Strafrecht

1 Ws 194/21, 1 Ws 195/21

Aktenzeichen  1 Ws 194/21, 1 Ws 195/21

Datum:
29.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StV – 2022, 315
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

StVK 1295/19 2021-02-12 Bes LGTRAUNSTEIN LG Traunstein

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Wolfgang K. S. wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Traunstein vom 12.02.2021 aufgehoben.
2. Das Verfahren wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Traunstein zurückverwiesen.

Gründe

I.
Mit Urteil vom 08.06.2016, rechtskräftig seit demselben Tage, ordnete das Landgericht München I wegen (objektiv) Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten in Tatmehrheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit Nachstellung, begangen infolge einer paranoiden Schizophrenie im Zustand aufgehobener Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an und setzte deren Vollstreckung zur Bewährung aus. Nach den Urteilsfeststellungen erhielt der Beschuldigte bis November 2012 eine Depotmedikation Risperdal Consta. Wegen eines Drogenrückfalls sei er im November 2012 aus der Substitutionsbehandlung entlassen worden. Etwa zeitgleich habe die Depotmedikation geendet, nach Angaben des Beschuldigten wegen Problemen mit der Krankenversicherung. In der Folge habe der Beschuldigte psychotische Symptome, die bis zum Frühsommer 2013 außer Kontrolle gerieten, entwickelt. Seit dem 02.12.2013 habe er wieder regelmäßig Risperdal Consta erhalten.
Hinsichtlich der Einzelheiten, insbesondere der einzelnen Taten und dem langjährigen Krankheitsverlauf des Beschuldigten mit wiederholt auftretenden Rezidiven, wird auf die Urteilsgründe Bezug genommen.
Die sachverständig beratene Strafkammer stellte fest, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten zum Zeitpunkt sämtlicher vorbeschriebener Taten aufgrund einer akuten paranoieden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) aufgehoben war. Die Taten seien mit Sicherheit nicht auf die zudem beim Beschuldigten bestehende Polytoxikomanie (ICD-10:F19.2) zurückzuführen. Es handele sich um zwei unabhängige Erkrankungen, die sich jedoch auch wechselseitig bedingen könnten. Infolge seines Zustandes sei im Falle des Absetzens der neuroleptischen Medikation wie auch bei einem fortgesetzten Konsum psychotroper Substanzen mit der Begehung ähnlicher Taten durch den Beschuldigten, wie sie ihm vorliegend vorgeworfen würden, zu rechnen. Auch sei in psychotischen Phasen mit der Begehung von Körperverletzungsdelikten zu rechnen.
Vom 21.10.2014 bis zum 17.11.2014 befand sich der Beschuldigte im vorliegenden Verfahren gemäß § 81 StPO zur Vorbereitung eines psychiatrischen Gutachtens im S.-Klinikum. Dort wurde die bestehende neuroleptische Medikation fortgeführt.
Am 20.03.2015 wurde der Beschuldigte nach Verbüßung sämtlicher noch offener Strafen aus der JVA B. entlassen. Während der Haft erfolgte die Einstellung auf eine neuroleptische Medikation mit einer Depotspritze.
Mit Beschluss des Landgerichts München I vom 11.10.2017 wurde die zur Bewährung ausgesetzte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für die Dauer von 3 Monaten im Rahmen der Krisenintervention wieder in Vollzug gesetzt. Zur Begründung wurde ein massiv verschlechterter Zustand des Beschwerdeführers, die Verweigerung einer Blutentnahme und Haaranalyse sowie die Bedrohung eines Mitarbeiters des Caritasverbandes B. angeführt. Infolge dessen befand er sich seit dem 11.10.2017 im I. Krankenhaus M.-O. Die Krisenintervention endete am 30.11.2017. Seitdem befand er sich aufgrund Sicherungshaftbefehls vom 30.11.2017 erneut im Maßregelvollzug, seit dem 17.08.2018 im Bezirkskrankenhaus S.. Zur Begründung wurde angeführt, dass in der Krisenintervention eine nachhaltige Besserung aufgrund der Verweigerungshaltung des Probanden nicht habe erreicht werden können und daher ein Widerruf der Bewährung geprüft werden müsse.
Mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts München I vom 07.02.2019, rechtskräftig seit dem 19.02.2019, wurde nach Erholung eines externen Sachverständigengutachtens des Dr. N. die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus widerrufen.
Zum Vollzug der Maßregel befindet sich der Verurteilte seit 19.02.2019 im S.-Klinikum in W.
Mit Beschluss vom 18.02.2020 ordnete die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Traunstein die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Mit Beschluss vom 01.04.2020 (1 Ws 227, 228/20) verwarf der Senat die sofortige Beschwerde des Untergebrachten gegen diesen Beschluss kostenfällig als unzulässig.
Auf die Gegenvorstellung des Untergebrachten vom 08.04.2020 änderte der Senat mit Beschluss vom 19.05.2020 (1 Ws 267/20) den Beschluss des Senats vom 01.04.2020 dahingehend, dass dessen sofortige Beschwerde kostenfällig als unbegründet verworfen wurde.
Der Verteidiger des Untergebrachten hat mit Schriftsatz vom 10.08.2020 beantragt, die Maßregel in Ansehung der Verhältnismäßigkeit für erledigt zu erklären.
In ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 18.08.2020 führte das S.-Klinikum in W. aus, das am 21.07.2020 begonnene Probewohnen des Untergebrachten im Haus Sch. sei am 31.07.2020 wegen des unangemessenen Verhaltens des Untergebrachten gegenüber Mitarbeitern dieser Einrichtung abgebrochen worden. Er sei teilweise aufbrausend und aggressiv aufgetreten, habe sich bei Gesprächen immer wieder in den Schritt gegriffen, habe teilweise einen sehr lauten und distanzlosen Umgangston an den Tag gelegt und habe insbesondere bei weiblichen Personal große Probleme gehabt, sich angemessen zu verhalten.
In ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 20.10.2020 führte das S.-Klinikum in W. am Inn aus, aus psychologischpsychiatrischer Sicht sei zum jetzigen Zeitpunkt die therapeutische Behandlung noch keineswegs abgeschlossen und daher werde die Fortsetzung der Maßregel empfohlen. Nach seiner Rückverlegung aus dem Probewohnen habe sich der Proband zunehmend instabiler und auffälliger verhalten. Positiv sei zwar zu berücksichtigen, dass dieser an der Arbeitstherapie regelmäßig teilgenommen habe und hinsichtlich der fest verordneten Medikamente compliant zeige. Zudem seien weiterhin keine Suchtmittelrückfälle aufgetreten. Auffallend sei jedoch eine zunehmend psychische Zustandsverschlechterung mit psychosenaher Symptomatik und sexualisiertem Verhalten. Er habe ein dem Anlassdelikt ähnliches Verhalten gezeigt und sei zunächst nicht bereit gewesen, durch eine Erhöhung der Medikation dem adäquat entgegenzuwirken. Auch habe er insoweit kein Problembewusstsein gehabt. Ohne weitere Behandlung und ohne adäquates Setting werde dieser auch weiterhin Straftaten begehen, durch die andere Personen seelisch erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf diese Stellungnahme verwiesen.
Die Strafvollstreckungskammer hat den Untergebrachten am 18.12.2020 im Beisein seines Verteidigers und Frau Dr. M. und Frau B. als sachverständige Vertreter des Klinikums angehört. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Protokoll verwiesen.
In ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 05.01.2021 führte das S.-Klinikum in W. aus, aus psychologischpsychiatrischer Sicht, sei die therapeutische Behandlung zum jetzigen Zeitpunkt erst als rudimentär einzustufen. Es sei beim Untergebrachten derzeit von einem erhöhten Gefährdungspotenzial auszugehen. Die in den Taten zu Tage getretene Gefährlichkeit bestehe fort. Derzeit seien erneut schwere Gewaltdelikte, wie sie sich bereits in den Voreintragungen des Untergebrachten spiegeln und auch eine Steigerung hinsichtlich dieser noch zu erwarten. Daher werde die Fortsetzung der Unterbringung im Maßregelvollzug empfohlen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf diese Stellungnahme verwiesen.
Mit Beschluss vom 12.02.2021 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Traunstein den Antrag des Untergebrachten auf Erledigterklärung der Unterbringung vom 10.08.2020 zurückgewiesen, die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, festgestellt, dass die Frist zur erneuten Überprüfung am 11.02.2022 endet und angeordnet, dass ein Antrag auf erneute Prüfung der Fortdauer der Unterbringung nicht vor dem 11.02.2022 zulässig ist.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23.02.2021, der am 24.02.2021 bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen ist, hat der Untergebrachte gegen diesen Beschluss, der ihm am 19.02.2021 zugestellt worden war, sofortige Beschwerde eingelegt. Diese hat er mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 18.03.2021 begründet und hierzu ausgeführt, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die gesamte Dauer der Unterbringung zu berücksichtigen gewesen sei. Im Hinblick auf die zugrundeliegenden Delikte sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt. Ferner hätte ein externes Gutachten erholt werden müssen.
Ergänzend wird auf die Gründe des angegriffenen Beschlusses unter Ziffer I verwiesen.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde des Untergebrachten hat in der Sache jedenfalls vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung.
Im Rahmen des „Gebots der bestmöglichen Sachaufklärung“ besteht bei Prognoseentscheidungen, bei denen geistige und seelische Anomalien in Frage stehen, in der Regel die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Dies gilt insbesondere, wenn die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten zu beurteilen ist (BVerfG, BeckRS 2013, 53751, Rdnr. 25; NJW 2013, 3228, Rdnr. 42; Senat, Beschlüsse vom 22.12.2016, Az.: 1 Ws 996/16, 1 Ws 997/16, unter Punkt II. 3. a) der Gründe, und vom 14.03.2017, Az.: 1 Ws 163/17, unter Punkt II. 2. a) der Gründe).
Die Strafvollstreckungskammer hat die erforderliche Sachaufklärung vorgenommen. So beruht die Entscheidung auf den aktuellen Stellungnahmen des S.-Klinikums W. vom 20.10.2020 und 05.01.2021 und den Angaben der Sachverständigen Dr. M. und Frau B. in der Anhörung vom 18.12.2020.
Die Einholung eines externen Gutachtens war dagegen – weniger als zwei Jahre nach dem Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung – noch nicht erforderlich. Die Strafvollstreckungskammer hat sich im Beschluss vom 07.02.2019 auf das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. N. gestützt; die Diagnose des Bezirksklinikums ist mit dessen Feststellungen identisch.
Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer war aufzuheben, da die gemäß §§, 463 Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 1 Satz 3 StPO erforderliche erneute mündliche Anhörung des Beschwerdeführers in Anwesenheit eines sachverständigen Vertreters des Klinikums nicht erfolgt ist. Zwar wurde der Beschwerdeführer am 18.12.2020 in voller Besetzung der Strafvollstreckungskammer in Anwesenheit seines Verteidigers und sachverständiger Vertreter des Klinikums angehört. Zu diesem Zeitpunkt lag jedoch die gutachterliche Stellungnahme des S.-Klinikums W. vom 05.01.2021 noch nicht vor, deren Berücksichtigung bei der Entscheidung aus Gründen des Gebots der bestmöglichen Sachaufklärung erforderlich ist.
Zudem wollte die Strafvollstreckungskammer ersichtlich noch nicht auf der Basis der ihr bis zum 18.12.2020 bekannten Tatsachen entscheiden. Vielmehr wartete sie ausweislich ihrer Schreiben an Frau Dr. K. vom 11.01.2021 und 08.02.2021 und ihrer Wiedervorlageverfügung vom 11.01.2021 und 08.02.2021 noch auf die Beantwortung der darin gestellten Fragen. Zudem wartete sie auf eine eventuelle Stellungnahme des Verfolgten und der Staatsanwaltschaft zu der gutachterlichen Stellungnahme des S.-Klinikums W. vom 05.01.2021. Diese Stellungnahme war dem Rechtsbeistand des Verfolgten mit Verfügung der Strafvollstreckungskammer vom 12.01.2021 mit dem Hinweis übersandt worden, dass das Gericht diese Stellungnahme zum turnusgemäßen Prüftermin am 17.02.2021 zur Kenntnisnahme und Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 10 Tagen übersendet. Es sei beabsichtigt, eine „einheitliche Entscheidung“ zu treffen, nachdem bereits am 18.12.2020 eine Anhörung im Rahmen des gestellten Antrags auf Erledigterklärung erfolgt sei. Unter diesen Umständen war zwingend eine erneute mündliche Anhörung des Untergebrachten durchzuführen, da eine weitere Aufklärung des Sachverhalts möglich erscheint (vgl. Appl in KK StPO 8. Aufl. § 453 Rn. 7). Aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses wird auch hinreichend deutlich, dass auch das Verhalten des Beschwerdeführers nach dem anberaumten Anhörungstermin vom 18.12.2020 für die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer von Bedeutung war. In einem solchen Fall aber darf die Entscheidung nur nach erneuter mündlicher Anhörung erfolgen (vgl. OLG München Beschluss vom 11.8.2011 – 1 Ws 674 – 676/11, BeckRS 2011, 21529; Appl in KK StPO 8. Aufl. § 453 Rn. 7 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
Da das Rechtsmittel nur einen vorläufigen Erfolg erzielt hat, war eine Kostenentscheidung nicht veranlasst.
Die Strafvollstreckungskammer wird im Rahmen ihrer erneuten Entscheidung deshalb auch über die Kosten des vorliegenden Rechtsmittels zu befinden haben.


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