Strafrecht

Bestimmtheitsgebot, Berufungshauptverhandlung, Vorbereitung der Hauptverhandlung, Vermögensdelikte

Aktenzeichen  2 Ns 2 Js 1426/20

Datum:
10.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 53849
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Deggendorf
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 274 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Auf die Berufung des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts D. vom 20.07.2020, Az. …, im Schuldspruch und im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.
2. Der Angeklagte ist schuldig der Urkundenunterdrückung.
3. Er wird deshalb zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je … € verurteilt.
4. Der Angeklagte trägt die Kosten seiner Berufung. Die Gebühr des Berufungsverfahrens wird um 25% ermäßigt. Von den notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse 25%.

Gründe

I. Prozessgeschichte
Das Amtsgericht D. – Strafrichter hat mit Urteil vom 20.07.2020, Az. …, den Angeklagten wegen Unterschlagung in Tateinheit mit Urkundenunterdrückung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte am 27.07.2020, eingegangen am 27.07.2020, form- und fristgerecht unbeschränkte Berufung eingelegt. Die Berufung des Angeklagten hatte teilweise Erfolg und führte zur Aufhebung und Neufassung des Schuldspruchs und des Rechtsfolgenausspruchs.
II. Persönliche Verhältnisse
Der Angeklagte wurde am … in P. geboren. Er ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist ledig und Vater einer Tochter im Alter von… Jahren. Die Tochter ist bei den Großeltern mütterlicherseits aufgewachsen, nachdem ihre Mutter und Lebensgefährtin des Angeklagten bei einem Autounfall im Jahr … ums Leben gekommen ist. Der Angeklagte ist beruflich als Hausmeister und Lastwagenfahrer tätig. Er war bis zum … beim Logistikunternehmen D. in P. beschäftigt. In der Folge war er vorübergehend arbeitslos. Seit … ist er bei der Firma P. in P. als Hausmeister und Lastwagenfahrer beschäftigt; dort hilft er auch in einer angeschlossenen Landwirtschaft bei der Versorgung von Rindern mit. Er erzielt ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen in Höhe von ca. … €. Er bewohnt eine Mietwohnung in D.; die monatliche Kaltmiete beläuft sich auf … € nebst Nebenkosten in Höhe von ca. … €. Er hat Schulden in Höhe von ca. … € aus Darlehen bei der S. (z.B. für die Anschaffung eines Autos) und aus der Verhängung einer Geldstrafe nebst Gerichtskosten. Er leistet monatlich einen Betrag in Höhe von … € zur Tilgung der Schulden. Der Angeklagte ist körperlich und geistig gesund. Er hatte im Jahr … einen Verkehrsunfall, bei dem er sich mehrere Knochenbrüche zuzog; die Verletzungen sind jedoch folgenlos verheilt. Derzeit bestehen bei ihm keine körperlichen oder geistigen Beschwerden oder Einschränkungen.
Der Angeklagte ist bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten; die Auskunft aus dem Bundeszentralregister enthält 2 Eintragungen:
1. Mit Urteil des Amtsgerichts D. vom …, rechtskräftig seit …, Az. …, wurde der Angeklagte wegen Beleidigung in 2 tateinheitlichen Fällen zu einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen zu je … € verurteilt (= BZR Ziffer 1).
Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:
“…
2. Mit Urteil des Amtsgerichts D. vom …, rechtskräftig seit …, Az. …, wurde der Angeklagte wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit Nötigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 175 Tagessätzen zu je … € verurteilt (= BZR Ziffer 2).
Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zur Last:
…”
III. Festgestellter Sachverhalt
1. Am 11.03.2019 hatte die Staatsanwaltschaft D. in einem Verfahren gegen den Angeklagten wegen Beleidigung, Az. …, Anklage gegen den Angeklagten beim Amtsgericht D. – Strafrichter erhoben und dem Angeklagten folgenden Sachverhalt zur Last gelegt:
„Am 04.02.2019 veröffentlichte der Angeschuldigte in seiner Wohnung …, … D. auf der ‚G. My Business‘ – Seite der Kanzlei Pe. folgende Rezension über Rechtsanwalt Pe.:
‚Ein Anwalt der nur ein System und einen Parteibuch Folgen kann ist für jeden Scharlatan der Geld hat oder für Pensionierte Beamte zur Stelle, aber recht und Gesetz interessieren diese Person nicht. Er kann auch nichts Brot kann Schimmeln. Herr Pe. kann nichts. Es ist Traurig das sich solche Anwälte in unseren Gerichtssälen aufhalten dürfen. Aber hier sieht man das unser System absolut Verfault ist sonst hätte eine solche Person nicht zu suchen in einem Gerichtssaal.‘ Durch diese Schmähkritik wollte der Angeschuldigte seine Missachtung gegenüber Rechtsanwalt Pe. zum Ausdruck bringen.
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt.
Der Angeschuldigte wird daher beschuldigt, einen anderen beleidigt zu haben, strafbar als Beleidigung gem. §§ 185, 194 StGB.“
Am 02.07.2019 hatte die Staatsanwaltschaft D. in einem Verfahren gegen den Angeklagten wegen Beleidigung, Az. …, Anklage gegen den Angeklagten beim Amtsgericht D. – Strafrichter erhoben und dem Angeklagten folgenden Sachverhalt zur Last gelegt:
„1. Zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt vor dem 03.05.2019 veröffentlichte der Angeschuldigte in seiner Wohnung in dem Anwesen …, … D., auf der ‚G. My Business‘ – Seite der Kanzlei Pr. folgende Rezension über Rechtsanwalt Pr.:
‚Guter System Anwalt nur auf Geld und Ansehen aus Wahrheit und Gerechtigkeit sind hier nicht zu suchen.‘
2. Außerdem übersandte der Angeschuldigte am 07.03.2019 eine E-Mail an das Postfach der Kanzlei Pr., welcher auch der Geschädigte Rechtsanwalt Pr. angehört, mit folgendem Wortlaut:
‚Hier sieht man das Brot mehr kann als Sie denn mit dem Bescheid vom 17.10.2018 wurde ein Betrag von 785,40 € festgesetzt.
Jetzt Schreiben Sie mir das mit dem Schreiben vom 20.02.2019 mit dem gleichen Aktenzeichen auf einmal 1.303,05 € zu zahlen sind. Ist hier ihr Anteil vom Herrn Pe. als Gewinn Beteiligung schon mit eingerechnet??? Für was hat man Sie eigentlich bezahlt das Die sich ein feines Leben auf kosten Ihres nichts tun machen können und mit der gegnerischen Partei Reibach machen. Schande was hier in unseren Gerichten und Rechtsanwaltskanzleien abgeht‘, um seine Missachtung auszudrücken.
Durch diese Schmähkritik wollte der Angeschuldigte seine Missachtung gegenüber Rechtsanwalt Pr. zum Ausdruck bringen.
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt.
Der Angeschuldigte wird daher beschuldigt, durch zwei selbständige Handlungen einen anderen beleidigt zu haben, strafbar als Beleidigung gem. §§ 185, 194 StGB.“
Das Amtsgericht D. hatte die beiden Verfahren, Az. … und Az. …, mit Beschluss vom 06.08.2019 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden. Es hatte mit Verfügung vom 06.08.2019 – unter dem führenden Az. … – Termin zur Hauptverhandlung bestimmt auf 08.10.2019, 9:45 Uhr und hatte zur Vorbereitung der Hauptverhandlung die Vorstrafenakten des Angeklagten, d.h. die Verfahrensakten zu Az. … (= BZR Ziffer 1) und zu Az. … (= BZR Ziffer 2), bei der Staatsanwaltschaft D. beigezogen; bei der Verfahrensakte zu Az. … waren die Verfahrensakten zu Az. … und zu Az. … unterbunden.
Mit Verfügung vom 07.10.2019 hatte das Amtsgericht D. den Termin zur Hauptverhandlung vom 08.10.2019, 9:45 Uhr, wegen einer Erkrankung des zuständigen Richters, Richter am Amtsgericht D., verlegt auf 16.01.2020, 9:45 Uhr. Eine telefonische Abladung des Angeklagten hatte nicht erfolgen können, weil sich in den Verfahrensakten keine Telefonnummer des Angeklagten befunden hatte. Der Angeklagte war daher am 08.10.2019 am Amtsgericht D. erschienen und hatte sich, als er erfahren hatte, dass der Termin zur Hauptverhandlung nicht stattfindet, auf die Geschäftsstelle der Strafabteilung begeben und nachgefragt, warum die Hauptverhandlung nicht stattfinde. Dem Angeklagten war dort erklärt worden, dass der zuständige Richter kurzfristig erkrankt sei und ihm, dem Angeklagten, dies so kurzfristig nicht mitgeteilt werden habe können, weil sich keine Telefonnummer des Angeklagten in den Akten befunden habe und auch im Telefonbuch eine Telefonnummer des Angeklagten nicht gefunden werden habe können. Daraufhin war der Angeklagte, erbost und verärgert über die Verlegung des Termins, ungehalten geworden und hatte geschrien:
„Was arbeiten denn hier für Leute? Da arbeiten ja die Allerschlauesten hier. Alles kriegt ihr über mich heraus und alles wisst ihr über mich, aber meine Telefonnummer nicht. Und das muss man sich als Steuerzahler alles gefallen lassen.“
Als dem Angeklagten gesagt worden war, dass er sich im Tonfall mäßigen solle, hatte er sich umgedreht und wütend die Tür der Geschäftsstelle zugeschlagen.
Mit Schreiben vom 09.10.2019 hatte sich der Angeklagte in Form einer Dienstaufsichtsbeschwerde an das Bayerische Staatsministerium der Justiz gewandt und sich darüber beschwert, dass er von der Terminsverlegung des Amtsgerichts D. nicht unterrichtet worden war. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hatte den Vorgang am 21.10.2019 an den Präsidenten des Landgerichts D. weitergeleitet. Der Präsident des Landgerichts D. hatte am 24.10.2019 eine dienstliche Stellungnahme des Richters am Amtsgericht D. angefordert. Daraufhin hatten am 28.10.2019 die Justizangestellte K. und am 29.10.2019 der Richter am Amtsgericht D. jeweils eine dienstliche Stellungnahme zur Dienstaufsichtsbeschwerde des Angeklagten abgegeben. Sodann waren die dienstlichen Stellungnahmen mit den Verfahrensakten an das Landgericht D. zur Entscheidung über die Dienstaufsichtsbeschwerde des Angeklagten übersandt worden.
2. Der Präsident des Landgerichts D. teilte dem Angeklagten auf dessen Dienstaufsichtsbeschwerde vom 09.10.2019 mit Schreiben vom 06.11.2019 mit, dass ein Anlass für ein dienstaufsichtliches Einschreiten nicht erkannt werden könne, und leitete dem Angeklagten die dienstlichen Stellungnahmen des Richters am Amtsgericht D. und der Justizangestellten K. zu. Zugleich verfügte er, das Schreiben vom 06.11.2019 an den Angeklagten (Adresse: …, … D.) zu expedieren und die Verfahrensakten an das Amtsgericht D. zur weiteren Veranlassung zurückzuleiten.
Statt der Rückleitung der Verfahrensakten an das Amtsgericht D. wurden die Verfahrensakten am 08.11.2019 von den Wachtmeistern des Landgerichts D. durch den Paketdienstleister DHL, Sendungsnummer: …, versehentlich an den Angeklagten an dessen Adresse …, … D. versandt. Ein Versuch der Zustellung des Pakets mit den Verfahrensakten am 09.11.2019 um 9:00 Uhr scheiterte zunächst daran, dass der Angeklagte nicht öffnete oder nicht zu Hause war. Der Angeklagte wurde durch Einlegung einer Benachrichtigungskarte in den Briefkasten benachrichtigt, dass die Sendung zur Abholung in die DHL-Filiale in der … in D. gebracht wurde. Sodann holte der Angeklagte am 12.11.2019 um 18:06 Uhr das Paket mit den Verfahrensakten in der DHL-Filiale in der … in D. ab und nahm es mit nach Hause.
Am 03.12.2019 gegen 14:00 Uhr und am 04.12.2019 gegen 07:00 Uhr und gegen 10:30 Uhr fuhren jeweils zwei Wachtmeister des Landgerichts D. zur Wohnung des Angeklagten …, … D. und versuchten, die Verfahrensakten zurückzuholen; dabei wurde jedoch jeweils niemand angetroffen.
Mit Schreiben des Landgerichts D. vom 04.12.2019, formlos hinausgegeben an den Angeklagten, wurde der Angeklagte gebeten, die ihm übersandten Verfahrensakten an das Landgericht D. zurückzuleiten.
Mit Schreiben des Landgerichts D. vom 19.12.2019, förmlich zugestellt an den Angeklagten, wurde der Angeklagte erneut gebeten, die ihm übersandten Verfahrensakten bis spätestens 27.12.2019 an das Landgericht D. zurückzuleiten. Ihm wurde mitgeteilt, es bestehe die Möglichkeit, nach telefonischer Rücksprache mit dem Landgericht D. unter der Telefonnummer …, einen Termin zu vereinbaren, damit die Verfahrensakten bei dem Angeklagten abgeholt werden könnten. Gleichzeitig wurde der Angeklagte darauf hingewiesen, dass widrigenfalls Strafanzeige erstattet werde. Das Schreiben vom 19.12.2019 wurde dem Angeklagten am 19.12.2019 um 09:23 Uhr zugestellt.
Eine Reaktion des Angeklagten erfolgte auf die Schreiben jedoch jeweils nicht.
3. Am 16.01.2020 fand am Amtsgericht D. um 9:45 Uhr die Hauptverhandlung im Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen Beleidigung, Az. … (hinzuverbunden: …), statt. Der Angeklagte erschien zum Termin und erklärte, dass ihm die Verfahrensakten zugeschickt worden seien, er diese jetzt aber nicht dabeihabe; er habe die Verfahrensakten nicht angefordert. Zwar habe er zwei Schreiben mit der Bitte um Rückgabe der Akten erhalten. Jedoch tue es der Justiz nicht leid, dass ihm versehentlich die Verfahrensakten zugesandt worden seien. Der zuständige Richter, Richter am Amtsgericht D., bot dem Angeklagten im Termin an, die Verfahrensakten von der Wohnung des Angeklagten auf Justizkosten per Taxi zu holen, um den Verfahrensfortgang zu gewährleisten. Der Angeklagte erklärte, dass er das nicht machen werde; wenn, dann schicke er die Verfahrensakten per Post an die Generalstaatsanwaltschaft und Auszüge aus den Verfahrensakten an die Presse. Der zuständige Richter, Richter am Amtsgericht D., wies den Angeklagten darauf hin, dass die Verfahrensakten auch durch die Polizei abgeholt werden könnten. Daraufhin erklärte der Angeklagte, dass die Polizei gerne kommen könne, die Verfahrensakten aber nicht finden werde, da die Verfahrensakten nicht bei ihm in der Wohnung seien, da er mit so etwas schon gerechnet habe. Wörtlich erklärte der Angeklagte:
„Das ist ja schon mal gut, dass Sie ohne Akten nicht verhandeln können und mich nicht verurteilen können.“
Der Angeklagte erklärte weiter, dass er die Verfahrensakten nicht an das Amtsgericht D. oder an das Landgericht D. schicken werde; wenn, dann werde er die Akten über die Generalstaatsanwaltschaft zurückgeben. Er sagte zu, dass er die Verfahrensakten bis spätestens Samstag (18.01.2020) an die Generalstaatsanwaltschaft senden werde. Die Hauptverhandlung wurde sodann ausgesetzt; der Termin endete um 10:23 Uhr.
Am 16.01.2020 gegen 14:30 Uhr begaben sich – auf Veranlassung der Staatsanwältin L. – die Wachtmeister der Staatsanwaltschaft D., Justizsicherheitsobersekretär T. und Justizsicherheitssekretär B., zur Wohnung des Angeklagten …, … D., um die Verfahrensakten dort abzuholen. Der Angeklagte öffnete den Wachtmeistern nicht, teilte ihnen jedoch über die Sprechanlage mit, dass er die Verfahrensakten heute per Post an die Generalstaatsanwaltschaft M. versandt habe; der Richter am Amtsgericht D. wisse Bescheid.
4. Nachdem der Angeklagte die Verfahrensakten in der Folge weder an das Amtsgericht D., das Landgericht D. oder die Staatsanwaltschaft D. zurückgegeben noch an die Generalstaatsanwaltschaft M. übersandt hatte, erstattete der Präsident des Landgerichts D. mit Schreiben vom 18.02.2020 an die Staatsanwaltschaft D. Strafanzeige gegen den Angeklagten wegen des Verdachts der Unterschlagung.
Am 19.03.2020 wurde die Wohnung des Angeklagten …, … D. durch Polizeibeamte der Polizeiinspektion D. durchsucht. Dabei wurden die Verfahrensakten jedoch nicht aufgefunden. Gegenüber dem sachbearbeitenden Polizeibeamten, PHM W., erklärte der Angeklagte mehrmals, dass er die Verfahrensakten unter keinen Umständen herausgeben werde. Wörtlich erklärte der Angeklagte:
„Ich werde die Akten nicht herausgeben. Lieber gehe ich in Haft.“
Der sachbearbeitende Polizeibeamte, PHM W., entgegnete dem Angeklagten, dass dieser einen Krieg gegen das Gericht bzw. die Justiz nicht gewinnen werde. Daraufhin erklärte der Angeklagte wörtlich:
„Ich muss den Krieg nicht gewinnen, aber ich gewinne die Schlacht.“
5. Obwohl der Angeklagte wusste, dass die ihm aus einem Versehen der Wachtmeister des Landgerichts D. übersandten Verfahrensakten nicht ihm, sondern dem Freistaat Bayern gehörten und dass er kein Recht zum Besitz der Verfahrensakten hatte, unterließ er es trotz mehrmaliger Aufforderung zur Herausgabe, die Verfahrensakten herauszugeben und erklärte mehrmals ausdrücklich, er werde die Verfahrensakten auch in Zukunft nicht herausgeben; stattdessen behielt er die Verfahrensakten für sich, um mit den Verfahrensakten nach eigenem Belieben zu verfahren, z.B. sie zu verstecken, zu zerstören oder wegzuwerfen. Dadurch beanspruchte der Angeklagte das Eigentum an den Verfahrensakten gegenüber den Justizbehörden des Freistaats Bayern für sich. Er handelte in der Absicht, dem Freistaat Bayern das Eigentum und den Besitz an den Verfahrensakten auf Dauer zu entziehen und die Verfahrensakten sich selbst zuzueignen.
Der Angeklagte wusste um die Beweisbedeutung der Verfahrensakten für die Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn wegen Beleidigung der Rechtsanwälte Pe. und Pr., Az. … (hinzuverbunden: Az. …), bei dem Amtsgericht D.. Dem Angeklagten war bewusst, dass die Durchführung des Strafverfahrens ohne die Herausgabe der Verfahrensakten zumindest vorläufig nicht möglich sein würde und durch die erforderliche Rekonstruktion der Verfahrensakten zumindest nicht unerheblich erschwert und verzögert sein würde; dies war gerade die Absicht des Angeklagten. Der Angeklagte beabsichtigte durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten zum einen, die staatliche Strafverfolgung zu vereiteln, zum anderen, die Rechtsanwälte Pe. und Pr., die jeweils Strafantrag gegen den Angeklagten gestellt hatten, an der erfolgreichen Durchsetzung ihres Strafinteresses zu hindern. Zugleich beabsichtigte der Angeklagte durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten, die Justizbehörden – gleichsam als Revanche – für eine von ihm als ungerecht empfundene Behandlung in der Vergangenheit, namentlich die Verurteilungen vom … (= BZR Ziffer 1) und vom … (= BZR Ziffer 2), abzustrafen.
6. Die sechs Verfahrensakten zu Az. …, Az. …, Az. …, Az. …, Az. … und Az. … konnten aus der Vorgangsverwaltung der Polizei und der elektronischen Datenverarbeitung der Justizbehörden jeweils teilweise rekonstruiert werden. Das Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen Beleidigung der Rechtsanwälte Pe. und Pr., Az. … (hinzuverbunden: Az. …), wurde mit Beschluss des Amtsgerichts D. vom 15.06.2020 gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt.
7. Die Verfahrensakten sind bis heute weder bei dem Amtsgericht D., dem Landgericht D. oder der Staatsanwaltschaft D. noch bei der Generalstaatsanwaltschaft M. eingegangen; ihr Verbleib ist im Dunkeln geblieben.
IV. Beweiswürdigung
1. Die Feststellungen unter II. zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten beruhen auf den Angaben des Angeklagten und der durchgeführten Beweisaufnahme.
Der Angeklagte hat in der Berufungshauptverhandlung am 10.03.2021 Angaben zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gemacht, jedoch zu seinem Beruf keine näheren Angaben machen wollen; hierzu hat er in der Berufungshauptverhandlung vom 02.12.2020, deren Protokoll in der Berufungshauptverhandlung vom 10.03.2021 verlesen worden ist, angegeben, er sei von Beruf „Haus- und Hofschlampe“ und „Mädchen für alles“ und mache das, was sein Chef ihm sage; in der Berufungshauptverhandlung vom 10.03.2021 hat er angegeben, er könne jetzt wieder sagen „Haus- und Hofschlampe“, jedoch habe dann die Staatsanwaltschaft wieder Arbeit; sein Beruf sei Hausmeister, Lastwagenfahrer, Geburtshelfer und Stalljunge; sein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen belaufe sich auf ca. … €.
Die näheren Feststellungen zum Beruf des Angeklagten ergeben sich aus den Angaben des Zeugen E., bei dem es sich um den Geschäftsführer der Firma P. in P. handelt; der Zeuge E. hat angegeben, dass der Angeklagte dort seit … als Hausmeister und Lastwagenfahrer beschäftigt sei; der Angeklagte hat hierzu ergänzend angegeben, er helfe auch in einer angeschlossenen Landwirtschaft bei der Versorgung von Rindern mit. Die Angaben des Zeugen E. werden durch den Arbeitsvertrag zwischen der Firma P. und dem Angeklagten vom …, der in der Berufungsverhandlung verlesen worden ist, bestätigt; sie werden ferner bestätigt, durch das Schreiben der Bundesagentur für Arbeit vom …, das in der Berufungsverhandlung verlesen worden ist. Ergänzend hat der Zeuge PHM W., der die polizeilichen Ermittlungen als Sachbearbeiter geführt hat, angegeben, der Angeklagte sei – wie er durch Rücksprache beim Hauptzollamt erfahren habe – bis zum … beim Logistikunternehmen D. in P. beschäftigt gewesen und sei seit dem … bei der Firma P. in P. beschäftigt.
Die Angaben des Angeklagten zum durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommen stimmen mit den Lohnabrechnungen der Firma P. für den Angeklagten von Oktober 2020 bis Februar 2021, die in der Berufungsverhandlung verlesen worden sind, überein.
Die Feststellungen zu den Vorstrafen des Angeklagten ergeben sich aus der Verlesung des Auszugs aus dem Bundeszentralregister vom … in der Berufungsverhandlung. Die Urteile des Amtsgerichts D. vom … (= BZR Ziffer 1) und vom … (= BZR Ziffer 2) sind in der Berufungshauptverhandlung auszugsweise verlesen worden.
2. Die Feststellungen unter III. zum Tatgeschehen beruhen auf den teilgeständigen Einlassungen des Angeklagten und der durchgeführten Beweisaufnahme.
a) Der Angeklagte hat eingeräumt, die Verfahrensakten erhalten zu haben; den Verbleib der Verfahrensakten hat er jedoch – über Andeutungen hinaus – nicht preisgeben wollen. In der Berufungshauptverhandlung vom 10.03.2021 hat er angegeben, er habe bei seinem Umgang mit den Verfahrensakten möglicherweise den gelben Briefkasten der D. P. AG mit der blauen Tonne für die Entsorgung von Papiermüll verwechselt; er habe die Verfahrensakten nicht mehr. Im Übrigen sei die ganze Angelegenheit eine persönliche Sache zwischen ihm und Herrn Dr. N., dem Präsidenten des Landgerichts D.; er könne nicht verstehen, dass ihm vorgeworfen werde, was Herr Dr. N. „verbockt“ habe. Bereits in der Berufungshauptverhandlung vom 02.12.2020, deren Protokoll in der Berufungshauptverhandlung vom 10.03.2021 verlesen worden ist, hat der Angeklagte angegeben, er habe die Akten bekommen und sie durchgestöbert; dabei sei er erschrocken gewesen, wie Staatsanwälte und Richter arbeiten, insbesondere, wie sie mit Rechtsanwälten kommunizieren; für ihn sei das eine „Freunderlwirtschaft“; irgendwann seien die Akten halt verloren gegangen; möglicherweise seien sie in der blauen Tonne gelandet.
b) Die näheren Feststellungen zur Vorgeschichte unter III.1. ergeben sich zunächst aus der Verlesung der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft D. vom 11.03.2019, Az. …, und der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft D. vom 02.07.2019, Az. …, in der Berufungshauptverhandlung. Die Verbindung der beiden Verfahren, Az. … und Az. …, durch das Amtsgericht D. ergibt sich aus dem Beschluss des Amtsgerichts D. vom 06.08.2019, der in der Berufungshauptverhandlung verlesen worden ist. Die Bestimmung des Termins zur Hauptverhandlung mit Verfügung vom 06.08.2019 auf 08.10.2019, 9.45 Uhr und die Beiziehung der Vorstrafenakten des Angeklagten nebst unterbundenen Verfahrensakten ergibt sich aus den Angaben des Zeugen R. am Amtsgericht D. und der Zeugin J1. K. in der Berufungshauptverhandlung. Weiter haben der Zeuge R. am Amtsgericht D. und die Zeugin J1. K. übereinstimmend bekundet, dass der Termin zur Hauptverhandlung vom 08.10.2019, 9.45 Uhr, mit Verfügung vom 07.10.2019 wegen einer Erkrankung des zuständigen Richters, Richter am Amtsgericht D., auf 16.01.2020, 9.45 Uhr, verlegt worden sei, eine telefonische Abladung des Angeklagten jedoch nicht erfolgen habe können, weil sich in den Verfahrensakten keine Telefonnummer des Angeklagten befunden habe und auch im Telefonbuch eine Telefonnummer des Angeklagten nicht gefunden werden habe können. Die näheren Feststellungen zum Auftreten des Verurteilten am 08.10.2019 auf der Geschäftsstelle der Strafabteilung des Amtsgerichts D. ergeben sich aus den Angaben der Zeugin J1. K., die über das Verhalten und die Äußerungen des Angeklagten, der über die Verlegung des Termins erbost und verärgert gewesen sei und deshalb auf der Geschäftsstelle ungehalten geworden sei und herumgeschrien habe, glaubhaft berichtet hat; ergänzend wurde der Aktenvermerk der Zeugin J1. K. vom 28.10.2019, in dem das Verhalten und die Äußerungen des Angeklagten am 08.10.2019 auf der Geschäftsstelle der Strafabteilung des Amtsgerichts D. dokumentiert sind, in der Berufungshauptverhandlung verlesen. Die näheren Feststellungen zur Dienstaufsichtsbeschwerde des Angeklagten vom 09.10.2019 und deren Bearbeitung durch das Landgericht D. ergeben sich aus der Verlesung des Schreibens des Angeklagten an das Bayerische Staatsministerium der Justiz vom 09.10.2019, des Schreibens des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz an den Angeklagten vom 21.10.2019, der dienstlichen Stellungnahme der Justizangestellten K. vom 28.10.2019 und der dienstlichen Stellungnahme des Richters am Amtsgericht D. vom 29.10.2019; die letztgenannte Stellungnahme vom 29.10.2019 hat die Verfügung enthalten, die Stellungnahme mit den Verfahrensakten an das Landgericht D. zu übersenden; die tatsächliche Übersendung der Verfahrensakten an das Landgericht D. zur Entscheidung über die Dienstaufsichtsbeschwerde des Angeklagten haben die Zeugen R. am Amtsgericht D., Justizangestellte K. und Justizhauptsekretärin Z. übereinstimmend bestätigt.
c) Die Entscheidung des Präsidenten des Landgerichts D. über die Dienstaufsichtsbeschwerde des Angeklagten vom 09.10.2019 und die Zuleitung der dienstlichen Stellungnahme des Richters am Amtsgericht D. und der Justizangestellten K. an den Angeklagten ergibt sich – wie unter III.2. festgestellt – aus der Verlesung des Schreibens des Präsidenten des Landgerichts D. vom 06.11.2019 in der Berufungshauptverhandlung; aus der verlesenen Verfügung, die auf die Urschrift des Schreibens vom 06.11.2019 gesetzt ist, ergibt sich, dass angeordnet worden ist, die Verfahrensakten an das Amtsgericht D. zur weiteren Veranlassung zurückzuleiten.
Die näheren Feststellungen unter III.2. zur versehentlichen Versendung der Verfahrensakten an den Angeklagten am 08.11.2019 beruhen auf der Verlesung des Auszugs aus der DHL-Sendungsverfolgung vom 08.11.2019. Hieraus ergibt sich, dass am 08.11.2019 ein Paket mit einem Gewicht von 4,6 kg von dem Absender „Amts- und Landgericht D., …, … D.“ an den Empfänger „N. N., …, … D.“ unter der Sendungsnummer: … versandt worden ist; weiter ergibt sich daraus, dass die Sendung am 09.11.2019 um 9:00 Uhr an den Angeklagten nicht zugestellt werden hat können und der Angeklagte durch Einlegung einer Benachrichtigungskarte in den Briefkasten benachrichtigt worden ist, dass die Sendung zur Abholung in die DHL-Filiale in der … in D. gebracht worden ist; schließlich ergibt sich daraus, dass der Angeklagte die Sendung am 12.11.2019 um 18:06 Uhr in der DHL-Filiale in der … in D. abgeholt hat.
Die Abholversuche durch zwei Wachtmeister des Landgerichts D. am 03.12.2019 und am 04.12.2019 ergeben sich – wie unter III.2. festgestellt – aus den Angaben der Zeugin J1. K., die berichtet hat, dass am 03.12.2019 und am 04.12.2019 jeweils zwei Wachtmeister zur Wohnung des Angeklagten gefahren seien und versucht hätten, die Verfahrensakten zu holen, wobei jedoch niemand angetroffen worden sei; ergänzend wurden in der Berufungshauptverhandlung der Aktenvermerk der Justizangestellten K. vom 16.12.2019 verlesen, in dem dokumentiert ist, dass die Abholversuche durch die Wachtmeister des Landgerichts D. am 03.12.2019 gegen 14:00 Uhr und am 04.12.2019 gegen 7:00 Uhr und gegen 10:30 Uhr stattgefunden haben.
Die näheren Feststellungen unter III.2. zur Aufforderung des Angeklagten durch das Landgericht D., die Verfahrensakten zurückzugeben, beruhen auf den Angaben der Zeugin J2. Z., die in der Verwaltung des Landgerichts D. tätig ist und mit der Bearbeitung der Dienstaufsichtsbeschwerde des Angeklagten und mit der Angelegenheit der Übersendung und Rückforderung der Verfahrensakten befasst gewesen ist, in der Berufungshauptverhandlung; sie hat bekundet, dass der Angeklagte mit Schreiben vom 04.12.2019, formlos hinausgegeben, und mit Schreiben vom 19.12.2019, förmlich zugestellt, jeweils gebeten worden sei, die ihm zugeleiteten Verfahrensakten an das Landgericht D. zurückzuleiten; die Schreiben des Landgerichts D. vom 04.12.2019 und vom 19.12.2019 sind in der Berufungshauptverhandlung verlesen worden; ferner ist die Postzustellungsurkunde zum Schreiben vom 19.12.2019 verlesen worden; hieraus ergibt sich, dass das Schreiben vom 19.12.2019 dem Angeklagten am 19.12.2019 um 9:23 Uhr zugestellt worden ist. Die Zeugin J2. Z. hat überdies bekundet, dass eine Reaktion des Angeklagten auf die Schreiben jeweils nicht erfolgt sei.
d) Die näheren Feststellungen unter III.3. zum Verhalten und zu den Äußerungen des Angeklagten in der Hauptverhandlung am 16.01.2020 um 9:45 Uhr am Amtsgericht D. beruhen auf den Angaben des Zeugen R. am Amtsgericht D., der als zuständiger Richter die Hauptverhandlung geleitet hat, und der Zeugin J1. K., die als Protokollführerin in der Hauptverhandlung eingesetzt gewesen ist. Die Zeugen haben übereinstimmend angegeben, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung erklärt habe, dass ihm die Verfahrensakten zugeschickt worden seien, er diese jetzt aber nicht dabeihabe; er habe die Verfahrensakten nicht angefordert. Weiter habe der Angeklagte erklärt, er habe zwar zwei Schreiben mit der Bitte um Rückgabe der Akten erhalten, jedoch tue es der Justiz nicht leid, dass ihm versehentlich die Verfahrensakten zugesandt worden seien. Dem Angeklagten sei durch den zuständigen Richter, Richter am Amtsgericht D., angeboten worden die Verfahrensakten von der Wohnung des Angeklagten auf Justizkosten per Taxi zu holen, um den Verfahrensfortgang zu gewährleisten. Daraufhin habe der Angeklagte erklärt, dass er das nicht machen werde; wenn, dann schicke er die Verfahrensakten per Post an die Generalstaatsanwaltschaft und Auszüge aus den Verfahrensakten an die Presse. Auf den Hinweis des zuständigen Richters, Richter am Amtsgericht D., dass die Verfahrensakten auch durch die Polizei abgeholt werden könnten, habe der Angeklagte erklärt, dass die Polizei gerne kommen könne, die Verfahrensakten aber nicht finden werde, da die Verfahrensakten nicht bei ihm in der Wohnung seien, da er mit so etwas schon gerechnet habe. Der Angeklagte habe wörtlich erklärt: „Das ist ja schon mal gut, dass Sie ohne Akten nicht verhandeln können und mich nicht verurteilen können.“ Der Angeklagte habe weiter erklärt, dass er die Verfahrensakten nicht an das Amtsgericht D. oder an das Landgericht D. schicken werde. Wenn, dann werde er die Akten über die Generalstaatsanwaltschaft zurückgeben; diesbezüglich habe er zugesagt, dass er die Verfahrensakten bis spätestens Samstag (18.01.2020) an die Generalstaatsanwaltschaft senden werde. Die Angaben der Zeugen stimmen überein mit dem Protokoll der Hauptverhandlung des Amtsgerichts D. vom 16.01.2020, das in der Berufungshauptverhandlung auszugsweise verlesen worden ist; daraus ergibt sich im Übrigen, dass die Hauptverhandlung ausgesetzt worden ist.
Der Abholversuch vom 16.01.2020 ergibt sich – wie unter III.3. festgestellt – aus den Angaben der Zeugen J3. T. und Justizsicherheitssekretär B., die als Wachtmeister der Staatsanwaltschaft D. tätig gewesen sind, in der Berufungshauptverhandlung; die Zeugen haben übereinstimmend geschildert, dass sie sich am 16.01.2020 gegen 14:30 Uhr auf Veranlassung der Staatsanwältin L. zur Wohnung des Angeklagten begeben haben, um die Verfahrensakten dort abzuholen; der Angeklagte habe den Wachtmeistern nicht geöffnet, habe ihnen jedoch über die Sprechanlage mitgeteilt, dass er die Verfahrensakten heute per Post an die Generalstaatsanwaltschaft M. versandt habe; der Richter am Amtsgericht D. wisse Bescheid. Die Angaben der Zeugen stimmen überein mit dem in der Berufungshauptverhandlung verlesenen Aktenvermerk des Justizsicherheitsobersekretärs T. und des Justizsicherheitssekretärs B. vom 16.01.2020 und dem Aktenvermerk der Staatsanwältin L. vom 16.01.2020, die in der Berufungshauptverhandlung verlesen worden sind.
e) Die näheren Feststellungen unter III.4. zur Einleitung und Durchführung der Ermittlungen gegen den Angeklagten wegen Unterschlagung der Verfahrensakten beruhen zunächst auf der Verlesung des Schreibens des Präsidenten des Landgerichts D. vom 18.02.2020 an die Staatsanwaltschaft D., in dem der Präsident des Landgerichts D. Strafanzeige gegen den Angeklagten wegen des Verdachts der Unterschlagung gestellt hat. Die Nichtauffindung der Verfahrensakten und das Verhalten und die Äußerungen des Angeklagten im Rahmen der Durchsuchung vom 19.03.2020 hat der Zeuge PHM W., der die polizeilichen Ermittlungen als Sachbearbeiter geführt hat und bei der Durchsuchung in der Wohnung des Angeklagten am 19.03.2020 zugegen gewesen ist, in der Berufungshauptverhandlung glaubhaft geschildert; er hat bekundet, dass die Wohnung des Angeklagten am 19.03.2020 durch Polizeibeamte der Polizeiinspektion D. durchsucht worden sei; die Verfahrensakten seien jedoch nicht aufgefunden worden. Im Rahmen der Durchsuchung habe der Angeklagte ihm gegenüber mehrmals erklärt, dass er die Verfahrensakten unter keinen Umständen herausgeben werde; wörtlich habe der Angeklagte erklärt: „Ich werde die Akten nicht herausgeben. Lieber gehe ich in Haft.“ Auf den Hinweis, dass der Angeklagte einen Krieg gegen das Gericht bzw. die Justiz nicht gewinnen werde, habe der Angeklagte wörtlich erklärt: „Ich muss den Krieg nicht gewinnen, aber ich gewinne die Schlacht.“
f) Die näheren Feststellungen unter III.5. zur inneren Tatseite ergeben sich aus dem Verhalten und den Äußerungen des Angeklagten. Aus den Angaben der Zeugen R. am Amtsgericht D., Justizangestellte K., Justizhauptsekretärin Z., Justizsicherheitsobersekretär T. und Justizsicherheitssekretär B. sowie aus der Verlesung des Schreibens des Landgerichts D. vom 04.12.2019 und vom 19.12.2019, die der Angeklagte nach seinen eigenen Angaben in der Hauptverhandlung vom 16.01.2020, über die die Zeugen D. und K. berichtet haben, erhalten und zur Kenntnis genommen hat, ergibt sich, dass der Angeklagte mehrmals zur Herausgabe der Verfahrensakten aufgefordert worden ist, wobei er, wie sich aus den Angaben der Zeugen R. am Amtsgericht D., Justizangestellte K. und PHM W. ergibt, die Herausgabe der Verfahrensakten mehrmals ausdrücklich verweigert hat; dies lässt darauf schließen, dass der Angeklagte die Verfahrensakten für sich behalten hat wollen, um mit den Verfahrensakten nach eigenem Belieben zu verfahren, z. B. sie zu verstecken, zu zerstören oder – worauf die Andeutung des Angeklagten, die Verfahrensakten seien möglicherweise in der blauen Tonne gelandet, hinweist – wegzuwerfen. Aufgrund der mehrfachen Aufforderung an den Angeklagten, die Verfahrensakten herauszugeben, die der Angeklagte zur Kenntnis genommen hat, besteht kein Zweifel, dass dem Angeklagten zu jeder Zeit bewusst gewesen ist, dass die Verfahrensakten dem Freistaat Bayern gehören; sein Verhalten und seine Äußerungen lassen indessen darauf schließen, dass er die Verfahrensakten für sich behalten hat wollen, als stünde ihm selbst das Eigentum an den Verfahrensakten zu.
Dass der Angeklagte um die Beweisbedeutung der Verfahrensakten für die Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn wegen Beleidigung der Rechtsanwälte Pe. und Pr. gewusst hat und dem Angeklagten bewusst gewesen ist, dass die Durchführung des Strafverfahrens ohne die Herausgabe der Verfahrensakten zumindest vorläufig nicht möglich sein würde und durch die erforderliche Rekonstruktion der Verfahrensakten zumindest nicht unerheblich erschwert und verzögert sein würde, steht fest aufgrund der Äußerung des Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 16.01.2020 am Amtsgericht D., über die die Zeugen R. am Amtsgericht D. und Justizangestellte K. glaubhaft berichtet haben und die im Protokoll der Hauptverhandlung vom 16.01.2020 am Amtsgericht D., das in der Berufungshauptverhandlung auszugsweise verlesen worden ist, dokumentiert ist, wonach es gut sei, dass der Richter ohne Akten nicht verhandeln könne und ihn nicht verurteilen könne. Dies führt zu dem Schluss, dass der Beweggrund und die Absicht des Angeklagten hinsichtlich der Nichtherausgabe der Verfahrensakten darin bestanden, durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten zum einen die staatliche Strafverfolgung zu vereiteln, zum anderen, die Rechtsanwälte Pe. und Pr. an der erfolgreichen Durchsetzung ihres Strafinteresses zu hindern. Daneben lassen das Verhalten und die Äußerungen des Angeklagten darauf schließen, dass er durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten die Justizbehörden – gleichsam als Revanche – für eine von ihm als ungerecht empfundene Behandlung in der Vergangenheit abstrafen hat wollen; so hat der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung deutlich gemacht, dass er sich durch die Verurteilungen vom … (= BZR Ziffer 1) und vom … (= BZR Ziffer 2) ungerecht behandelt fühle, weil er die dort festgestellten Taten nicht begangen habe; er ist in der Berufungshauptverhandlung nicht müde geworden, sich über die behauptete Inkompetenz der Justizbediensteten zu echauffieren und sich als Opfer eines kollusiven Zusammenwirkens von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten darzustellen.
g) Die Verfahrensakten haben, wie der Zeuge R. am Amtsgericht D. bekundet hat, aus der Vorgangsverwaltung der Polizei und der elektronischen Datenverarbeitung der Justizbehörden – wie unter III.6. festgestellt – jeweils teilweise rekonstruiert werden können; sie werden im gegenständlichen Strafverfahren als Beiakten geführt. Das Strafverfahren gegen den Angeklagten wegen Beleidigung der Rechtsanwälte Pe. und Pr. ist mit Beschluss des Amtsgerichts D. vom 15.06.2020, wie der Zeuge R. am Amtsgericht D. bekundet hat, gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden.
h) Die Nichtrückgabe der Verfahrensakten ergibt sich – wie unter III.7. festgestellt – aus den Angaben der Zeugin J2. Z., die in der Verwaltung des Landgerichts D. mit der Angelegenheit der Übersendung und Rückforderung der Verfahrensakten befasst gewesen ist; sie hat in der Berufungshauptverhandlung angegeben, dass die Verfahrensakten bis heute weder bei dem Amtsgericht D., dem Landgericht D. oder der Staatsanwaltschaft D. noch bei der Generalstaatsanwaltschaft M. eingegangen sind; der Angeklagte hat diesbezüglich selbst angedeutet, die Verfahrensakten weggeworfen zu haben.
V. Rechtliche Würdigung
Der Angeklagte hat sich aufgrund des unter III. festgestellten Sachverhalts wegen Urkundenunterdrückung gemäß § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht.
1. Der Angeklagte hat rechtswidrig und schuldhaft den objektiven und subjektiven Tatbestand der Urkundenunterdrückung gemäß § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt.
Danach wird bestraft, wer eine Urkunde oder eine technische Aufzeichnung, welche ihm entweder überhaupt nicht oder nicht ausschließlich gehört, in der Absicht, einem anderen Nachteil zuzufügen, vernichtet, beschädigt oder unterdrückt.
Bei den sechs gegenständlichen Verfahrensakten zu Az. …, Az. …, Az. …, Az. …, Az. … und Az. …, die dem Angeklagten übersandt worden sind, handelt es sich jeweils um Urkunden im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB, nämlich aufgrund der festen und dauerhaften Zusammenfassung mehrerer Einzelurkunden zu einem Ganzen, das einen über die Einzelurkunden hinausgehenden Gedankeninhalt beweisen kann, um sog. Gesamturkunden (vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 267 Rn. 23).
Die Verfahrensakten gehörten nicht dem Angeklagten, sondern dem Freistaat Bayern als Rechtsträger der Justizbehörden; dem Angeklagten stand ein Verfügungsrecht über die Verfahrensakten nicht zu.
Der Angeklagte hat die Verfahrensakten jeweils unterdrückt im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Ein Unterdrücken setzt voraus, dass die Urkunde der Benutzung des Berechtigten zu Beweiszwecken entzogen wird; ein dauerndes Vorenthalten oder eine besondere Heimlichkeit (Verstecken) sind nicht vorausgesetzt; es genügt die Verweigerung der Herausgabe (vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 274 Rn. 6). Nach den getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte die Herausgabe der Verfahrensakten trotz mehrmaliger Aufforderung mehrmals ausdrücklich verweigert und die Verfahrensakten den Justizbehörden auf Dauer entzogen; er hat die Verfahrensakten bis heute – d.h. ca. ein Jahr und vier Monate, nachdem sie in seinen Gewahrsam gelangt sind – nicht herausgegeben. Der Verbleib der Verfahrensakten ist nicht bekannt; der Angeklagte hat ihn – über Andeutungen hinaus – nicht preisgeben wollen.
Der Angeklagte handelte mit Vorsatz. Er wusste um die Beweisbedeutung der Verfahrensakten für die Durchführung des Strafverfahrens gegen ihn wegen Beleidigung der Rechtsanwälte Pe. und Pr., Az. … (hinzuverbunden: Az. …), bei dem Amtsgericht D.. Ihm war bewusst, dass die Durchführung des Strafverfahrens ohne die Herausgabe der Verfahrensakten zumindest vorläufig nicht möglich sein würde und durch die erforderliche Rekonstruktion der Verfahrensakten zumindest nicht unerheblich erschwert und verzögert sein würde; dies war gerade die Absicht des Angeklagten.
Der Angeklagte handelte auch in der Absicht, einem anderen Nachteil zuzufügen im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Zum einen beabsichtigte der Angeklagte durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten, die staatliche Strafverfolgung zu vereiteln. Dies hat er in der Hauptverhandlung am 16.01.2020 am Amtsgericht D. im Strafverfahren wegen Beleidigung, Az. …, mehr als deutlich gemacht, indem er gegenüber dem Richter erklärt hat, es sei schon mal gut, dass der Richter ohne die Verfahrensakten nicht verhandeln könne und ihn nicht verurteilen könne. Dabei hat die Kammer in den Blick genommen, dass die Frage, ob eine Vereitelung der staatlichen Strafverfolgung unter die Nachteilszufügungsabsicht im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB fällt, in der Rechtsprechung und im Schrifttum unterschiedlich beantwortet wird. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, eine Vereitelung der staatlichen Strafverfolgung werde nicht von der Nachteilszufügungsabsicht im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfasst, weil insofern kein „anderer“ im Sinne der Vorschrift benachteiligt werde (vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 274 Rn. 9; Schönke/Schröder/Heine/Schuster, StGB, 30. Auflage 2019, § 274 Rn. 16; BGH, Beschluss vom 15.07.2010, Az. 4 StR 164/10; BGH, Urteil vom 27.01.2016, Az. 5 StR 328/15; AG Rosenheim, Urteil vom 30.05.2007, Az. 7 Cs 410 Js 25698/06). Dagegen wird zum Teil die Auffassung vertreten, auch die Vereitelung der staatlichen Strafverfolgung werde von der Nachteilszufügungsabsicht im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfasst, weil auch der Staat als „anderer“ im Sinne der Vorschrift von der Beeinträchtigung des Beweisführungsrechts betroffen sein könne (vgl. Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Puppe/Schumann, StGB, 5. Auflage 2017, § 274 Rn. 14; Münchener Kommentar/Freund, StGB, 3. Auflage 2019, § 274 Rn. 52 ff.; Schneider NStZ 1993, 16; Zieschang, HRRS 2013, 49); der 1. Strafsenat des BGH scheint der letztgenannten Auffassung zuzuneigen, hat die Frage jedoch im Ergebnis offengelassen (vgl. BGH, Beschluss vom 27.07.2012, Az. 1 StR 238/12). Die Kammer schließt sich der letztgenannten Auffassung an. Denn es besteht weder nach dem Wortlaut der Vorschrift, noch nach der Einordnung des Tatbestandes in die Systematik des Strafgesetzbuchs, noch nach dem Schutzzweck der Norm ein überzeugender Grund, die Vereitelung der staatlichen Strafverfolgung aus dem Tatbestand des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB auszunehmen. Eine Nachteilszufügung zulasten des Staates – hier im Sinne der Vereitelung der staatlichen Strafverfolgung – lässt sich zwanglos unter den Wortlaut der Vorschrift subsumieren; ein „anderer“ im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB, dem der Beweisnachteil erwachsen soll, kann durchaus der Staat als Hoheitsträger sein. Im Strafgesetzbuch finden sich zahlreiche Tatbestände, die den Staat als solchen bzw. in der Ausübung öffentlicher Funktionen schützen; daher bestehen keine Bedenken, den Staat als „anderen“ im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB zu begreifen (vgl. Schneider, NStZ 1993, 16, 19). Ein Nachteil im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann auch ein öffentliches Interesse, z.B. das Strafverfolgungsinteresse, betreffen. Die Beeinträchtigung des Beweisführungsrechts im Bereich der Ahndung von Straftaten stellt eine Benachteiligung der staatlichen Strafrechtspflege dar, bei der es sich – wie der Tatbestand der Strafvereitelung (§ 258 StGB) zeigt – um ein strafrechtlich geschütztes Rechtsgut handelt; die Beeinträchtigung der staatlichen Strafrechtspflege ist eine Rechtsgutsverletzung; es besteht daher kein überzeugender Grund, weshalb der Staat im Bereich der Ahndung von Straftaten am Schutz des Beweisführungsrechts gemäß § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht teilhaben sollte (vgl. Schneider, NStZ 1993, 16, 18).
Zum anderen beabsichtigte der Angeklagte durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten – über die Vereitelung der staatlichen Strafverfolgung hinaus – die Rechtsanwälte Pe. und Pr., die jeweils Strafantrag gegen den Angeklagten gestellt hatten, an der erfolgreichen Durchsetzung ihres Strafinteresses zu hindern. Dies lässt sich zwanglos aus der Erklärung des Angeklagten in der Hauptverhandlung am 16.01.2020 im Strafverfahren wegen Beleidigung, Az. …, folgern, wonach es gut sei, dass der Richter ohne die Verfahrensakten nicht verhandeln könne und ihn nicht verurteilen könne; die sich daraus ergebende Benachteiligung der Rechtsanwälte Pe. und Pr. bei der Durchsetzung ihres Strafinteresses infolge der Beeinträchtigung des Beweisführungsrechts durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten liegt auf der Hand. In diesem Sinne hat der 4. Strafsenat des BGH für den Fall, dass durch eine Straftat – wie hier durch die dem Angeklagten zur Last gelegten Beleidigungen zum Nachteil der vorgenannten Rechtsanwälte – private Interessen verletzt sind, eine Absicht, dem Verletzten einen Nachteil zuzufügen, ausdrücklich für möglich gehalten (vgl. BGH, Beschluss vom 15.07.2010, Az. 4 StR 164/10). Dabei ist der Umstand, dass die zu Benachteiligenden, die Rechtsanwälte Pe. und Pr., und der Eigentümer der Verfahrensakten, der Freistaat Bayern, als Beweisführungsberechtigter insofern nicht personenidentisch sind, unschädlich; dies ist für die Nachteilszufügungsabsicht im Sinne des § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht erforderlich (vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 274 Rn. 9a; BGH, Beschluss vom 15.07.2010, Az. 4 StR 164/10).
Im Übrigen steht der Strafbarkeit des Angeklagten – nach den Gegebenheiten des Einzelfalles – nicht das Privileg der Selbstbegünstigung entgegen, das für den Tatbestand der Strafvereitelung in § 258 Abs. 5 StGB gesetzlich normiert ist. Zwar handelte der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen in der Absicht, die Strafverfolgung gegen ihn wegen Beleidigung der Rechtsanwälte Pe. und Pr. zu vereiteln. Jedoch gilt das Privileg der Selbstbegünstigung gemäß § 258 Abs. 5 StGB zum einen allein für den Tatbestand der Strafvereitelung als solchen, nicht aber für andere Tatbestände – wie hier für den Tatbestand der Urkundenunterdrückung (vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 258 Rn. 36). Zum anderen hat die Kammer – unter Berücksichtigung des nemo-tenetur-Grundsatzes – in den Blick genommen, dass dem Angeklagten ein Verfügungsrecht an den ihm übersandten Verfahrensakten zu keinem Zeitpunkt zugestanden hat; der Angeklagte ist daher in jedem Fall – unabhängig von der Frage einer Selbstbelastung – zur Herausgabe der Verfahrensakten verpflichtet gewesen. Es ging daher – anders als z.B. in den Fällen der Nichtherausgabe von Schaublättern eines Fahrtenschreibers (vgl. hierzu BayObLG, Beschluss vom 21.07.1988, Az. RReg 2 St 134/88; Schneider, NStZ 1993, 16, 21 ff.) – nicht darum, durch die Herausgabe der Verfahrensakten die Beweismittel für die dem Angeklagten zur Last gelegten Straftaten für die staatliche Strafverfolgung erst zu schaffen und den staatlichen Strafverfolgungsbehörden erst zur Verfügung zu stellen; denn die Verfahrensakten sind durch die Justizbehörden angelegt worden und haben sich bis zur versehentlichen Versendung an den Angeklagten in der Verfügungsgewalt der Justizbehörden befunden; sie stammen nicht aus der Sphäre des Angeklagten. Die selbstbegünstigungsmotivierte Nichtherausgabe der Verfahrensakten durch den Angeklagten ist daher einer Privilegierung nicht zugänglich.
2. Zugleich hat der Angeklagte rechtswidrig und schuldhaft den objektiven und subjektiven Tatbestand der Unterschlagung gemäß § 246 Abs. 1 StGB erfüllt.
Danach wird bestraft, wer eine fremde bewegliche Sache sich oder einem Dritten rechtswidrig zueignet, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.
Die Zueignung im Sinne des § 246 Abs. 1 StGB besteht darin, dass der Täter die Sache oder den in ihr verkörperten Sachwert mit Ausschlusswirkung gegenüber dem Eigentümer seinem eigenen oder dem Vermögen eines Dritten in der Weise zuführt, dass er selbst oder der Dritte zum Scheineigentümer wird (vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 246 Rn. 5). Dabei reicht es nach ständiger Rechtsprechung aus, dass der Zueignungswille des Täters durch eine nach außen erkennbare Handlung betätigt wird (sog. Manifestationstheorie, vgl. BGH, Urteil vom 19.06.1951, Az. 1 StR 42/51; BGH, Beschluss vom 07.12.1959, Az. GSSt 1/59; BGH, Urteil vom 17.03.1987, Az. 1 StR 693/86; BGH, Urteil vom 06.09.2006, Az. 5 StR 156/06); als Manifestation des Zueignungswillens genügen Verhaltensweisen, in denen sich der Zueignungswille objektiviert.
Nach den getroffenen Feststellungen wusste der Angeklagte, dass die ihm aus einem Versehen der Wachtmeister des Landgerichts D. übersandten Verfahrensakten nicht ihm, sondern dem Freistaat Bayern gehörten und dass er kein Recht zum Besitz der Verfahrensakten hatte. Er beabsichtigte, dem Freistaat Bayern das Eigentum und den Besitz an den Verfahrensakten auf Dauer zu entziehen und die Verfahrensakten sich selbst zuzueignen. Seinen Zueignungswillen manifestierte er dadurch, dass er es trotz mehrmaliger Aufforderung zur Herausgabe unterließ, die Verfahrensakten herauszugeben, wobei er mehrmals ausdrücklich erklärte, er werde die Verfahrensakten auch in Zukunft nicht herausgeben; stattdessen behielt er die Verfahrensakten für sich, um mit den Verfahrensakten nach eigenem Belieben zu verfahren, z.B. sie zu verstecken, zu zerstören oder wegzuwerfen; dadurch verfügte der Angeklagte über die Verfahrensakten wie ein Eigentümer.
Der Tatbestand der Unterschlagung, der in § 246 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist, tritt jedoch im Wege der Gesetzeskonkurrenz wegen Subsidiarität („wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist“) hinter dem Tatbestand der Urkundenunterdrückung, der in § 274 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist, zurück. Zwar wird im Schrifttum zum Teil die Auffassung vertreten, die Subsidiaritätsklausel des § 246 Abs. 1 StGB erfasse allein solche „anderen“ Delikte, die sich gegen das Eigentum oder das Vermögen richten (vgl. Fischer, StGB, 67. Auflage 2020, § 246 Rn. 23 ff.; Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Auflage 2019, § 246 Rn. 32). Dagegen ist die Subsidiaritätsklausel des § 246 Abs. 1 StGB nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der die Kammer beitritt, nicht auf Zueignungs- oder Vermögensdelikte beschränkt, sondern gilt für alle Delikte mit höherer Strafdrohung, unabhängig von ihrer Schutzrichtung (vgl. BGH, Beschluss vom 09.09.1997, Az. 1 StR 730/96; BGH, Urteil vom 06.02.2002, Az. 1 StR 513/01; BGH, Beschluss vom 24.07.2014, Az. 3 StR 188/14). Der Wortlaut der Subsidiaritätsklausel des § 246 Abs. 1 StGB gestattet unter Berücksichtigung des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG keine Beschränkung der Subsidiarität auf Zueignungs- und Vermögensdelikte; ein entsprechender Wille des Gesetzgebers ist im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck gebracht (so auch Münchener Kommentar/Hohmann, StGB, 3. Auflage 2017, § 246 Rn. 61). Der Tatbestand der Unterschlagung tritt aufgrund der gesetzlich angeordneten Subsidiarität mithin gegenüber dem Tatbestand der Urkundenunterdrückung zurück.
3. Der Strafbarkeit des Angeklagten steht auch nicht die Vorschrift des § 241a BGB entgegen, wonach unverlangt zugesandte Sachen im Verhältnis zwischen Unternehmer und Verbraucher unter den näheren Voraussetzungen des § 241a BGB einem Herausgabeanspruch nicht unterliegen. Die Vorschrift kann auf den gegenständlichen Fall jedoch nicht herangezogen werden, weder direkt, noch analog, noch dem Rechtsgedanken nach (vgl. zur Bedeutung des § 241a BGB im Strafrecht Tachau, Ist das Strafrecht strenger als das Zivilrecht? – Zur Problematik des § 241a BGB, 2005, S. 140 ff.). Denn die Vorschrift des § 241a BGB, die in Umsetzung der Fernabsatzrichtlinie in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt worden ist und bei der es sich im Kern um eine wettbewerbsrechtliche Vorschrift handelt, die den Verbraucher vor anstößigen und belästigenden Vertriebsformen schützen soll, erfasst in Bezug auf unbestellte Leistungen im Unternehmer-Verbraucher-Verhältnis eine spezifische Fallgestaltung, die mit der hier gegenständlichen Fallgestaltung einer versehentlichen Zusendung von Verfahrensakten durch ein Gericht – außerhalb eines Unternehmer-Verbraucher-Verhältnisses – weder nach dem Schutzzweck der Norm noch nach der Interessenlage der Beteiligten vergleichbar ist (vgl. Tachau, a.a.O., S. 136 ff.). Sie steht daher weder einem Herausgabeanspruch des Freistaats Bayern als Rechtsträger der Justizbehörden gegen den Angeklagten noch einer Strafbarkeit des Angeklagten wegen der Nichtherausgabe der Verfahrensakten entgegen.
VI. Strafzumessung
Nach den Feststellungen der Kammer hat sich der Angeklagte wegen Urkundenunterdrückung gemäß § 274 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht; der Strafrahmen des § 274 Abs. 1 StGB sieht Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe vor.
Bei der Bemessung der Strafe hat die Kammer zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass er sich teilgeständig eingelassen hat; er hat eingeräumt, die Verfahrensakten erhalten zu haben, wenngleich er deren Verbleib – über Andeutungen hinaus – nicht preisgeben hat wollen. Überdies hat die Kammer zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Versendung der Verfahrensakten an den Angeklagten nicht auf einem Verhalten des Angeklagten, sondern auf einem Versehen der Wachtmeister des Landgerichts D. beruht; statt die Verfahrensakten, wie von dem Präsidenten des Landgerichts D. am 06.11.2019 verfügt, an das Amtsgericht D. zurückzuleiten, sind die Verfahrensakten durch die Wachtmeister des Landgerichts D. versehentlich an den Angeklagten versandt worden; die Grundlage für die darauffolgende Urkundenunterdrückung des Angeklagten ist mithin in der Sphäre der Justizbehörden gelegt worden; der Angeklagte hat die Verfahrensakten zu keinem Zeitpunkt angefordert. Daneben hat die Kammer zugunsten des Angeklagten – nach dem Rechtsgedanken des § 258 Abs. 5 StGB – berücksichtigt, dass der Angeklagte die Urkundenunterdrückung (auch) aus dem Beweggrund der Selbstbegünstigung begangen hat; der Angeklagte handelte (auch) in der Absicht, die Strafverfolgung gegen ihn wegen Beleidigung der Rechtsanwälte Pe. und Pr. zu vereiteln. Ferner hat die Kammer bei der Bewertung des Erfolgsunrechts zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Verfahrensakten zu Az. … und Az. … jeweils lediglich ein Vergehen der Beleidigung, mithin Straftaten aus dem Bereich der leichten Kriminalität zum Gegenstand gehabt haben und die Strafverfahren bzw. Ermittlungsverfahren, die Gegenstand der Verfahrensakten zu Az. …, Az. …, Az. … und Az. … gewesen sind, bereits erledigt gewesen sind; überdies konnten die Verfahrensakten aus der Vorgangsverwaltung der Polizei und der elektronischen Datenverarbeitung der Justizbehörden jeweils – wenngleich nicht vollständig – rekonstruiert werden. Schließlich hat die Kammer zugunsten des Angeklagten den Zeitablauf seit der Tat und die Dauer des Verfahrens berücksichtigt.
Demgegenüber hat die Kammer zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er bereits – wenngleich nicht einschlägig – vorbestraft ist und dass die Urkundenunterdrückung nicht lediglich eine Verfahrensakte, sondern sechs Verfahrensakten zum Gegenstand gehabt hat. Daneben hat die Kammer zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass er die Herausgabe der Verfahrensakten – trotz des Entgegenkommens der Justizbehörden und der wiederholten Angebote der Justizbehörden zur Abholung der Verfahrensakten auf Kosten der Justiz – mehrmals und mit nicht aufzubrechender Beharrlichkeit verweigert hat; dadurch hat der Angeklagte die Unrechtslage bewusst und entschieden bis zum Schluss perpetuiert, obwohl es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, die Verfahrensakten herauszugeben bzw. den Verbleib der Verfahrensakten preiszugeben; statt die Verfahrensakten herauszugeben bzw. den Verbleib der Verfahrensakten preiszugeben, hat der Angeklagte erklärt, er gehe lieber in Haft, bevor er die Verfahrensakten herausgebe; er müsse nicht den Krieg gegen die Justiz gewinnen, gewinne jedoch die Schlacht. Seine Zusage, die er in der Hauptverhandlung am Vormittag des 16.01.2020 gegenüber dem Richter am Amtsgericht D. gemacht hat, die Verfahrensakten an die Generalstaatsanwaltschaft M. zu übersenden, die er beim Versuch der Abholung der Verfahrensakten durch die Wachtmeister T. und B. am Nachmittag des 16.01.2020 wiederholt hat, hat er nicht eingehalten; sie kann allein als Versuch, die Justizbehörden irrezuführen, angesehen werden; stattdessen hat er es unternommen, seinen Spott mit den Justizbehörden zu treiben, indem er in der Berufungshauptverhandlung am 02.12.2020 und am 10.03.2021 auf die Frage nach dem Verbleib der Verfahrensakten erklärt hat, er habe bei seinem Umgang mit den Verfahrensakten möglicherweise den gelben Briefkasten der D. P. AG mit der blauen Tonne für die Entsorgung von Papiermüll verwechselt, schließlich könne ihm ein Versehen, wie es den Wachtmeistern bei der Übersendung der Verfahrensakten an ihn unterlaufen sei, ebenfalls passieren. Überdies hat die Kammer zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass der Angeklagte – über den Beweggrund der Selbstbegünstigung hinaus – die Gelegenheit, dass ihm versehentlich die Verfahrensakten übersandt worden sind, dazu genutzt hat, die Justizbehörden – gleichsam als Revanche – für eine von ihm als ungerecht empfundene Behandlung in der Vergangenheit abzustrafen; der Angeklagte fühlt sich durch die Verurteilungen vom … (= BZR Ziffer 1) und vom … (= BZR Ziffer 2) ungerecht behandelt, weil er die dort festgestellten Taten nicht begangen habe; diesbezüglich, aber auch bezüglich der Verlegung des Termins zur Hauptverhandlung vom 08.10.2019 auf den 16.01.2020 im Verfahren wegen Beleidigung, Az. … (hinzuverbunden: …), und bezüglich der versehentlichen Versendung der Verfahrensakten, ist der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung am 10.03.2021, in der er im Übrigen mit abfälligen Kommentaren gegenüber der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft – diese solle nicht so gelangweilt schauen und sich nicht so umständlich am Kopf kratzen – aufgefallen ist, nachdem er bereits in der Berufungshauptverhandlung am 02.12.2020 eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 111 Abs. 1 OWiG durch die Verweigerung der Angaben zum Beruf – er sei die „Haus- und Hofschlampe“ seines Chefs – begangen hat, nicht müde geworden, sich über die behauptete Inkompetenz der Justizbediensteten zu echauffieren und sich als Opfer eines kollusiven Zusammenwirkens von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten darzustellen. Das Nachtatverhalten des Angeklagten, insbesondere die Erklärung, er werde, wenngleich nicht den Krieg, so doch die Schlacht gegen die Justiz gewinnen, aber auch sein abfälliges Verhalten in der Berufungshauptverhandlung am 10.03.2021, in der erklärt hat, er bedauere seine deutsche Staatsangehörigkeit, weil er dadurch der deutschen Staatsgewalt unterworfen sei, lassen auf die innere Einstellung des Angeklagten zur Tat schließen und offenbaren eine – über den Beweggrund der Selbstbegünstigung hinausgehende – rechtsfeindliche Gesinnung des Angeklagten. Durch die Nichtherausgabe der Verfahrensakten hat der Angeklagte seine Ablehnung des deutschen Rechtssystems und seine Missachtung der Justiz auf der Handlungsebene augenfällig zum Ausdruck gebracht. Schließlicht hat die Kammer zulasten des Angeklagten berücksichtigt, dass die Rekonstruktion der sechs Verfahrensakten einen nicht unerheblichen Aufwand bei Polizei und Justizbehörden erforderlich gemacht hat; gleichwohl haben die Verfahrensakten lediglich teilweise rekonstruiert werden können.
Unter Abwägung aller Umstände, insbesondere unter Berücksichtigung der vorgenannten Strafzumessungsgesichtspunkte, hält die Kammer mithin eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen für tat- und schuldangemessen.
Die Tagessatzhöhe hat die Kammer gemäß § 40 Abs. 2 StGB unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten auf … € festgesetzt.
VII. Kosten
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1, S. 2 StPO.


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