Strafrecht

Abschiebung, Asylantrag, Beschwerde, Beiordnung, Bescheid, Einreise, Verfahrenskostenhilfe, Aufenthaltsverbot, Verfahren, Befangenheit, Erledigung, BAMF, Bundespolizei, Haftantrag, Besorgnis der Befangenheit, Zeitpunkt der Entscheidung, Erledigung der Hauptsache

Aktenzeichen  63 T 174/21, 63 T 373/21, 63 T 1148/21

Datum:
21.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 44668
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

9 XIV 17/21 (B) 2021-01-22 Bes AGERDING AG Erding

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass der Betroffene durch die Beschlüsse des Amtsgerichts Weiden i.d. Opf. vom 02.12.2020 (Az. 3 XIV 202/20 (B)) und des Amtsgerichts Erding vom 11.01.2021 (Az. 9 XIV 2/21 (B)) sowie vom 22.01.2021 (Az. 9 XIV 17/21 (B)) in seinen Freiheitsrechten verletzt wurde.
2. In allen genannten Verfahren trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens der ersten und der zweiten Instanz sowie die notwendigen Auslagen des Betroffenen.
3. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird jeweils auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Betroffene reiste am … 12.2020 über den ehemaligen Grenzübergang Waidhaus-Roßhaupt kommend auf einem Lkw im Rahmen einer Einschleusung unerlaubt nach Deutschland ein. Dabei führte er keine Ausweisdokumente mit sich und konnte sich nicht ausweisen. Im Rahmen der EURODAC-Recherche wurde festgestellt, dass der Betroffene in dem Mitgliedsstaat Rumänien am 04.11.2020 einen Asylantrag stellte.
Am 02.12.2020 beantragte die B beim Amtsgericht Weiden, gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Zurückschiebung nach Rumänien anzuordnen. Dem Antrag wurde auszugsweise die Ausländerakte beigefügt. Auf Bl. 1/19 d.A. 3 XIV 202/20 (B), später 9 XIV 171/20 (B) wird Bezug genommen.
Am 02.12.2020 erging gegenüber dem Betroffenen eine Verfügung über seine Zurückschiebung. Durch das Amtsgericht Weiden wurde mit Beschluss vom 02.12.2020 (Az. 3 XIV 202/20 (B)) im Rahmen der einstweiligen Anordnung Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum Vollzug der Zurückschiebung, längstens jedoch bis zum 12.01.2021, angeordnet. Auf Bl. 24/32 d.A. 3 XIV 202/20 (B), später 9 XIV 171/20 (B) wird Bezug genommen.
Das Verfahren wurde am 02.12.2020 an das Amtsgericht Erding abgegeben; dieses wurde beim Amtsgericht Erding unter dem Aktenzeichen 9 XIV 171/20 (B) übernommen.
Mit Schreiben vom 30.12.2020 stellte – unter Vollmachtsvorlage für den Betroffenen den Antrag, den Beschluss des Amtsgerichts Weiden vom 02.12.2020 aufzuheben und festzustellen, dass der Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt. Ferner beantragte -, dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen. Auf den nicht paginierten Schriftsatz vom 30.12.2020 im Verfahren 9 XIV 171/20 (B) wird Bezug genommen.
Der Betroffene stellte am 14.12.2020 einen Asylantrag in Deutschland, der mit Bescheid des BAMF vom 23.12.2020 als unzulässig abgelehnt wurde. Dabei wurde gleichzeitig die Abschiebung nach Rumänien angeordnet.
In der Folge stellte die B am 28.12.2020 einen Antrag auf Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis 25.01.2021, nachdem am 15.12.2020 Rumänien einer Rückübernahme des Betroffenen zugestimmt hat. Dem Antrag wurde die Ausländerakte auszugsweise beigefügt. Auf Bl. 1/46 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Fax vom 06.01.2021 stellte – für den Betroffenen den Antrag, den Haftverlängerungsantrag vom 28.12.2020 zurückzuweisen sowie dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen. Auf Bl. 47/48 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Verfügung vom 07.01.2021 forderte das Amtsgericht Erding die Ausländerakte bei der B an, welche mit E-Mail vom 08.01.2021 auszugsweise übersandt wurde. Auf Bl. 56/95 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Nach der Anhörung des Betroffenen am 11.01.2021 ordnete das Amtsgericht Erding, RiAG x, mit Beschluss vom 11.01.2021 (Az. 9 XIV 2/21 (B)) gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis 25.01.2021 an. Auf Bl. 99/105 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Beschluss vom 11.01.2021 lehnte das Amtsgericht Erding den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ab. Auf Bl. 106 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Fax vom 12.01.2021 legte – für den Betroffenen gegen beide Beschlüsse jeweils Beschwerde ein und beantragte festzustellen, dass der Haftverlängerungsbeschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt und dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen. Ferner wurde der Richter am Amtsgericht x wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Auf Bl. 107/109 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Beschluss des Amtsgerichts Erding vom 19.01.2021 wurde das Ablehnungsgesuch des Betroffenen vom 12.01.2021 zurückgewiesen. Auf Bl. 115/117 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Beschluss vom 19.01.2021 half das Amtsgericht Erding der Beschwerde des – gegen den Haftanordnungsbeschluss vom 11.01.2021 nicht ab und legte die Akte dem Landgericht Landshut zur Entscheidung über die Beschwerde vor.
Mit Fax des – vom 20.01.2021 legte dieser die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Erding vom 19.01.2021 ein. Auf Bl. 121/122 d.A. 9 XIV 2/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Verfügung vom 22.01.2021 forderte das Landgericht Landshut bei der B die Ausländerakte an, welche mit E-Mail vom 26.01.2021 beim Landgericht einging. Auf Bl. 124 d.A. 9 XIV 2/21 (B) sowie das Unterheft „Ausländerakt“ wird Bezug genommen.
Die für den 20.01.2021 geplante Abschiebung war gescheitert, weil sich der Betroffene weigerte, ins Flugzeug zu steigen. Da die nächste Abschiebung nach Rumänien für den 01.02.2021 vorgesehen war, stellte die Bundespolizei am 21.01.2021 einen Antrag auf Verlängerung der Haft bis 12.02.2021. Dem Antrag war die Ausländerakte auszugsweise beigefügt. Auf Bl. 1/38 d.A. 9 XIV 17/21 (B) wird Bezug genommen.
Mit Fax vom 22.01.2021 beantragte -, den Haftverlängerungsantrag zurückzuweisen sowie dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen.
Nach der Anhörung des Betroffenen verlängerte das Amtsgericht Erding, x, mit Beschluss vom 22.01.2021 die Sicherungshaft bis 12.02.2021 sowie lehnte mit Beschluss vom 25.01.2021 den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ab. Auf Bl. 50/56 d.A. 9 XIV 17/21 (B) wird Bezug genommen.
– legte gegen die Beschlüsse vom 22.01.2021 sowie vom 25.01.2021 jeweils mit Fax vom 01.02.2021 Beschwerde ein und beantragte festzustellen, dass der Beschluss vom 22.01.2021 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt. Auf Bl. 59/60 d.A. 9 XIV 17/21 (B) wird Bezug genommen. Die Beschwerden wurden mit Verfügung vom 03.02.2021 an das Landgericht Landshut zur Entscheidung vorgelegt.
Dem – wurde mit Verfügung vom 26.01.2021 im Verfahren 63 T 174/21 (AG ED: 9 XIV 2/21 (B)) Akteneinsicht gewährt sowie eine Stellungnahmefrist eingeräumt. Eine Stellungnahme ging mit Schreiben vom 18.02.2021 sowie mit Schreiben vom 26.02.2021 ein. Auf Bl. 127/131, 140/153 d.A. 63 T 174/21 (AG ED: 9 XIV 2/21 (B)) wird Bezug genommen.
Auf Nachfrage der Kammer teilte das Amtsgericht Erding (RiAG x) im Verfahren 9 XIV 2/21 (B) am 13.04.2021 mit, davon ausgegangen zu sein, dass es sich bei den per E-Mail vom 08.01.2021 seitens der Bundespolizei übersandten Unterlagen um die vollständige Ausländerakte gehandelt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt der genannten Verfahren Bezug genommen.
II.
Die zulässigen Anträge auf Feststellung der Rechtsverletzung durch die Beschlüsse des Amtsgerichts Weiden vom 02.12.2020, des Amtsgerichts Erding vom 11.01.2021 sowie vom 22.01.2021 sind jeweils begründet.
1. Zulässigkeit
Die Beschwerden vom 30.12.2020, vom 12.01.2021 sowie vom 01.02.2021 sind gemäß § 58 FamFG statthaft. Die Form- und Fristvorschriften gemäß §§ 63, 64 FamFG wurden eingehalten.
Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung darüber, ob der Betroffene durch die Beschlüsse in seinen Rechten verletzt wurde, besteht trotz der zwischenzeitlichen Erledigung der Hauptsache durch die Abschiebung des Betroffenen, da jeweils Feststellungsanträge gemäß § 62 FamFG gestellt wurden. Ein berechtigtes Feststellungsinteresse liegt gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG vor, da die erfolgte Freiheitsentziehung einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellt.
2. Begründetheit
Den Gerichten lag zum Zeitpunkt der Entscheidung jeweils nicht die vollständige Ausländerakte vor. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.2020 – 2 BvR 2345/16, NVwZ-RR 2020, 801) sind die ergangenen Beschlüsse vom 02.12.2020, vom 11.01.2021 sowie vom 22.01.2021 rechtswidrig und verletzten den Betroffenen in seinen Grundrechten.
Nach dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung ist das über den Haftantrag entscheidende Gericht zur Beiziehung der Ausländerakte verpflichtet, weil sich aus dieser Tatsachen ergeben können, die für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung von Bedeutung sind. Danach belastet die Nichtbeiziehung der Ausländerakte mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, die durch die Nachholung der Maßnahme nicht mehr zu tilgen ist und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht.
Vorliegend lag den Gerichten zum Zeitpunkt der Entscheidung die Ausländerakte jeweils nicht vollständig vor. Nach der genannten höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt es dabei nicht darauf an, ob diese Ausländeraktenbestandteile für die Anordnung der Haft erheblich waren.
So lagen dem Amtsgericht Weiden folgende Unterlagen aus der Ausländerakte nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung am 02.12.2020 im Verfahren 3 XIV 202/20 (B) vor:
Belehrung von Ausländern, die sich unerlaubt in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gemäß Art. 17 i.V.m. Art. 29 Verordnung (EU) vom 01.12.2020;
– Beschuldigtenvernehmung eines Erwachsenen vom 01.12.2020 von 17.30 Uhr bis 18.00 Uhr unvollständig, also ohne Antworten und ohne Unterschriften des Vernehmenden sowie des Betroffenen;
– Datenaustausch im Dublin-Verfahren und Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Familieneinheit vom 01.12.2021;
– Informationen zu der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 vom 01.12.2020;
– Anhörung gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG i.V.m. AufenthG vom 01.12.2020;
– Anhörung zur Aufenthaltsbeendigung vom 01.12.2020;
– Anhörung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot vom 01.12.2020;
– Verfügung über ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vom 01.12.2020.
Auch dem Amtsgericht Erding wurde die Ausländerakte nicht vollständig übersandt, und zwar weder mit dem Haftantrag vom 30.12.2020 noch mit der E-Mail vom 08.01.2021. So lagen zum Zeitpunkt der Entscheidung am 11.01.2021 im Verfahren 9 XIV 2/21 (B) folgende Unterlagen aus der Ausländerakte nicht dem Gericht (RiAG x) vor:
– Anhörung gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG i.V.m. AufenthG vom 01.12.2020;
– Anhörung zur Aufenthaltsbeendigung vom 01.12.2020;
– Anhörung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot vom 01.12.2020.
An der Beurteilung der Rechtswidrigkeit ändert sich auch nichts dadurch, dass das Gericht auf Grund der Anforderung der Ausländerakte davon ausging, dass es sich bei den Unterlagen, welche dem Gericht mit E-Mail vom 08.01.2021 übersandt wurden, um die vollständige Ausländerakte handelt.
Zum Zeitpunkt des Beschlusses am 22.01.2021 lag dem Amtsgericht Erding (Rix) ebenfalls nicht die vollständige Ausländerakte vor. So wurden wiederum nur Aktenbestandteile übersandt, die für sich allein keine tragfähige Entscheidungsgrundlage zu bilden vermochten.
Es fehlten etwa:
– Beschuldigtenvernehmung eines Erwachsenen vom 01.12.2020;
– Verfahren nach der Dublin-Verordnung Wiederaufnahmegesuch vom 03.12.2020;
– Meldung Aufgriffsfall gemäß Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 03.12.2020;
– Verfahren nach der Dublin-Verordnung Zustimmung von Rumänien vom 15.12.2020.
Dass andere Bestandteile der Ausländerakte, welche nicht Inhalt der Akte geworden sind, bei der Entscheidungsfindung herangezogen wurden, lässt sich dem Beschluss vom 22.01.2021 nicht entnehmen. Insbesondere wurden die Akten mit weiteren Bestandteilen der Ausländerakte, nämlich die Verfahren 9 XIV 171/20 (B) sowie 9 XIV 2/21 (B) bereits am 19.01.2021 an das Landgericht Landshut zur Entscheidung über die Beschwerden in den dortigen Verfahren übersandt, so dass diese nicht zur Ergänzung herangezogen werden konnten. Auch ergibt sich aus dem Beschluss des Amtsgerichts Erding vom 22.01.2021 (9 XIV 17/21 (B), dass auf den Antrag des B vom 20.01.2021 sowie auf den Beschluss des Amtsgerichts Erding vom 11.01.2021 Bezug genommen wird, nicht jedoch auf weitere, sich nicht in der Akte befindenen Unterlagen. Insbesondere war die Richterin am Amtsgericht x nicht etwa mit der Entscheidung vom 11.01.2021 befasst, so dass sie auch nicht die anderen – etwa dem Richter am Amtsgericht x – bekannten Bestandteile der Ausländerakte selbst aus anderen Verfahren kennen konnte.
Die Übersendung der nicht vollständigen Ausländerakte genügt jeweils nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Es ist auch kein Grund ersichtlich, weshalb einzelne Bestandteile der Ausländerakte nicht übersandt wurden. Eine zufällige Auswahl von relevanten Bestandteilen aus der Ausländerakte zur Übersendung an das Gericht, welches mit der Frage der Haftanordnung befasst ist, genügt nicht den durch die Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen.
Die Beschlüsse verletzten daher den Betroffenen jeweils in seinen Grundrechten, so dass den Feststellungsanträgen stattzugeben war.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 S. 1 FamFG.
Der Beschwerdewert orientiert sich an § 36 Abs. 1, Abs. 3 GNotKG.
Auf Grund der ergangenen Kostenentscheidung ist eine Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe bzw. über die Beschwerden gegen die Verfahrenskostenhilfe ablehnenden Beschlüsse des Amtsgerichts nicht veranlasst.
Ebenso wenig ist eine Entscheidung über die Beschwerde gegen den Befangenheitsantrag ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts veranlasst.


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