Steuerrecht

Umsatzsteuer 2010 – abweichende Festsetzung der Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen sowie Erlass der Zinsen zur Umsatzsteuer 2010

Aktenzeichen  2 K 1687/18

Datum:
27.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 46232
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
AO § 233a
UStG § 14, § 14c, § 17, § 25c
ERVV § 4 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Unter Abänderung des Umsatzsteuerbescheids 2010 vom 04.11.2014 wird die Umsatzsteuer 2010 um 2.545,59 € auf 715.094,41 € herabgesetzt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Klage ist zulässig, da der Klägerin Wiedereinsetzung in die bereits abgelaufene Klagefrist zu gewähren war.
1. Zwar hat die Klägerin ihre Klage im Verfahren 2 K 483/18 nicht innerhalb der bis 20.04.2018 laufenden Frist des § 47 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) form- und fristgerecht begründet. Die innerhalb der Frist am 18.04.2018 elektronisch beim Finanzgericht eingegangene Klageschrift war nicht in zulässiger Weise qualifiziert elektronisch signiert. Die nachgereichte schriftliche Klage ging erst am 23.04.2018 und damit nach Ablauf der Klagefrist am 20.04.2018 bei Gericht ein.
a) Nach § 64 Abs. 1 FGO ist eine Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (§ 47 Abs. 1 FGO) bei dem Gericht schriftlich zu erheben. Sie kann nach Maßgabe des § 52a auch als elektronisches Dokument bei Gericht eingereicht werden (§ 52a Abs. 1 FGO). Die Bundesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung die für die Übermittlung und Bearbeitung geeigneten technischen Rahmenbedingungen (§ 52a Abs. 2 FGO). Diese sind geregelt in der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach vom 24.11.2017 (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV, BGBl. I S. 3803; geändert durch Verordnung vom 09.02.2018, BGBl. I S. 200), die nach § 10 Abs. 1 ERVV zum 01.01.2018 in Kraft getreten ist. Das elektronische Dokument muss zudem mit einer qualifiziert elektronischen Signatur (nachfolgend „qeS“) der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person (einfach) signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (§ 52a Abs. 3 und 4 FGO). Ein mit einer qeS versehenes Dokument darf lediglich auf einem sicheren Übermittlungsweg oder an das EGVP übermittelt werden (§ 4 Abs. 1 ERVV). Mehrere elektronische Dokumente dürfen hingegen nicht mit einer gemeinsamen qeS übermittelt werden (§ 4 Abs. 2 ERVV).
b) Diesen rechtlichen Vorgaben wird die am 18. April 2018 beim Finanzgericht eingegangene Klage nicht gerecht, weil die nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg im Sinne von §§ 52a Abs. 3 und 4 FGO, 4 Abs. 1 Nr. 1 ERVV, sondern an das EGVP übermittelte Klageschrift nicht mit der erforderlichen qeS versehen ist. Die von den Prozessbevollmächtigten der Klägerin verwendete sog. Container-Signatur, die sich auf den mehrere Dateien umfassenden Nachrichtencontainer bezieht und in der Papierwelt einer Unterschrift auf der Rückseite eines verschlossenen Briefumschlags entspricht (vgl. Bacher NJW 2015, 2753, 2754), ist nicht ausreichend. Wegen der in §§ 52a Abs. 3, Abs. 2 Satz 2 ZPO, 4 Abs. 2 ERVV getroffenen Regelung ist eine Container-Signatur nicht mehr zulässig (vgl. entsprechend zu §§ 130a ZPO, 65a SGG, 46c ArbGG und 55a VwGO: BGH-Beschluss vom 15.5.2019 XII ZB 573/18, NJW 2019, 2230; BSG-Beschluss vom 20.3.2019, B 1 KR 7/18 B, NJW 2018, 2222; BVerwG-Beschluss vom 7.9.2018, 2 WDB 3/18, NVwZ 2018, 188; BAG-Beschluss vom 15.08.2018 – 2 AZN 269/18. NZA 2018, 1214; Schmieszek in: Gosch, AO/FGO, Stand 04/2020, § 52a FGO Rn. 18; Stapperfend in Gräber, FGO, 9. Aufl. 2019, § 52a Rn. 11; Trossen, DStZ 2018, 714, 717).
2. Der Klägerin war dennoch nach § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Klagefrist zu gewähren, da sie ihre Klage auch schriftlich übersandt hat und ihr die verzögerte Postlaufzeit nicht zuzurechnen ist.
Die Wiedereinsetzung in die Klagefrist ist aufgrund der am 19.04.2018 nachgereichten und bei Gericht am 23.04.2018 eingegangenen schriftlichen Klage zu gewähren. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben die Klageschrift am 19.04.2018 erneut ausgedruckt, unterzeichnet und nach ihren glaubhaften Angaben am 19.04.2018 (Donnerstag, Werktag), also einen Tag vor Ablauf der Klagefrist am 20.04.2018 zur Post gegeben, so dass nach Überzeugung des Senats mit einem fristgerechten Zugang einen Tag später zu rechnen war. Ausweislich des Umschlags erfolgte der Versand der zweiten Klageschrift zwar nicht per Post, sondern per Citymail, also einem privaten Zustellunternehmen. Auch in diesen Fällen kann sich die Klägerin aber auf die üblichen Postlaufzeiten berufen, zumal keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich sind, dass vorliegend mit längeren Postlaufzeiten zu rechnen war (vgl. BFH-Urteil vom 28.10.2008 VIII R 36/04, BFHE 223, 166, BStBl II 2009, 190; BGH-Beschluss vom 23.01.2008 XII ZB 155/07, juris; Stapperfend in Gräber, FGO, § 56 Rn. 67). Die Prozessbevollmächtigten trifft insoweit kein Verschulden. Der Wiedereinsetzungsantrag erfolgte am 02.05.2018 und damit innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO.
II.
Die Klage ist im Hauptantrag unbegründet, da die Klägerin durch den angegriffenen Bescheid in ihren Rechten nicht verletzt ist, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Das Finanzamt hat den Vorsteuerabzug aus den Gutschriften zu Recht versagt, weil diese nach dem Widerruf durch die Lieferanten H und S nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen.
1. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des für das Streitjahr 2010 maßgebenden Umsatzsteuergesetzes (UStG) kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, dann als Vorsteuer abziehen, wenn er eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt.
Die Rechnung kann nach § 14 Abs. 2 Satz 2 UStG für eine Lieferung oder sonstige Leistung auch von einem Leistungsempfänger, der Unternehmer ist, im sog. Gutschriftverfahren ausgestellt werden, sofern dies vorher vereinbart wurde. Nach § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG verliert die Gutschrift die Wirkung einer Rechnung, sobald der Empfänger der Gutschrift dem ihm übermittelten Dokument widerspricht.
2. § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG stellt dem Wortlaut nach allein auf die Tatsache des Widerspruchs im Sinne einer wirksamen Willenserklärung ab und nicht darauf, ob die Gutschrift den zivilrechtlichen Vereinbarungen entspricht und ob sie die Umsatzsteuer zutreffend ausweist. Eine Beschränkung des Widerspruchsrechts für solche Fälle bedürfte der gesetzlichen Regelung. Es ist Sache der am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer, sich über die Frage der Richtigkeit der Gutschrift auseinanderzusetzen und ggf. eine neue Abrechnung, sei es durch Gutschrift oder Rechnung, herbeizuführen. Aus einer Gutschrift, die ihre Wirkung als Rechnung verloren hat, kann kein Recht zum Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG begründet werden (vgl. BFH-Urteil vom 19.05.1993 V R 110/88, BFHE 172, 163, BStBl II 1993, 779, Rn. 27; BFH-Urteil vom 23.01.2013 XI R 25/11, BFHE 239, 547, BStBl II 2013, 417, Rn. 21; offen gelassen im BFH-Urteil vom 25.04.2013 V R 2/13, BStBl II 2013, 844, Rn. 28).
§ 14 Abs. 2 Satz 2 UStG setzt weiter voraus, dass die Ausstellung der Rechnung durch den Leistungsempfänger „vorher vereinbart wurde“. Damit wird Art. 224 Mehrwerteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) umgesetzt, der eine „vorherige Vereinbarung“ sowie ein „Verfahren zur Akzeptierung“ durch den liefernden Steuerpflichtigen verlangt.
Für die vorherige Vereinbarung schreibt das nationale Recht keine Form vor. Sie kann schriftlich oder mündlich zustande kommen. Die vorherige Vereinbarung kann auch in der stillschweigenden Entgegennahme der Gutschrift zum Ausdruck kommen, insbesondere bei bestehenden Geschäftsverbindungen zwischen den Beteiligten (vgl. Leipold in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 14 Rn. 178, Stand 10/2017).
Der Widerspruch ist eine einseitig zugangsbedürftige Erklärung und wird mit dem Zugang beim Gutschriftaussteller wirksam (Leipold in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 14 Rn. 201, Stand 10/2017). Er ist an keine bestimmte Form und Frist gebunden (vgl. Korn in Bunjes, UStG, 18. Aufl. 2019, § 14 Rn. 61).
3. Nach diesen Grundsätzen hat das Finanzamt den Vorsteuerabzug der Klägerin zu Recht versagt. Infolge der Widersprüche vom 19.09.2010 und 10.11.2010 gegen sämtliche von der Klägerin erteilten Gutschriften haben diese ihre Wirkung als Rechnung verloren und können daher kein Recht zum Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG begründen.
a) Die Klägerin hat im Streitfall mit den Lieferanten zumindest in schlüssiger Weise die Abrechnung per Gutschrift vorher vereinbart. Denn die Lieferanten haben die streitgegenständlichen Gutschriften zunächst akzeptiert und der Bezahlung durch die Klägerin nicht widersprochen. Lieferant H ließ noch offene Forderungen aus den Gutschriften sogar mit Anwaltsschreiben vom 03.08.2010 geltend machen.
b) Die Lieferanten S und H haben allen ihnen zuvor übermittelten Gutschriften mit Schreiben vom 19.09.2010 bzw. 10.11.2010 wirksam nach § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG widersprochen. So legte S gegen „Ihre Ankaufsrechnungen“ schriftlich Widerspruch ein und übermittelte hierzu jeweils berichtigte Rechnungen. Der Lieferant H listete in seinem Schreiben vom 19.09.2010 ebenfalls alle bisher von der Klägerin erhaltenen Ankaufsrechnungen auf und widersprach diesen „vollständig“.
Dass sich in den Akten zwei von verschiedenen Personen unterzeichnete Widerspruchsschreiben des Lieferanten H befinden, steht deren Wirksamkeit nicht entgegen, da die Erklärung auch formfrei erfolgen könnte. Beide Versionen vom 19.09.2010 bzw. 20.09.2010 enthalten die jeweilige Anschrift des Lieferanten H und verweisen zugleich auf die zehn von der Klägerin im Monat Juli 2010 erteilten Gutschriften, so dass die Erklärung zweifelsfrei dem Lieferanten H zuzurechnen ist.
Die Widerrufserklärungen sind der Klägerin als ursprünglicher Erstellerin der Gutschriften auch wirksam zugegangen. Die mit Wirkung vom 13.08.2010 erfolgten Umwandlungsmaßnahmen stehen dem nicht entgegen. Denn eine verkörperte einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung unter Abwesenden ist gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB zugegangen, sobald sie nach der Verkehrsanschauung derart in den Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass bei Annahme gewöhnlicher Verhältnisse damit zu rechnen ist, er könne von ihrem Inhalt Kenntnis erlangen (vgl. BGH-Urteil vom 11.04.2002 I ZR 306/99, NJW 2002, 2391, Rn. 17).
Die jeweiligen Widerrufserklärungen vom 19.09.2010 bzw. 10.11.2010 ergingen zwar erst nach diesem Zeitpunkt. Sie waren jedoch beide an die X-AG als Ausstellerin der Gutschrift adressiert und gelangten auch unstrittig derart in den Machtbereich der Klägerin, dass diese davon Kenntnis nehmen konnte und dies auch getan hat. Dass die Klägerin die Widerrufserklärungen intern der ab 13.08.2010 für den Geschäftsbereich Edelmetalle zuständigen X-GmbH zuordnete, vermag daran nichts zu ändern. Auch aus Sicht der Klägerin als Empfängerin ergibt sich für den Senat, dass die beiden Widerrufserklärungen die vor dem 13.08.2010 von der X-AG ausgestellten Gutschriften erfassen sollte. Die Widerrufe betreffen zudem jeweils diejenigen Ankaufsrechnungen, aus denen die Klägerin in ihrer Umsatzsteuererklärung 2010 vom 25.07.2011 auch die Vorsteuer beansprucht. Die Klägerin verhält sich widersprüchlich, wenn sie zum einen die Vorsteuer aus den Gutschriften beansprucht, zugleich aber die noch im Besteuerungszeitraum 2010 erfolgten Widersprüche hiergegen nicht gegen sich gelten lassen will.
Entgegen der Ansicht der Klägerin kommt es auch nicht darauf an, ob die zivilrechtlichen Vertragsverhältnisse mit den Lieferanten S und H im Zuge der Ausgliederung zur Aufnahme auf die X-GmbH übergegangen und die Widerrufe daher bei der Umsatzsteuerfestsetzung der X-GmbH zu berücksichtigten sind. Denn nach der Rechtsprechung des BFH tritt bei der Ausgliederung eines Geschäftsbetriebs der übernehmende Rechtsträger nicht in das steuerrechtliche Schuldverhältnis des fortbestehenden Rechtsträgers ein; dieses verbleibt beim fortbestehenden übertragenden Rechtsträger (so für die Gewerbesteuer BFH-Urteil vom 23.03.2005 III R 20/03, BFHE 209, 29, BStBl II 2006, 432, Rn. 15; BFH-Urteil vom 07.08.2002 I R 99/00, BFHE 199, 489, BStBl II 2003, 835, Rn. 17f.).
c) Auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob die erfolgten Widersprüche gegen die Gutschrift erst mit ihrem Zugang bei der übernehmenden X-GmbH (ex nunc) oder rückwirkend, also ab Ausstellung der Gutschrift (ex tunc) durch die übertragenden X-AG wirksam wurden, kommt es daher nach Auffassung des Senats nicht an.
Soweit die Klägerin hierzu auch auf die bisherige Rechtsprechung des BFH verweist (BFH-Urteil vom 19.5.1993 VR 110/88, BStBl II 1993,779), ist zu beachten, dass diese noch zur Fassung des § 14 Abs. 5 Satz 4 UStG 1980 erging („Die Gutschrift verliert die Wirkung einer Rechnung, soweit der Empfänger dem in ihr enthaltenen Steuerausweis widerspricht“) und daher nicht mehr auf die seit 2004 geltende Regelung in § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG übertragen werden kann („Die Gutschrift verliert die Wirkung einer Rechnung, sobald der Empfänger … dem ihm übermittelten Dokument widerspricht.“). Denn danach betrifft der Widerspruch nunmehr das gesamte Gutschriftendokument und nicht wie noch in der alten Gesetzesfassung nur den Steuerausweis. Materiellrechtlich sieht das Umsatzsteuergesetz eine zeitlich begrenzte Wirkung der Gutschrift als Rechnung (bis zum Widerspruch) nicht vor. Denn der Widerspruch soll gerade die Rechnungswirkung insgesamt beseitigen. Insofern fehlt es im geltenden Recht an einer Entsprechung zur Berichtigungsregel für den Steuerbetrag gemäß § 14c Absatz 1 Satz 2, Abs. 2 i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 7 UStG. (vgl. Leipold in Sölch/Ringleb, UStG, § 14 Rn. 201 ff, Stand 10/2017).
Auf den Zeitpunkt des Wirksamwerdens der erfolgten Widerrufe kommt es vorliegend auch deshalb nicht an, weil diese wie auch die Gutschriften jeweils noch in demselben Besteuerungszeitraum 2010 erfolgten.
d) Da die Klägerin infolge der ihr zugegangenen Widersprüche über keine ordnungsgemäße Rechnung mehr verfügt, ist der Vorsteuerabzug nicht zulässig (BFH-Urteil vom 23.01.2013 XI R 25/11, BFHE 239, 547, BStBl II 2013, 417). Soweit die Klägerin auf die in der Literatur geäußerte Kritik gegen das Urteil des BFH verweist, wonach § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG im Wege teleologischer Auslegung nur für den Fall einer unrichtigen Gutschrift gelten solle und ein Widerspruch gegen eine zutreffende Gutschrift deshalb keine Wirkung habe (Hummels, UR 2012, 497; Stadie, UStG, § 14 Rn. 259 ff. Stand 05/2018; zustimmend Korn in Bunjes, UStG, § 14 Rn. 60; zweifelnd auch Leipold in Sölch/Ringleb, § 14 Rn. 196 „unionsrechtliche Klärung geboten“; Weymüller in Weymüller, UStG, § 14 Rn. 217 ff; Neeser in Wäger, UStG, § 14 Rn. 59; offen gelassen von BFH im Urteil vom 25.04.2013 V R 2/13, BStBl II 2013, 844 Rn. 28), ist der BFH dieser Auffassung in seinem Urteil vom 23.01.2013 XI R 25/11, BFHE 239, 547, BStBl II 2013, 417 ausdrücklich nicht gefolgt. Der Senat hält diese Rechtsprechung weiterhin für zutreffend. Denn der Neufassung des § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG ab 1.1.2004 ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber das Widerspruchsrecht beschränken wollte. Zudem widerspräche die Literaturmeinung dem Zweck des § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG, der nicht nur im Interesse des Gutschriftempfängers (Schutz vor den Folgen des § 14c UStG), sondern auch im Interesse des Steuergläubigers ist. Denn dann hätte die Finanzverwaltung zu entscheiden, welche der zivilrechtlich begründeten Auffassungen der Vertragsparteien die zutreffende ist (so auch Hundt-Eßwein in Offerhaus/Söhn/Lange, UStG, § 14 Rn. 54 Stand 7/2019; Widmann in Schwarz/Radeisen/Widmann, UStG, § 14 Rn. 54a; Kraeusel, UR 2013, 605; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.09.2018 2 K 2084/16, Rn. 65).
e) Diese Auffassung des Senats steht auch im Einklang mit dem BFH-Urteil vom 10.12.2009 (XI R 7/08, HFR 2010, 749) hinsichtlich der Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung für die Lieferung von Anlagegold nach § 25c Abs. 3 Satz 2 UStG. Auch in diesem Fall wird die in den ursprünglich ausgestellten Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer von den Lieferanten nicht mehr geschuldet, so dass insoweit ein Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG zu versagen ist.
Macht der leistende Unternehmer danach den Verzicht auf die Steuerbefreiung rückgängig, so verliert der Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug rückwirkend im Jahr des Leistungsbezugs und nicht erst im Zeitpunkt der Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung (im Zeitpunkt der Rechnungsberichtigung). § 14c Abs. 1 Satz 2, § 17 Abs. 1 UStG finden insoweit keine Anwendung (BFH-Urteil vom 10.12.2009 XI R 7/08, HFR 2010, 749; zustimmend Widmann in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 25c Rn. 35; Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, UStG, § 25c Rn. 44 Stand jeweils 06/2018). Die Rückgängigmachung des Verzichts hat Tatbestandswirkung für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers und ist deshalb ein rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Dies gilt auch dann, wenn der leistende Unternehmer dem Leistungsempfänger gegenüber verpflichtet war, den an sich steuerfreien Umsatz gemäß § 25c Abs. 3 UStG als steuerpflichtig zu behandeln. Der Übergang zur Behandlung als wieder steuerfrei ist nicht von der Zustimmung des Leistungsempfängers abhängig und die zivilrechtliche Befugnis zur Rechnungsberichtigung ist umsatzsteuerrechtlich grundsätzlich nicht zu prüfen.
Nach Auffassung des Senats können die im Streitfall ausgesprochenen Widerrufserklärungen auch als Rückgängigmachung des Verzichts auf die Steuerbefreiung nach § 25c Abs. 3 UStG ausgelegt werden. Damit entfällt wie auch beim Widerruf der Gutschrift nach § 14 Abs. 2 Satz 3 UStG rückwirkend der Vorsteuerabzug der Klägerin. Zwar bezieht sich das Urteil des BFH IX R 7/08 nur auf eine Berichtigung einer Rechnung durch den Rechnungsersteller, während es vorliegend um die Berichtigung einer Gutschrift geht. Da aber auch im Rahmen einer Berichtigung nach § 14c Abs. 1 UStG für eine wirksame Berichtigung eine zusammenfassende Korrekturmitteilung des Leistenden gegenüber dem Leistungsempfänger dahingehend genügt, dass der ursprüngliche Steuerausweis nicht mehr wirksam sein soll, kann vorliegend nichts anders gelten (vgl. BFH-Urteil vom 10.12.1992 V R 73/90, BFHE 170, 475, BStBl II 1993, 383, unter II.1.b, Rz 13, BFH, Urteil vom 12.10.2016 XI R 43/14, BFHE 255, 474, Rn. 23 ff).
Die Klage war aus diesen Gründen im Hauptantrag abzuweisen.
III.
Die Klage ist im ersten Hilfsantrag insoweit begründet, als der Lieferant S an das für ihn zuständige Finanzamt 2.545,59 € für die an die Klägerin ausgeführten Lieferungen bezahlt hat, so dass die Umsatzsteuer 2010 um diesen Betrag herabzusetzen ist. Im Übrigen ist die Klage abzuweisen.
1. Liegen die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug wegen des wirksamen Widerrufs der Gutschriften nicht vor, kann im Billigkeitsverfahren (§ 163 AO) ausnahmsweise nach dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes ein Vorsteuerabzug in Betracht kommen.
Nach dem BFH ist Vertrauensschutz zwar nicht im Rahmen des Festsetzungsverfahrens, sondern in einem gesonderten Billigkeitsverfahren (§§ 163,227 AO) zu prüfen (Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rn. 78). Die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme kann aber gemäß § 163 Abs. 2 AO mit der Steuerfestsetzung verbunden werden, wenn der Steuerpflichtige Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes im Festsetzungsverfahrens geltend macht (BFH-Urteil vom 22.7.2015 V R 23/14, BStBl II 2015, 914, Rn. 32; Oelmaier, aaO.). Die Entscheidung nach § 163 AO ist zwar grundsätzlich eine Ermessensentscheidung, die im finanzgerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfbar ist (§ 102 FGO). Erfordern unionsrechtliche Regelungen eine Billigkeitsmaßnahme, ist das in § 163 AO eingeräumte Ermessen des Finanzamts aber auf null reduziert (BFH-Urteil vom 30.04.2009 V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl II 2009, 744, Rn. 48 m.w.N.).
2. Nach Auffassung des Senats ist der Klägerin vorliegend ein Vorsteuerabzug aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalls unter Vertrauensschutz- bzw. Billigkeitsgesichtspunkten nur in Höhe von 2.545,59 € zu gewähren, da der Lieferant S insoweit seine aus den an die Klägerin ausgeführten Lieferungen von Anlagegold resultierende Umsatzsteuerschuld an das für ihn zuständige Finanzamt bezahlt hat.
a) Hat ein nach seiner Unternehmenstätigkeit zum Vorsteuerabzug berechtigter Rechnungsempfänger eine gesetzlich nicht geschuldete, aber gleichwohl in einer – ansonsten ordnungsgemäßen – Rechnung ausgewiesene Umsatzsteuer gezahlt, kann er im Rahmen eines sog. Direktanspruchs entsprechend dem EuGH-Urteil Reemtsma eine „Rückzahlung“ von der Finanzverwaltung verlangen, wenn eine Rückforderung vom Rechnungsaussteller insbesondere im Hinblick auf dessen Zahlungsunfähigkeit übermäßig erschwert ist. Hierüber ist im Billigkeitsverfahren nach § 163 AO zu entscheiden (BFH-Urteil vom 30.06.2015 VII R 30/14, BFHE 250, 34, Rn. 22).
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 15.03.2007 (Rs. C-35/05, Reemtsma, HFR 2007, 515, ECLI:EU:C:2007:167, Rn 41 f.) entschieden, dass die Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung von nationalen Rechtsvorschriften, nach denen nur der Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden hat und der Dienstleistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung der nicht geschuldeten Leistung gegen diesen Dienstleistungserbringer erheben kann, nicht entgegenstehen. Allerdings hat der BFH der Reemtsma-Entscheidung (ECLI:EU:C:2007:161) jedenfalls dann keine Erstattungsverpflichtung des Fiskus entnommen, wenn die Steuer gar nicht an diesen entrichtet worden war (vgl. BFH-Urteile vom 10.12.2008 XI R 57/06, HFR 2009, 819 Rn. 28; vom 11.10.2007 V R 27/05, BFHE 219, 266, BStBl II 2008, 438, Rn. 64; vom 30. Juni 2015 VII R 30/14, BFHE 250, 34, Rn. 25).
b) Im Streitfall wurde die in den Gutschriften zunächst ausgewiesene, infolge des Widerrufs aber nicht (mehr) geschuldete Umsatzsteuer an die Steuerbehörden von H im Wege der Pfändung bei der Klägerin in Höhe von 258.212,15 € und von S in Höhe von 2.545,59 € bezahlt. Die Zahlung des H hat das Finanzamt bereits bei der Festsetzung der Umsatzsteuer 2010 im Billigkeitsweg zugunsten der Klägerin berücksichtigt. In der mündlichen Verhandlung am 27.10.2020 erklärte sich das Finanzamt weiter einverstanden, auch die von S bezahlte Umsatzsteuerschuld in Höhe von 2.545,59 € im Billigkeitswege bei der Festsetzung der Umsatzsteuer 2010 der Klägerin zu berücksichtigen.
Die darüber hinaus gehenden, von der Klägerin an ihre beiden Lieferanten bezahlten Beträge in Höhe von € 866.604,41 € hat das Finanzamt mangels Bezahlung durch diese an deren zuständige Finanzämter zu Recht auch nicht im Billigkeitswege nach § 163 AO berücksichtigt.
Dass die Klägerin ggf. unwissentlich in ein Betrugsmodell eingebunden war, kann keine weiteren Billigkeitsmaßnahmen rechtfertigen. Bei Nichtvorliegen der materiellen Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug bzw. des rückwirkenden Wegfalls der Vorsteuerabzugsberechtigung reicht es zur Gewährung von Vertrauensschutz im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme nicht aus, wenn der Steuerpflichtige von einer Steuerhinterziehung nichts wusste bzw. zum unwissentlichen Opfer eines Betrugsmodells wurde. Bei derart verminderten Anforderungen für den Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren würden die materiellen und formellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs jede Bedeutung verlieren (vgl. Vorabentscheidungsersuchen des BFH, EuGH-Vorlage vom 06.04.2016 V R 25/15, BFHE 254, 139, Rn. 58).
IV.
Die Klage ist im zweiten Hilfsantrag unbegründet. Die Ablehnung der Billigkeitsfestsetzung nach § 163 AO in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.11.2018 für Zinsen zur Umsatzsteuer 2010 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf die begehrte abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen noch auf eine Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 102 FGO). Das Finanzamt hat die beantragte Festsetzung der Zinsen gemäß § 233a AO zur Umsatzsteuer 2010 gemäß § 163 AO abweichend mit 0,00 € ermessensfehlerfrei abgelehnt (§ 102 Satz 1 FGO).
1. Eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO kommt vorliegend nicht in Betracht.
a) Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Für die Festsetzung von Zinsen (hier: § 233 a AO) ist § 163 AO kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO) sinngemäß anwendbar.
b) Die Entscheidung über einen Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung (hier: Zinsfestsetzung) aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung (§ 5 AO), bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 12.07.2017 VI R 36/15, BStBl II 2017, 979 m.w.N.). Eine Billigkeitsentscheidung darf die gesetzliche Regelung nicht unterlaufen (BVerfG; Nichtannahmebeschluss vom 12.06.2018 1 BvR 33/18, HFR 2018, 660). Die Unbilligkeit kann sich aus persönlichen oder sachlichen Gründen ergeben, wobei vorliegend – mangels Geltendmachung persönlicher Billigkeitsgründe – allein eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen zu prüfen ist.
c) Sachlich unbillig ist die Festsetzung einer Steuer, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer als unbillig erscheint. So verhält es sich, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte – im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH-Urteil vom 22.10.2014 II R 4/14, BStBl II 2015, 237). Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt daher keine Billigkeitsmaßnahme. Diese Grundsätze gelten auch im Zusammenhang mit der Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO (vgl. BFH-Urteil vom 03.07.2014 III R 53/12, BStBl II 2017, 3).
2. Im Streitfall hat das Finanzamt ermessensfehlerfrei erkannt, dass eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen im Zusammenhang mit den festgesetzten Nachzahlungszinsen gemäß § 233 a AO nicht vorliegt. Eine abweichende Festsetzung der Nachzahlungszinsen auf 0,00 EUR aus sachlichen Billigkeitsgründen ist daher nicht geboten.
Die Festsetzung der Nachzahlungszinsen in Höhe von 134.718 € ist nicht sachlich unbillig. Die Umstände, die die Klägerin im Zusammenhang mit den Nachzahlungszinsen geltend macht, widersprechen nicht den der Regelung des § 233a AO zugrundeliegenden Wertungen.
a) Die Verzinsungsregelung in § 233a AO bezweckt einen typisierten Ausgleich für die Liquiditätsverschiebungen, die aus dem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens entstehen können. Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen, aus welchen Gründen auch immer, zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Verzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Gleichzeitig soll der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann, ausgeglichen werden. Aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob die möglichen Zins- und Liquiditätsvorteile tatsächlich bestanden und genutzt wurden, ist demzufolge grundsätzlich unbeachtlich. Ob in einem bestimmten Einzelfall davon Ausnahmen zu machen sind, hängt von den konkreten Einzelfallumständen ab (vgl. BFH-Beschluss vom 31.05.2017 I R 77/15, BFH/NV 2017, 1409 m.w.N).
b) Die Umstände des Streitfalls entsprechen den Wertungen des § 233a AO und führen vorliegend – wie das Finanzamt zutreffend dargelegt hat – zu keiner solchen Ausnahme.
aa) Das Finanzamt konnte einen Liquiditätsvorteil der Klägerin aufgrund des Umstandes annehmen, dass diese unberechtigt Vorsteuern in Höhe von 869.150 € in Anspruch genommen hat, weil die erteilten Gutschriften wirksam widerrufen wurden und daher ihre Wirkung als Rechnung verloren haben. Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich gezogen wurden, ist grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BFH-Beschluss vom 02.11.2006 V B 24/05, BFH/NV 2007, 208 m.w.N.). Unerheblich ist auch, ob sich Vor- und Nachteil der verspäteten Festsetzung beim Fiskus per Saldo wegen des Zusammenhanges von Umsatzsteuer und abziehbarer Vorsteuer möglicherweise ausgleichen (vgl. BFH-Beschluss vom 02.11.2006 V B 24/05, BFH/NV 2007, 2008). Denn bei der Frage danach, ob die Festsetzung von Zinsen unbillig ist, ist nur auf die Verhältnisse des jeweiligen Zinsschuldners abzustellen; die Verhältnisse eines anderen Rechtssubjekts müssen insoweit außer Betracht bleiben. Es kommt nicht darauf an, ob dem Steuergläubiger insgesamt ein Schaden entstanden ist (vgl. BFH-Urteil vom 21.10.2009 I R 112/08, BFH/NV 2010, 606 m.w.N.).
bb) Soweit die Klägerin behauptet, dass die Zinsnachforderung auf einem Versäumnis des Finanzamtes beruht, ist ein solches vorliegend nicht ersichtlich. Das Abwarten der Rechtsbehelfsentscheidungen der für H und S zuständigen Finanzämter durch die Betriebsprüfung führte zwar zu einer zeitlichen Verzögerung der Festsetzung der Umsatzsteuer 2010. Eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch das Finanzamt ist jedoch grundsätzlich nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen und widerspricht auch nicht dem Grundsatz von Treu und Glauben (Rüsken in Klein, § 233a Rn. 52). Für die Anwendung des § 233a AO ist ein Verschulden prinzipiell irrelevant, und zwar auf beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses (vgl. BFH-Urteil vom 19.03.1997 I R 7/96, BStBl II 1997, 446 zur verspäteten Festsetzung der Steuer auf Grund einer durch das Finanzamt verzögerten Veranlagung rd. 20 Monate nach Erklärungsabgabe; vgl. auch BFH-Beschluss vom 26.07.2006 VI B 134/05, BFH/NV 2006, 2029; BFH-Urteil vom 21.10.2009 I R 112/08, BFH/NV 2010, 606; BFH-Urteile vom 08.10.2013 X R 3/10, BFH/NV 2014, 5, Rz 14, vom 30.10.2001 X B 147/01, BFH/NV 2002, 505; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 233a AO Rz 92). Ob in einem bestimmten Einzelfall davon Ausnahmen zu machen sind, hängt von den konkreten Umständen ab. Entsprechend hängt auch die Frage, ob die Ablehnung eines Erlasses von Nachzahlungszinsen ermessensfehlerhaft ist, wenn sie auf einer – aus Sicht des Steuerpflichtigen – unangemessen langen Außenprüfung beruhen, von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BFH-Beschluss vom 11.03.2014 X B 45/13, BFH/NV 2014, 826). Der mögliche Zinsvorteil des Steuerpflichtigen soll unabhängig davon abgeschöpft werden, aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist. Die Verschuldensunabhängigkeit ist im gesetzlichen Tatbestand des § 233a AO angelegt, so dass grundsätzlich kein Anlass besteht, ein Verschulden des Finanzamtes als sachlichen Billigkeitsgrund zu qualifizieren (vgl. BFH-Urteil vom 09.11.2017 III R 10/16, BStBl II 2018, 255).
cc) Vorliegend hat die Klägerin auch sonst keine außergewöhnlichen Umstände vorgetragen, die eine Billigkeitsfestsetzung rechtfertigen können. Sonstige Umstände wie die Rechtsansicht der Steuerfahndung 2 oder die Sachbehandlung durch die für H und S zuständigen Finanzämter rechtfertigen keine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen.
dd) Auch eine sachliche Unbilligkeit der Zinsfestsetzung aufgrund eines Verstoßes gegen das Gebot des Vertrauensschutzes oder gegen den Grundsatz von Treu- und Glauben ist für den Senat nicht erkennbar. Zum einen kannte die Klägerin schon zu Beginn der Außenprüfung die Zweifel der Prüferin hinsichtlich der Vorsteuerabzugsberechtigung, wenn auch aus anderen Gründen. Das Finanzamt hat auch keinen Vertrauenstatbestand dahin gesetzt, dass es nicht zu einer Berechnung der Nachforderungszinsen kommt. Der im Rahmen der Schlussbesprechung geäußerte Bereitschaft des Finanzamts, sich für einen eventuellen Erlass einzusetzen, kommt schon mangels eigener Entscheidungskompetenz des Finanzamts keine rechtsverbindliche Wirkung zu.
V.
Die Klage ist im dritten Hilfsantrag zulässig, aber unbegründet.
1. Die am 18.04.2018 erhobene Klage ist insoweit auch ohne vorherigen Abschluss des Einspruchsverfahrens zulässig (§§ 44 Abs. 1, 46 Abs. 1 Satz 1 FGO), weil das Finanzamt bis zur mündlichen Verhandlung am 27.10.2020 noch nicht über den Einspruch der Klägerin gegen die mit Bescheid vom 24.06.2016 erfolgte Ablehnung des Erlasses nach § 227 AO betreffend Zinsen zur Umsatzsteuer 2010 i.H.v. 134.718 € entschieden und hierfür keinen ausreichenden Grund mitgeteilt hat.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Denn soweit das Finanzamt den Erlass der Zinsen aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO ablehnt hat, hat es das ihm eingeräumte Ermessen fehlerfrei (§ 102 FGO i.V.m. § 5 AO) ausgeübt.
a) Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehören auch die den steuerlichen Nebenleistungen zuzuordnenden Nachzahlungszinsen (§§ 37 Abs. 1, 3 Abs. 4, 233a AO).
Wegen der durch die AO vorgegebenen Trennung von Steuerfestsetzungs- und Steuererhebungsverfahren finden sich mit dem im Vierten Teil des Gesetzes enthaltenen § 163 Satz AO und mit dem im Fünften Teil enthaltenen § 227 AO zwei gleichartige Vorschriften, die es ermöglichen, die Steuer im Einzelfall abweichend festzusetzen oder Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zu erlassen, wobei der in § 163 Absatz 1 Satz 1 AO verwendete Begriff der „Unbilligkeit“ mit dem in § 227 AO verwendeten identisch ist (vgl. BFH-Beschluss vom 28.11.2016 GrS 1/15, BStBl II 2017, 393; BFH-Urteil vom 24.08.2011 I R 87/10, BFH/NV 2012, 161).
b) Im Streitfall kommt – mangels Geltendmachung persönlicher Billigkeitsgründe – allein eine Prüfung der Unbilligkeit aus sachlichen Gründen in Betracht. Wie im Zusammenhang mit dem zweiten Hilfsantrag (s. oben Ziffer IV) ausgeführt liegt im Streitfall eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen nicht vor. Die Verneinung der abweichenden Festsetzung der Nachzahlungszinsen aus sachlichen Unbilligkeitsgründen im Verfahren nach § 163 AO hat aufgrund der identischen Tatbestandsvoraussetzungen („unbillig“) notwendigerweise auch für eine im Verfahren gemäß § 227 AO begehrte Billigkeitsmaßnahme aus sachlichen Unbilligkeitsgründen, die – wie hier – auf denselben Sachverhalt gestützt wird, Gültigkeit.
VI.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.
Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen (§ 136 Abs. 1 Satz 1 FGO). Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist (§ 136 Abs. 1 Satz 3 FGO). Das Maß des Unterliegens bzw. Obsiegens ergibt sich aus dem Unterschied zwischen den Anträgen und dem endgültig Erreichten (BFH-Urteil vom 25.10.1994 VIII R 79/91, BFHE 175, 439).
In der Regel ist ein Unterliegen „nur zu einem geringen Teil“ gegeben, wenn ein Beteiligter bei einer Kostenteilung nach § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO weniger als 5% der Kosten des Verfahrens zu tragen hat. § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO kann zwar nicht mehr anwendbar sein, wenn der Streitwert hoch ist (BFH-Urteil vom 21.04.2005 V R 11/03, BStBl II 2007, 63 Rn. 36 m.w.N). Ein hoher Streitwert allein führt aber nicht zu einem Ausschluss von § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO, wenn – so wie vorliegend – das Finanzamt lediglich i.H. von 2.545,59 € unterliegt.
Die Klägerin fordert eine Umsatzsteuerfestsetzung i.H. von -151.509,56 €, in dem sie weitere Vorsteuerbeträge i.H. von insgesamt 869.150 € begehrt. Das Finanzamt begehrt die Klageabweisung mit der Maßgabe, dass die Umsatzsteuer 2010 gem. § 163 AO um 2.545,59 € herabgesetzt wird. Insoweit als die festgesetzte Umsatzsteuer auf 715.094,41 € gemindert wird, unterliegt das Finanzamt nur geringfügig (0,35%). Die Voraussetzungen von § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO liegen damit vor.
VII.
Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen, weil der 5. Senat des BFH in seinem Urteil vom 25.04.2013 (V R 2/13, BFHE 241, 304, BStBl II 2013, 844, Rn. 28) ausdrücklich offenließ, ob er sich dem Urteil des 11. Senats des BFH vom 23.01.2013 (XI R 25/11, BFHE 239, 547, BStBl II 2013, 417), auf welches sich die vorliegende Entscheidung maßgebend stützt, anschließen könnte.


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