzuweisen.
Auf die Begründung im Schriftsatz vom 25. März 2019 wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die Verfahren werden entsprechend § 93 Satz 1 VwGO zu gemeinsamer Entscheidung verbunden, da es um jeweils die gleichen Rechtsfragen geht.
2. Bei sachgerechter Auslegung der gestellten Anträge gemäß § 88 VwGO in Verbindung mit § 122 Abs. 1 VwGO ist nach dem erkennbaren Rechtsschutzziel der Antragstellerin davon auszugehen, dass nicht die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuerbescheide sowie der Zinsfestsetzungen begehrt wird – was nach § 80 Abs. 4 VwGO der Behörde zukommt, die den Verwaltungsakt erlassen hat – sondern vielmehr gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der eingelegten Widersprüche gegen die Bescheide beantragt werden soll, da nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben – wie hier der Gewerbesteuer und von Nachzahlungszinsen – die grundlegend nach § 80 Abs. 1 VwGO gegebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage entfällt.
3. Die so verstandenen Anträge nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO sind teilweise nach § 80 Abs. 6 VwGO unzulässig, soweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der eingelegten Widersprüche gegen die Gewerbesteuerfestsetzungen für die Jahre 2004-2007/2008 in den Bescheiden vom 16. und 22. Oktober 2018 und für das Jahr 2008 im Bescheid vom 24. Oktober 2018 begehrt wird.
Gemäß § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO − bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten − der Antrag nach Abs. 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO nur dann nicht, wenn die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat (Nr. 1) oder eine Vollstreckung droht (Nr. 2).
Nach überwiegender Auffassung normiert die Sonderregelung des § 80 Abs. 6 VwGO dabei nicht nur eine bloße Sachentscheidungsvoraussetzung‚ die noch im Laufe des gerichtlichen Eilverfahrens verwirklicht werden könnte‚ sondern eine Zugangsvoraussetzung‚ die nicht nachgeholt werden kann und daher bereits im Zeitpunkt der Antragstellung erfüllt sein muss (BayVGH, B.v. 5.3.2015 – 6 CS 15.369 – juris Rn. 11 m.w.N.; B.v. 16.5.2000 – 6 ZS 00.1065 – juris Rn. 3). Dies wird damit begründet, dass die vom Gesetzgeber verfolgte Zielrichtung – einerseits Vorrang der verwaltungsinternen Kontrolle und andererseits Entlastung der Gerichte – nur zu verwirklichen ist‚ wenn § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO nicht lediglich als im Laufe des gerichtlichen Verfahrens nachholbare Sachentscheidungsvoraussetzung interpretiert wird. Dagegen spricht auch nicht‚ dass ein gerichtlicher Eilantrag wegen Nichtvorliegens der behördlichen Entscheidung als unzulässig abgelehnt wird und es danach im Fall einer Ablehnung des Aussetzungsantrags durch die Behörde noch zu einem zweiten gerichtlichen Aussetzungsverfahren kommen kann. Denn nur eine konsequente Handhabung des § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO bewirkt‚ dass die Vorschrift ernst genommen wird und zu der beabsichtigten Entlastung der Gerichte führt (BayVGH, B.v. 5.3.2015, a.a.O.; vgl. VGH BW‚ B.v. 28.2.2011 – 2 S 107/11 – juris Rn. 3 m.w.N.).
Im vorliegenden Fall kann offenbleiben, ob § 80 Abs. 6 VwGO Sachentscheidungsvoraussetzung oder Zugangsvoraussetzung ist, da die Voraussetzungen des § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO im Entscheidungszeitpunkt nicht vorliegen. Die Bevollmächtigten der Antragstellerin haben bisher keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuerforderungen gestellt.
Die bei der Antragsgegnerin gestellten Aussetzungsanträge jeweils vom 11. Dezember 2018 verlangten ausdrücklich nur die Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung hinsichtlich der in den im Betreff genannten Bescheiden ausgewiesenen Zinsforderungen, nicht aber die Aussetzung der Vollziehung der in den angegriffenen Bescheiden festgesetzten Gewerbesteuerforderungen. Auch die Begründung in den Aussetzungsanträgen betraf ausschließlich die Höhe der Nachzahlungszinsen; der Zinssatz gemäß § 238 AO sei für Zeiträume ab 2012 verfassungswidrig.
Eine Antragstellung nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO war auch nicht gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO entbehrlich. Gem. § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO ist ein behördliches Vorverfahren dann nicht erforderlich, wenn eine Vollstreckung droht.
Von einer drohenden Vollstreckung ist in diesem Zusammenhang auszugehen, wenn eine konkrete Vollstreckungsmaßnahme eingeleitet oder der Beginn der Vollstreckung behördlich angekündigt worden ist; wenigstens müssen aus der Sicht eines objektiven Betrachters konkrete Vorbereitungshandlungen der Behörde für eine alsbaldige Durchsetzung des Bescheids vorliegen (vgl. VGH BW, B.v. 28.2.2011, a.a.O. Rn. 5).
Auch hier kann offenbleiben, ob die Voraussetzung der Entbehrlichkeit des behördlichen Vorverfahrens bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht erfüllt gewesen sein muss, also nicht mehr nachgeholt werden kann (VGH BW, a.a.O. Rn. 6).
Eine Vollstreckung droht im vorliegenden Fall nicht. Der Bevollmächtigte der Antragstellerin hat keinerlei Vollstreckungsbeginn oder konkrete Vorbereitungshandlungen für eine beabsichtigte Vollstreckung vorgetragen.
Die Anträge sind damit teilweise als unzulässig abzulehnen.
4. Die Anträge bleiben im Übrigen, soweit sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der eingelegten Widersprüche gegen die Festsetzung von Nachzahlungszinsen begehren, in der Sache ohne Erfolg.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen von Gesetzes wegen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt auf Antrag eines Betroffenen ganz oder teilweise anordnen. Dabei trifft das Gericht im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Ermessensentscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung, wobei das Gericht das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung gegeneinander abwägt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 80 Rn. 152; Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 89).
Wird die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des Bescheids das private Interesse der Antragstellerin, da kein schutzwürdiges Interesse daran besteht, von dem Vollzug eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben. Nach § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO soll die Anordnung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Abgabenbescheids bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgabenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
a) Gründe dafür, dass die Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids für die Antragstellerin eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
b) Darüber hinaus bestehen nach der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung zumindest keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der festgesetzten Nachzahlungszinsen. Eine Rechtsverletzung der Antragstellerin scheidet daher aus.
aa) Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Nachzahlungszinsen ist § 233a Abs. 5 AO, der über § 1 Abs. 2 Nr. 5, § 3 Abs. 2 AO Anwendung auf Gewerbesteuern findet.
bb) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Festsetzung der Nachzahlungszinsen ergeben sich nicht aufgrund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO, wie sie die Antragstellerin anführt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der die Kammer folgt, ist in einem Eilverfahren, in dem nur eine überschlägige Überprüfung der Sach- und Rechtslage stattfinden kann, grundsätzlich von der Gültigkeit einer Norm auszugehen, wenn nicht ausnahmsweise Gründe, die die Annahme der Nichtigkeit rechtfertigen, offen zu Tage treten (BayVGH, B.v. 30.3.2015 – 20 CS 15.00088 – juris).
Nach Auffassung des Gerichts tritt die vom Bevollmächtigten dargelegte Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für den Verzinsungszeitraum 2014 bis 2018 jedoch nicht offen zu Tage. Das Gericht hat nach summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für diese Jahre, da die Rechtsprechung der Obergerichte zu dieser Frage divergiert, wobei die überwiegende Rechtsprechung von der Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ausgeht.
Zwar begegne nach den Entscheidungen des 8. und 9. Senats des Bundesfinanzhofs vom 25. April 2018 (IX B 21/18 – BeckRS 2018, 001388), vom 3. September 2018 (VIII B 15/18 – BeckRS 2018, 25898) und vom 4. Juli 2019 (VIII B 128/18 – BeckRS 2019, 16880) die Höhe von Nachzahlungszinsen von 0,5% für jeden vollen Monat gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab dem Veranlagungsjahr 2012 verfassungsrechtlichen Zweifeln. Insbesondere bestünden vor dem Hintergrund der Niedrigzinsphase Bedenken, ob die Zinshöhe realitätsgerecht bemessen und damit mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG in Einklang stehe. Darüber hinaus sei zweifelhaft, ob die Zinssatzregelung gegen das Übermaßverbot verstoße. Aufgrund dessen sei Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden zu gewähren.
Aber die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung – insbesondere auch des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 10.8.2017 – 4 ZB 17.279 – BeckRS 2017, 121545 für eine Verzinsung bis Mitte 2014) – hat keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Vorschrift des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Mit Beschluss vom 25. Oktober 2018 befand beispielsweise das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, dass die Verzinsung für den Zeitraum vom 1. April 2017 bis zum 9. Juli 2018 nicht überwiegend wahrscheinlich verfassungswidrig sei (14 B 1366/18 – BeckRS 2018, 27298). Insbesondere habe der Bundesfinanzhof bei seiner abweichenden Entscheidung die mögliche Kapitalrendite für Selbstständige und Unternehmer nicht in den Blick genommen.
Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist ebenfalls nicht eindeutig. Der 3. Senat des Bundesfinanzhofs geht in ständiger Rechtsprechung – zuletzt mit Urteil vom 9. November 2017 für den Verzinsungszeitraum 2013 (III R 10/16 – BeckRS 2017, 14267) – davon aus, dass die Höhe der Nachforderungszinsen weder gegen den Gleichheitssatz noch gegen das Übermaßverbot verstoße. Insbesondere habe eine ausführliche Untersuchung der Kreditzinsen ergeben, dass sich diese zwischen 0,15% und 14,7% bewegten, so dass der Zinssatz nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO auch im Jahr 2013 noch innerhalb der Bandbreite realitätsnaher Referenzwerte liege. Zum gleichen Ergebnis kommt auch das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des – nur bedingt vergleichbaren – Verzinsungszeitraums 2001 bis 2006 (B.v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07 – BeckRS 2009, 39175).
Angesichts dieser divergierenden Rechtsprechung, die überwiegend von der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe ausgeht, sind nach Auffassung des Gerichts ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Nachzahlungszinsen für die Verzinsungsjahre bis einschließlich 2018 im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht anzunehmen (vgl. hierzu auch VG München, B.v. 29.4.2019 – M 10 S 19.825; B.v. 2.9.2020 – M 10 S 20.3480 – jeweils juris).
Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht dazu käme, dass die Verzinsung der Gewerbesteuernachforderungen für den streitrelevanten Zeitraum (teilweise) verfassungswidrig wäre, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass das Gesetz rückwirkend für nichtig erklärt würde. Es entspricht vielmehr der regelmäßigen Entscheidungspraxis des Gerichts, dass das Gericht einen bestimmten Zeitpunkt festlegt, ab wann eine Rechtsnorm nicht mehr angewendet werden darf, wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung des Verfassungsverstoßes hat oder wenn die Nachteile des sofortigen Außerkrafttretens der Rechtsnorm größer sind als die Nachteile einer übergangsweisen Weitergeltung. Dies ist gerade bei Steuergesetzen häufiger der Fall, weil die Rechtsgrundlage für die Steuererhebung sonst ganz oder teilweise wegfiele. In der Übergangszeit kann der Gesetzgeber eine verfassungsgemäße Norm erlassen. In seltenen Fällen legt das Bundesverfassungsgericht selbst Übergangsbestimmungen fest.
Vorliegend würde eine Entscheidung mit Rückwirkung dazu führen, dass Nachzahlungszinsen nicht mehr erhoben werden dürften. Es bestünde die Gefahr, dass viele Gemeinden nicht unerhebliche Einnahmeausfälle hinnehmen müssten. Zudem drohte ein erhöhter Verwaltungsaufwand, wenn noch nicht bestandskräftige Bescheide aufgehoben oder geändert und rückabgewickelt werden müssen (vgl. insofern zur Grundsteuer: BVerfG, U.v. 10.4.2018 – 1 BvL 11/14 – juris).
cc) Die Berechnung der Zinsen auf der Grundlage von § 233a Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 AO i.V.m. § 238 AO begegnet keinen rechtlichen Bedenken; sie wird auch von der Antragstellerin nicht beanstandet.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 3.1 Streitwertkatalog.


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