Steuerrecht

Grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO bei vorsätzlichem Verschweigen eines “Strohfrauverhältnisses”

Aktenzeichen  5 K 1753/15

Datum:
29.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO

 

Leitsatz

Gründe

Finanzgericht Nürnberg
5 K 1753/15
Im Namen des Volkes
Urteil
BFH
In dem Rechtsstreit
A.
Klägerin
Gegen

Beklagter
wegen Einkommensteuer 2010 und Gewerbesteuermessbetrags 2010
hat der 5. Senat des Finanzgerichts Nürnberg aufgrund mündlicher Verhandlung in der Sitzung
vom 29. Juni 2016
für Recht erkannt:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Rechtsmittelbelehrung
Die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil kann durch Beschwerde angefochten werden.
Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Bundesfinanzhof einzulegen. Sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Der Beschwerdeschrift soll eine Abschrift oder Ausfertigung des angefochtenen Urteils beigefügt werden. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Auch die Begründung ist bei dem Bundesfinanzhof einzureichen. In der Begründung muss dargelegt werden, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder dass die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert oder dass ein Verfahrensfehler vorliegt, auf dem das Urteil des Finanzgerichts beruhen kann.
Bei der Einlegung und Begründung der Beschwerde muss sich jeder Beteiligte durch einen Steuerberater, einen Steuerbevollmächtigten, einen Rechtsanwalt, einen niedergelassenen europäischen Rechtsanwalt, einen Wirtschaftsprüfer oder einen vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten vertreten lassen. Zur Vertretung berechtigt sind auch Steuerberatungsgesellschaften, Rechtsanwaltsgesellschaften, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Buchprüfungsgesellschaften sowie Partnerschaftsgesellschaften, die durch einen der in dem vorherigen Satz aufgeführten Berufsangehörigen tätig werden. Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Behörden können sich auch durch Beamte oder Angestellte mit Befähigung zum Richteramt sowie durch Diplomjuristen im höheren Dienst vertreten lassen.
Lässt der Bundesfinanzhof aufgrund der Beschwerde die Revision zu, so wird das Verfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. Der Einlegung einer Revision durch den Beschwerdeführer bedarf es nicht. Innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses des Bundesfinanzhofs über die Zulassung der Revision ist jedoch bei dem Bundesfinanzhof eine Begründung der Revision einzureichen. Die Beteiligten müssen sich auch im Revisionsverfahren nach Maßgabe des dritten Absatzes dieser Belehrung vertreten lassen.
Postanschrift des Finanzgerichts Nürnberg: Deutschherrnstr. 8, 90429 Nürnberg Telefax-Anschluss des Finanzgerichts Nürnberg: 0911/27076-290 Postanschrift des Bundesfinanzhofs: Postfach 860240, 81629 München Hausanschrift des Bundesfinanzhofs: Ismaninger Straße 109, 81675 München Telefax-Anschluss des Bundesfinanzhofs: 089/9231-201
Abkürzungen:
AO (Abgabenordnung), BFH (Bundesfinanzhof), BFH/NV (Sammlung nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH), BStBl (Bundessteuerblatt), EFG (Entscheidungen der Finanzgerichte), EStG (Einkommensteuergesetz), FGO (Finanzgerichtsordnung), GKG (Gerichtskostengesetz), GewStG (Gewerbesteuergesetz), HFR (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung), KStG (Körperschaftsteuergesetz), RVG (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz), UStG (Umsatzsteuergesetz)
Tatbestand
Streitig ist, ob die Festsetzungen der Einkommensteuer und des Gewerbesteuermessbetrages noch gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden können.
Die damals noch ledige Klägerin wurde für das Streitjahr 2010 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt.
Unter ihrem Namen wurde am 01.03.2010 ein Gebäudereinigungsbetrieb mit der Bezeichnung „Z“ angemeldet.
Eine Einkommensteuererklärung für das Jahr 2010 reichte die Klägerin zunächst nicht ein.
Aufgrund von Auffälligkeiten im Bereich der Umsatzsteuer wurde die Klägerin für eine Umsatzsteuersonderprüfung vorgemerkt. Im Rahmen eines Telefonats mit der Prüferin am 09.02.2011 gab die Klägerin an, Schülerin zu sein und eine Ausbildung als Kinderpflegerin zu machen. Da die Klägerin vor Beantwortung von Fragen immer wieder Rücksprache mit anderen Personen hielt, erkundigte sich die Prüferin, ob die Klägerin im Betrieb mitarbeite. Dies verneinte die Klägerin, gab aber an, im Büro tätig zu sein und Rechnungen „usw.“ zu schreiben.
Bei Beginn der Umsatzsteuerprüfung am 01.03.2011 gab ein Herr D, der die Buchhaltung des Betriebes erledigte, an, dass die Klägerin die „kaufmännische Leiterin“ des Betriebs sei. Im Rahmen eines Telefonats am 18.05.2011 gab Herr D an, keine Finanzbuchhaltung erstellen zu können, weil die „Unternehmerin“ keine Unterlagen beibringe.
Im Bericht über die Umsatzsteuersonderprüfung vom 19.05.2011 kam die Prüferin zum Ergebnis, dass die Klägerin Inhaberin und kaufmännische Leiterin der Z sei.
Ein aufgrund leichtfertiger Verkürzung der Umsatzsteuer gegen die Klägerin erlassener Bußgeldbescheid vom 16.03.2012 mit einer Geldbuße i. H. v. 2.500 € wurde rechtskräftig.
Die zuständige Veranlagungsstelle des Finanzamts schätzte daraufhin die gewerblichen Einkünfte auf Grundlage der Umsatzsteuervoranmeldungen für das Jahr 2010 (112.304 €) und der Feststellung des Gewinns im Rahmen der Umsatzsteuersonderprüfung i. H. v. 136.744 € nach den Richtsatzwerten mit 35% der Erlöse auf 47.000 €. Mit Bescheiden jeweils vom 18.05.2012 setzte das Finanzamt die Einkommensteuer auf 8.226 € und den Gewerbesteuermessbetrag auf 787 € fest. Beide Bescheide wurden gemeinsam lt. Zustellungsurkunde am 19.05.2012 um 9:00 Uhr in den zur Wohnung der Klägerin in M gehörenden Briefkasten eingeworfen.
Gegen diese Bescheide legte die Klägerin mit Telefax und Schreiben jeweils vom 20.06.2012 Einspruch ein. Das Finanzamt wies mit Schreiben vom 22.06.2012 die Klägerin darauf hin, dass die Einsprüche nicht fristgerecht eingegangen seien und erläuterte die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die angekündigte Begründung reichte die Klägerin trotz Aufforderung nicht mehr ein. Sie stellte zunächst keinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Mit Einspruchsentscheidungen vom 15.05.2013 bezüglich der Einkommensteuer 2010 und vom 16.05.2013 bezüglich des Gewerbesteuermessbetrags 2010 verwarf das Finanzamt die Einsprüche als unzulässig. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die angefochtenen Bescheide aufgrund der Zustellung mit Postzustellungsurkunde am 19.05.2012 bekanntgegeben worden seien. Die Einspruchsfrist habe daher mit Ablauf des 19.05.2012 begonnen (§ 108 Abs. 1 AO i. V. m. § 187 Abs. 1 BGB) und mit Ablauf des Tages, der datumsmäßig dem Tag der Bekanntgabe entsprochen habe (§ 108 Abs. 1 AO i. V. m. § 188 Abs. 2 und 3 BGB), also mit Ablauf des 19.06.2012 (Dienstag), geendet. Die Einsprüche seien erst am 20.06.2012 und damit verspätet beim Finanzamt eingegangen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätten nicht vorgelegen. Die Einsprüche seien daher als unzulässig zu verwerfen gewesen.
Mit Schreiben vom 06.05.2014 beantragte die Klägerin, den Einkommensteuerbescheid 2010 und den Gewerbesteuermessbescheid 2010 gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern. Die Tatsache „Strohmann“ sei ihr erst im Oktober 2013 bewusst geworden. Dem Finanzamt sei das Strohmannverhältnis hingegen bereits im Jahr 2011 bekannt gewesen.
Das Finanzamt lehnte den Änderungsantrag mit Bescheid vom 13.05.2014 ab, da eine Änderung der Bescheide nach der Abgabenordnung nicht möglich sei.
Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 14.06.2014 Einspruch ein und vertrat die Auffassung, sie treffe als steuerliche Laiin kein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden des Strohmannverhältnisses. Mit E-Mail vom 22.04.2015 und Fax vom 17.06.2015 ergänzte sie, dem Finanzamt sei das Strohmannverhältnis aufgrund der Umsatzsteuersonderprüfung am 09.03.2011 bekannt geworden. Dies ergebe sich aus ihrem Gespräch mit der Prüferin. Die Steuerbescheide für das Jahr 2010 habe ihre Mutter aus der Post aussortiert und ihrem Vater übergeben. Einen den Vorgang betreffenden Bußgeldbescheid habe sie zwar erhalten und ihrem Vater übergeben. Damit sei für sie die Sache erledigt gewesen. Außerdem beantragte die Klägerin am 28.08.2015 Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist bezüglich der Steuerbescheide.
Mit Einspruchsentscheidung vom 28.10.2015 wies das Finanzamt den Einspruch der Klägerin gegen die Ablehnung er Änderung des Einkommensteuerbescheides 2010, des Gewerbesteuermessbescheides 2010 und – hier nicht streitgegenständlich – des Umsatzsteuerbescheides 2010 als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, im Bericht über die Umsatzsteuersonderprüfung vom 19.05.2011 sei die Klägerin als Inhaberin und kaufmännische Leiterin des Gebäudereinigungsbetriebes angesehen worden. Während der Prüfung sei in Gesprächen mit der Klägerin der Eindruck entstanden, dass diese nicht vollständig über die betrieblichen Abläufe informiert gewesen sei. Der Eindruck habe sich jedoch nicht durch greifbare Anzeichen verfestigt. Der Einkommen- und der Gewerbesteuermessbescheid 2010 seien bestandskräftig geworden. Die Bescheide seien mit Zustellungsurkunde wirksam an die Klägerin bekanntgegeben worden. Auf die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Adressaten komme es nicht an. Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist vom 28.08.2015 sei erst mehr als ein Jahr nach Fristablauf gestellt worden, so dass eine Wiedereinsetzung gem. § 110 Abs. 3 AO nicht mehr möglich sei. Eine Änderung gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sei nicht möglich, da die Klägerin grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der neuen Tatsache – hier des „Strohfrauverhältnisses“ – treffe. Die Klägerin habe im Laufe des letzten Jahres mehrfach die Möglichkeit gehabt, die genauen Verhältnisse hinsichtlich des Gebäudereinigungsunternehmens darzustellen. Dennoch habe sie am 19.01.2010 bei der Abgabe eines Vermögensverzeichnisses beim Amtsgericht angegeben, das Unternehmen „Z“ zu betreiben. Auch im Rahmen der Umsatzsteuersonderprüfung habe die Klägerin vorbringen können, nichts mit dem Unternehmen zu tun zu haben und lediglich ihren Namen hergegeben zu haben. Selbst in dem gegen sie durchgeführten Bußgeldverfahren habe sie keinen Anlass gesehen, den wahren Sachverhalt zu offenbaren. Der Bußgeldbescheid (2.500 €) sei am 31.03.2012 rechtskräftig geworden. Die Klägerin habe also mehrere Möglichkeiten gehabt, das Vorliegen eines „Strohfrauverhältnisses“ aufzuklären.
Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 29.11.2015 „Klage unter Beantragung von Prozesskostenhilfe“ – Einkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheid unter Az. 5 K 1753/15, Umsatzsteuer 2010 unter dem Az. 2 K 1752/15 – erhoben. Sie hat zunächst die Änderung des Einkommensteuer- und des Gewerbesteuermessbescheides 2010 dahingehend begehrt, dass keine gewerblichen Einkünfte mehr angesetzt werden. Sie trägt vor, sie sei gemäß ihrer „zweiten Tradition“ von ihrem Vater gezwungen worden, seinen Betrieb auf ihren Namen anzumelden. Ein solches Verhalten sei alltäglich. Als Mädchen nicht zu tun, was der Vater verlange, verstoße gegen die Ehre und Würde des Vaters und führe zur Verstoßung. Eine Kontrolle ihres Vaters durch eine Frau, insbesondere durch ein junges Mädchen, sei nicht vorstellbar und die allerhöchste Verletzung der Ehre und Würde eines Mannes. Erst im Jahr 2013, als sich die Pfändungsmaßnahmen immer verheerender auf ihren Alltag ausgewirkt und die Versprechungen ihres Vaters sich als wertlos erwiesen hätten, habe sie rechtlichen Beistand gesucht. Im Übrigen hat sie das Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren wiederholt.
Nach Ablehnung ihres Prozesskostenhilfeantrags mit Beschluss vom 07.03.2016 und Durchführung eines Anhörungsrügeverfahrens ist die Klägerin nunmehr der Auffassung, Klage nur unter der Bedingung der Gewährung von Prozesskostenhilfe erhoben zu haben. Aus der Tatsache, dass sie einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt habe, sei zu erkennen, dass sie nicht die finanziellen Mittel habe, um einen Prozess ohne Prozesskostenhilfe führen zu können. Sie nehme daher vorsichtshalber die nicht erhobene Klage zurück, jedoch nehme sie diese unter folgender Bedingung nicht zurück: Die öffentliche Moral der Behörde Finanzamt sei nicht ausreichend, um sich an Recht und Gesetz zu halten. Sie wolle außerhalb des Rechtsstreits eine vergleichende Lösung mit dem Finanzamt suchen. Sie wolle daher eine Auskunftsperson mit zur mündlichen Verhandlung bringen, die alle Fragen des Gerichts beantworten solle. Die Auskunftsperson solle allerdings kein Vertreter sein, sondern sich lediglich an der Diskussion beteiligen. Sofern das Gericht ihrem vorstehenden Vortrag zustimme, werde sie zum Termin mit einer Auskunftsperson kommen. Andernfalls gelte die erhobene Klage als zurückgenommen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß entsprechend ihrer Formulierungen ihrer Klageschrift vom 29.11.2015 die Ablehnung des Änderungsantrages vom 13.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.10.2015 aufzuheben. Wegen der Anträge im Einzelnen wird auf die Schriftsätze verwiesen.
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach Ansicht des Finanzamts ist eine Änderung der Steuerbescheide gem. § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO nicht mehr möglich, da der Antrag erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfristen gestellt worden sei. Auch eine Änderung gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sei nicht möglich, da die Klägerin grobes Verschulden treffe. Sie habe Anfang 2010 in ihrem Vermögensverzeichnis ausdrücklich angegeben, Inhaberin des Gebäudereinigungsbetriebs zu sein. Auch im Rahmen der Umsatzsteuersonderprüfung habe sie die wahren Verhältnisse nicht offenbart.
Im Übrigen wird auf den Inhalt der im Laufe des Klageverfahrens eingereichten Schriftsätze und die dem Gericht vorliegenden Einkommensteuer-, Umsatzsteuer-, Rechtsbehelfs- und Klageakte des Finanzamts Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
I.
Der Termin war nicht auf den am 28.06.2016 um 21:00 Uhr von der Klägerin gestellten Antrag hin zu verlegen. Als Grund hat sie benannt, dass sie vom Gericht zu spät auf die Möglichkeit hingewiesen worden sei, einen Beistand gem. § 62 Abs. 7 FGO zur mündlichen Verhandlung mitzubringen. Zugleich betont sie jedoch, gerade keinen Beistand, sondern nur eine „Auskunftsperson“ mitbringen zu wollen. Hintergrund ist offenbar, dass der für die Klägerin tätige Herr L befürchtet, bei einem Auftreten als Beistand wegen unerlaubter Hilfe in Steuersachen belangt zu werden. Das Tätigwerden des Herrn L ergibt sich aus von ihm abgesandten Telefaxen und seiner Unterschrift als angeblicher Zeuge für die Echtheit einer Unterschrift der Mutter der Klägerin auf einer eidesstattlichen Erklärung (Bl. 89 der Finanzamtsakte). Es ist jedoch Sache der Klägerin, sich beizeiten zu überlegen, ob sie sich rechtskundiger Hilfe bedienen will. Hierfür war seit der Ladung, die der Klägerin lt. Zustellungsurkunde am 12.05.2016 zugestellt worden ist, ausreichend Zeit. Ein Anlass für eine Terminverlegung ergibt sich, zumal es sich um einen „in letzter Minute“ gestellten Antrag handelt, daher nicht.
II.
Die Klage ist wirksam erhoben und nicht zurückgenommen worden.
1. Die Klage ist nicht unter der Bedingung der Gewährung, sondern unter Beantragung von Prozesskostenhilfe erhoben worden. Ein isolierter Antrag auf Prozesskostenhilfe hätte als solcher gekennzeichnet werden müssen. Stattdessen hat die Klägerin die Klageschrift unterschrieben und bei Gericht eingereicht. Der Zusatz „unter Beantragung von Prozesskostenhilfe“ ist lediglich als Hinweis auf den zeitgleich gesondert gestellten Antrag auf Prozesskostenhilfe zu verstehen.
2. Die Klage ist nicht zurückgenommen worden. Eine Klagerücknahme ist als Prozesserklärung bedingungsfeindlich. Die von der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 17.05.2016 formulierten Einschränkungen der Klagerücknahme lassen über deren Ernsthaftigkeit Zweifel aufkommen. Die Möglichkeit, einen Beistand zur mündlichen Verhandlung mitzubringen, ist in § 62 Abs. 7 Satz 3 FGO vorgesehen. Es bleibt unklar, ob die Klägerin vor diesem Hintergrund wirklich ihre Klage zurückziehen wollte. Daher ist das Klageverfahren noch nicht abgeschlossen.
III.
Der Einkommensteuerbescheid 2010 und der Gewerbesteuermessbescheid 2010 jeweils vom 18.05.2012 sind bestandskräftig.
1. Sie sind der Klägerin wirksam mit Zustellungsurkunde durch Einwurf in den Briefkasten bekanntgegeben worden.
Unter Zugang i. S. d. § 122 Abs. 2 AO wird nicht nur die tatsächliche Kenntnisnahme verstanden. Vielmehr ist ein Schriftstück schon dann zugegangen, wenn es derart in den Machtbereich des Empfängers (Inhaltsadressaten) gelangt ist, dass er unter Ausschluss unbefugter Dritter von dem Schriftstück Kenntnis nehmen und diese Kenntnisnahme nach allgemeinen Gepflogenheiten auch erwartet werden kann (ständige Rechtsprechung, z. B. BFH-Urteile vom 05.12.1974 V R 111/74, BFHE 114, 176, BStBl II 1975, 286; vom 13.10.1994 IV R 100/93, BFHE 176, 510, BStBl II 1995, 484, m. w. N.). Im Fall der Zustellung mit Zustellungsurkunde ist der Zugang mit Einwurf in den Briefkasten erfolgt (§ 3 VwZG).
Bei bis 18 Uhr eingeworfenen Briefen ist jedenfalls mit Kenntnisnahme noch am selben Tag zu rechnen (Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 15.10.1992 Vf. 117-VI-91, BayVBl 1993, 764; Ellenberger in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 130 Rn. 6). Im vorliegenden Fall ist die Zustellung am 19.05.2012 um 9:00 Uhr erfolgt, so dass mit einer Kenntnisnahme durch die Klägerin noch am selben Tag zu rechnen war. Die Bescheide sind daher an diesem Tag wirksam bekanntgegeben worden.
2. Der nachträgliche Verlust einer in den Machtbereich gelangten Postsendung fällt in die Risikosphäre des Adressaten und macht die bereits eingetretene Bekanntgabe nicht ungeschehen (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rn. 11). Ein eventuelles Aussortieren ihrer Post durch die Mutter hindert die Wirksamkeit der Bekanntgabe nicht, da es sich um einen in die Risikosphäre der Klägerin fallenden Umstand handelt.
Mit Ablauf der Einspruchsfrist sind die Bescheide bestandskräftig geworden. Das Finanzamt hat die verspätet eingelegten Einsprüche der Klägerin zutreffend als unzulässig verworfen. Die Einspruchsentscheidungen vom 15. bzw. 16.05.2013 hat die Klägerin auch nicht angefochten.
IV.
Eine Änderung der Bescheide ist nicht mehr möglich.
1. Eine Änderung gem. § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO ist wegen Stellung des Änderungsantrags nach Ablauf der Einspruchsfristen nicht mehr möglich.
2. Gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Tatsache im Sinne der Vorschrift ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art, nicht dagegen Schlussfolgerungen, insbesondere juristische Subsumtionen (BFH-Urteil vom 02.08.1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264).
a) Grobes Verschulden setzt Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Letztere ist bei einer ungewöhnlichen und nicht entschuldbaren Verletzung der zumutbaren Sorgfalt gegeben. Sie kommt zwar auch bei unzutreffenden oder unvollständigen Angaben in den Steuererklärungen in Betracht (BFH-Urteil vom 12.05.1989 III R 200/85, BFHE 157, 22, BStBl II 1989, 920); dabei ist grundsätzlich unerheblich, ob auch das Finanzamt seine Ermittlungspflicht verletzt hat (BFH-Urteile vom 13.06.1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789; vom 05.12.1990 I R 21/88, BFH/NV 1991, 785). Ein grobes Verschulden hat die Rechtsprechung ferner für möglich erachtet, wenn es der Steuerpflichtige versäumt hat, den Sachverhalt dem Finanzamt noch im Rahmen eines Einspruchs zu unterbreiten (BFH-Urteil vom 02.08.1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, m. w. N.).
b) Im vorliegenden Fall besteht nach diesen Grundsätzen keine Änderungsmöglichkeit.
aa) Selbst wenn die Annahme der Klägerin, dass dem Finanzamt das „Strohfrauverhältnis“ bereits im Jahr 2010, also vor Erlass der angefochtenen Steuerbescheide, bekannt gewesen wäre, zuträfe, läge keine neue, also dem Finanzamt bei Erlass der Bescheide nicht bekannte Tatsache vor. Maßgeblich ist jedoch die Kenntnis der Veranlagungsstelle, die den Einnkommensteuer- und Gewerbesteuermessbescheid 2010 erlassen hat. Diese musste nach dem Bericht über die Umsatzsteuersonderprüfung davon ausgehen, dass die Klägerin die Inhaberin des Gebäudereinigungsbetriebs war.
bb) Wenn es sich, wovon der Senat überzeugt ist, bei dem „Strohfrauverhältnis“ jedoch um eine dem Finanzamt verschwiegene und damit unbekannte Tatsache gehandelt hat, trifft die Klägerin grobes Verschulden an dessen verspätetem Bekanntwerden. Die Klägerin hat nach Überzeugung des Senats sowohl Anfang 2010 in ihrem Vermögensverzeichnis vor dem Amtsgericht als auch im Telefonat mit der Außenprüferin am 09.02.2011 den wahren Sachverhalt vorsätzlich verschwiegen und vorgetäuscht, selbst Gewerbetreibende zu sein. Die von der Klägerin gegenüber der Prüferin aufgestellte Behauptung, im Büro zu arbeiten und Rechnungen zu schreiben, wurde von dem für die Buchhaltung zuständigen Herrn D gegenüber der Prüferin bestätigt. Eine Verpflichtung des Finanzamts, weitere Aufklärungsmaßnahmen zu treffen, um die Wahrheit der Angaben der Klägerin zu widerlegen und die Klägerin vor sich selbst zu schützen, bestand vor diesem Hintergrund nicht. Selbst der Bußgeldbescheid, den erhalten und mit ihrem Vater besprochen zu haben die Klägerin einräumt, hat sie nicht veranlasst, gegenüber dem Finanzamt den wahren Sachverhalt offenzulegen.
Die Klägerin war gem. § 90 Abs. 1 Satz 2 AO verpflichtet, die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offen zu legen. Der familiären Tradition geschuldete Vorstellungen von „Ehre und Würde des Mannes“ befreien nicht von der Einhaltung der geltenden Gesetze. Für das Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen im Geltungsbereich der deutschen Rechtsordnung ist deren Einhaltung – unabhängig von den jeweiligen kulturellen oder religiösen Traditionen der hier lebenden Menschen – unabdingbare Voraussetzung. Eine Befreiung von der Einhaltung der deutschen Rechtsnormen oder auch nur eine Auslegung unter Berücksichtigung einer angeblichen Zwangslage aufgrund kultureller oder religiöser Prägung verbietet sich von vornherein. „Strohmannverhältnisse“ aus familiärer Solidarität kommen auch in Familien ohne Migrationshintergrund vor. Die steuerlichen Folgen hat der „Strohmann“, der den wahren Sachverhalt vorsätzlich verschweigt, zu tragen.
Nach Überzeugung des Senats hat die Klägerin bewusst ihren Namen zur Verfügung gestellt, damit ihr Vater, dem es selbst offenbar an der erforderlichen Zuverlässigkeit für die Erteilung einer Gewerbeerlaubnis fehlte, den Betrieb führen konnte. Sie musste daher mit dem Ergehen von an sie adressierten Steuerbescheiden rechnen. Das Risiko, von ihrem Vater nicht vollständig informiert zu werden, hat sie sehenden Auges in Kauf genommen. Spätestens, als die Klägerin von dem Bußgeldbescheid wegen leichtfertiger Steuerverkürzung Kenntnis erhielt und dennoch das „Strohfrauverhältnis“ verschwieg, hat die Klägerin daher vorsätzlich gehandelt. Die Bescheide, deren Änderung begehrt, sind erst aufgrund der Rechtskraft des Bußgeldbescheides erlassen worden. Das Verschulden der Klägerin hat daher unmittelbar zum erst nachträglichen Bekanntwerden geführt.
Eine Änderung gem. § 173 Abs. 1 1 Nr. 2 AO ist daher nicht mehr möglich.
Die Klage war daher als unbegründet abzuweisen.
V.
Die Kosten des Verfahrens hat gem. § 135 Abs. 1 FGO die unterlegene Klägerin zu tragen.


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