Strafrecht

Eigene Sachentscheidungsbefugnis des Beschwerdegerichts bei Aufhebung eines Beschlusses des Gerichts des ersten Rechtszuges

Aktenzeichen  1 Ws 104/21

Datum:
15.7.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Thüringer Oberlandesgericht 1. Strafsenat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OLGTH:2021:0715.1WS104.21.00
Normen:
§ 459g Abs 2 StPO
§ 459g Abs 5 S 1 StPO
§ 459o StPO
§ 462 Abs 1 S 1 StPO
§ 462a Abs 1 S 1 StPO
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Spruchkörper:
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Leitsatz

Zur Möglichkeit der eigenen Sachentscheidung durch den Strafsenat bei Aufhebung eines Beschlusses des Landgerichts wegen örtlicher Unzuständigkeit bei Vollstreckung von Nebenfolgen.(Rn.19)

Verfahrensgang

vorgehend LG Erfurt, 4. Februar 2021, 2 KLs 820 Js 33383/19vorgehend LG Erfurt, 3. November 2020, 2 KLs 820 Js 33383/19

Tenor

1. Der Beschluss des Landgerichts Erfurt vom 04.02.2021 wird aufgehoben.
2. Die Vollstreckung der im Urteil des Landgerichts Erfurt vom 03.11.2020 angeordneten Einziehung von Wertersatz in Höhe von 23.240 € unterbleibt.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.
Das Landgericht – 2. Strafkammer – Erfurt verurteilte den – sich inzwischen im Maßregelvollzug in den … befindenden – Beschwerdeführer mit Urteil vom 03.11.2020, rechtskräftig seit dem 11.11.2020, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten und ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 23.240 € an. Ausweislich der Feststellungen bestand bei dem Verurteilten der Hang, Methamphetamin im Übermaß zu konsumieren. Die auf den Hang zurückgehende Tat diente insbesondere auch dazu, den Methamphetaminkonsum zu finanzieren. Nach den Ausführungen zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten konsumierte dieser bis zu seiner Inhaftierung täglich 1 ½ bis 2 g Methamphetamin. Das Urteil teilt zudem mit, dass er weder Vermögen noch Schulden habe und zuletzt für seine Tätigkeit als Pulverbeschichter 1.700 € netto erhalten habe.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 14.12.2020 hat der Verurteilte, der sich zurzeit der Antragstellung bis zum 03.03.2021 in Organisationshaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) … befand, beantragt, gemäß § 459g Abs. 5 StPO von der Vollstreckung der Entscheidung über die Einziehung von Wertersatz aus dem Urteil des Landgerichts Erfurt abzusehen, weil der Verurteilte entreichert sei. Die Erlöse aus dem deliktischen Handeln seien nach den Feststellungen des Urteils zur Bestreitung des Lebensunterhaltes verbraucht worden. Die Vollstreckung sei auch unverhältnismäßig, da er aufgrund der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt die Forderung perspektivisch nicht ohne Gefährdung der Resozialisierung bedienen könne.
Diesen Antrag hat das Landgericht – 2. Strafkammer – Erfurt mit Beschluss vom 04.02.2021 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass in dem Urteil nicht festgestellt worden sei, was mit den Taterträgen aus den Betäubungsmittelgeschäften geschehen ist. Die Erklärung des Verurteilten, er habe das Geld zur Bestreitung seines Lebensunterhalts verbraucht, sei nicht ausreichend für die Darlegung der Entreicherung.
Gegen den Beschluss, der dem Verurteilten und seinem Verteidiger gemäß Verfügung vom 04.02.2021 formlos und ohne die nach § 35a Satz 1 StPO erforderliche Rechtsmittelbelehrung bekanntgegeben wurde, hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 18.02.2021 sofortige Beschwerde eingelegt und diese näher begründet.
Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat mit Aktenvorlage und Stellungnahme vom 09.03.2021 beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
Darauf hat der Verteidiger des Verurteilten unter dem 26.03.2021 erwidert.
II.
1.
Das Rechtsmittel ist als sofortige Beschwerde gemäß § 462 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 459g Abs. 5 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt, weil die Beschwerdefrist mangels förmlicher Zustellung des angefochtenen Beschlusses an den Beschwerdeführer noch nicht wirksam in Gang gesetzt worden war.
2.
Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, weil die 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt für die angefochtene Entscheidung nicht zuständig war.
Vorliegend war nicht das Gericht des ersten Rechtszuges nach § 462a Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig, sondern die Strafvollstreckungskammer. Gemäß §§ 459g Absatz 2 und Absatz 5 Satz 1, 459o, 462 Absatz 1 Satz 1, 462a Absatz 1 Satz 1 StPO ist für Anträge, welche die Vollstreckung von Nebenfolgen betreffen, die zu einer Geldzahlung verpflichten, mithin auch für die mit Antrag des Verurteilten vom 14.12.2020 begehrte Feststellung einer etwaigen Entreicherung oder einer sonstigen Unverhältnismäßigkeit, die Strafvollstreckungskammer zuständig, wenn gegen den Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 459g Rn. 12). Davon erfasst ist auch die Organisationshaft, die der Sache nach Strafhaft ist. In entsprechender Anwendung des § 462a Abs. 1 Satz 1 StPO ist die Strafvollstreckungskammer auch zuständig, wenn eine freiheitsentziehende Maßregel (§ 463 StPO) vollstreckt wird (BeckOK StPO/Coen, 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 462a Rn. 2).
Der Beschwerdeführer befand sich im Zeitpunkt der Antragstellung in Organisationshaft mit der Folge, dass die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer begründet war. Die 2. Strafkammer des Landgerichts Erfurt war damit der funktionell unzuständige Spruchkörper.
Örtlich zuständig ist die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Erfurt, da sich der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Antragstellung in Organisationshaft in der JVA … befand, die im Zuständigkeitsbereich des Landgerichts Erfurt liegt. Die Befassung eines unzuständigen Gerichts wirkt auch für die zu diesem Zeitpunkt tatsächlich örtlich zuständige Strafvollstreckungskammer, sodass eine weitere Verlegung deren Zuständigkeit nicht beseitigt (vgl. KK-StPO/Appl, 8. Aufl. 2019 Rn. 20, StPO § 462a Rn. 20).
3.
Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
Der Senat kann nach § 309 Abs. 2 StPO auf die sofortige Beschwerde selbst über den Antrag nach § 459g Abs. 5 StPO entscheiden. An der der bisherigen Senatsrechtsprechung zu Grunde liegenden gegenteiligen Auffassung, wonach der Senat in einem solchen Fall an einer eigenen Entscheidung gehindert sei, um dem Anspruch des Verurteilten auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung zu tragen (Senatsbeschluss vom 30. September 2011 – 1 Ws 410/11 –, Rn. 15 – 16 m.w.N., juris; so auch Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 15. Juni 2020 – 2 Ws 152/19 –, Rn. 17, juris), hält der Senat nach nochmaliger Überprüfung nicht mehr fest.
Der Senat ist nach § 309 Abs. 2 StPO vollumfänglich als Beschwerdegericht zur eigenen Sachentscheidung berufen und sowohl für Beschwerden gegen die Entscheidung der Strafkammer, die vorliegend entschieden hat, als auch für Beschwerden gegen Entscheidungen der örtlich und sachlich zuständigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Erfurt zuständig.
Dem steht nicht der Anspruch auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entgegen. Denn ein derartiger Verstoß lässt sich allein daraus, dass anstelle der Strafvollstreckungskammer das erstinstanzliche Gericht entschieden hat, weder herleiten, noch generell verneinen. Vielmehr bedarf es insoweit einer konkreten Einzelfallprüfung. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und auch des Bundesgerichtshofs, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitsregeln einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter begründet. Ein Verfassungsverstoß liegt (erst) dann vor, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist, oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt. Dagegen führt nur eine „schlicht fehlerhafte“ Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften noch nicht zu einem Verfassungsverstoß (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 12. März 2013 – 2 Ws 19/13 –, Rn. 3 m.w.N., juris). Gemessen an diesen Grundsätzen liegt hier keine willkürliche, grob fehlerhafte, die Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkennende Anwendung des § 462a StPO durch die Strafkammer des Landgerichts Erfurt vor.
Der Senat verfügt als Beschwerdegericht über die erforderliche Sachkunde. Insoweit kommt es im Beschwerdeverfahren weder auf die besondere Sachkunde eines Spruchkörpers an, der gerade nicht entschieden hat, noch auf die hypothetische Rechtskraft einer Entscheidung, die nicht ergangen ist (KK-StPO/Appl, 8. Aufl. 2019, StPO § 462 Rn. 4). Die bloße Möglichkeit, dass die Strafvollstreckungskammer dem Antrag des Beschwerdeführers, nach § 459g Abs. 5 StPO von der Vollstreckung abzusehen, entsprochen hätte, rechtfertigt kein anderes Ergebnis, da dies dem Grundgedanken des § 309 Abs. 2 StPO widerspricht. Zudem steht ein Instanzverlust grundsätzlich einer eigenen Entscheidung des Senats nicht entgegen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Oktober 2000 – 3 Ws 395/00 –, Rn. 11, juris).
4.
Dem Antrag des Beschwerdeführers, gemäß § 459g Abs. 5 StPO von der Vollstreckung der Entscheidung über die Einziehung von Wertersatz aus dem Urteil des Landgerichts Erfurt abzusehen, ist zu entsprechen.
Die Voraussetzungen des § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO, nach dem die Vollstreckung von Nebenfolgen, die zu einer Geldzahlung verpflichten (Abs. 2), auf Anordnung des Gerichts unterbleibt, soweit der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Betroffenen vorhanden ist oder die Vollstreckung sonst unverhältnismäßig wäre, liegen in Form der ersten Variante vor.
Abweichend vom früheren Recht in 73c Abs. 1 Satz 2 StGB a. F., der dem erkennenden Gericht für den Fall der Entreicherung ein Ermessen eröffnete, von Verfallsentscheidungen (fakultativ) abzusehen, schreibt die – diese Prüfung ins Vollstreckungsverfahren verlagernde – Neuregelung des § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO nach zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Unterbleiben der Vollstreckung zwingend vor, wenn der Wert des Erlangten nicht mehr im Vermögen des Tatbeteiligten vorhanden ist (vgl. BGH, Urteile vom 15.05.2018, 1 StR 651/17, Rn. 57, und vom 27.09.2018, 4 StR 78/18, Rn. 11, sowie Beschluss vom 22.03.2018, 3 StR 577/17, bei juris; BeckOK-StPO/Coen, 34. Ed., § 459g Rn. 23). Eine wertende Entscheidung des zuständigen Gerichts, die etwa die Gründe für die Entreicherung einbezöge (vgl. zum früheren Recht BGH, NStZ-RR 2017, 14, 15 m. w. N.), ist danach nicht mehr möglich. Das Ausbleiben der Vollstreckung erfolgt selbst dann zwingend, wenn festgestellt wird, dass zwar Vermögen beim Betroffenen vorhanden ist, dieses aber ohne jeden Zusammenhang mit den zugrunde liegenden Straftaten erworben worden ist (BGH a. a. O.; Beck-StPO/Coen, a. a. O., § 459g Rn. 25; Senat, Beschluss vom 07. November 2019 – 1 Ws 341/19 –, Rn. 11 m.w.N., juris).
Für die sichere Annahme eines Vermögensabflusses bedarf es über bloße Vermutungen hinaus einer tragfähigen Tatsachengrundlage, wozu das Gericht konkrete Feststellungen, etwa zu dessen Umfang, zu treffen hat; insoweit kann bei der Entscheidung nach § 459g Abs. 5 Satz 1 StPO nichts anderes gelten als bei der Feststellung einer Entreicherung im Erkenntnisverfahren. Eine Amtspflicht zur Ermittlung dieser Tatsachengrundlage besteht für das Gericht indes nicht. Sie muss vielmehr – soweit entsprechende Tatsachen dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft nicht ohnehin bereits bekannt sind – vom Einziehungsadressaten dargelegt und nachgewiesen werden (KG Berlin, Beschluss vom 07. September 2020 – 5 Ws 105/19 –, Rn. 18 m.w.N., juris). Von seiner Nachweispflicht ist der Verurteilte ausnahmsweise nur dann entbunden, wenn die absehensbegründenden Tatsachen der Strafvollstreckungsbehörde bzw. dem gemäß § 462a StPO zur Entscheidung berufenen Gericht sicher bekannt sind (Senat a.a.O.). Diese Kenntnis kann etwa aus den Feststellungen des die Wertersatzeinziehung anordnenden rechtskräftigen Urteils folgen (Senat a.a.O.).
Vorliegend ergibt sich bereits aus den Feststellungen des Urteils vom 03.11.2020, dass der Verurteilte kein Vermögen hat. Etwas anderes gilt dann, wenn nachträglich bekannt gewordene Tatsachen geeignet sind, die Urteilsfeststellungen in Zweifel zu ziehen. In diesem Fall lebt die Darlegungs- und Beweislast des Verurteilten hinsichtlich des Vermögensabflusses wieder auf. Denn für die Prüfung der Entreicherung kommt es auf den Zeitpunkt der Vollstreckungsentscheidung und nicht auf den der Verurteilung an (KG Berlin, a.a.O. Rn. 19 m.w.N.). Die aus einer Gegenüberstellung der Einnahmen aus den Drogengeschäften des Verurteilten und dessen Ausgaben zur Finanzierung seiner Drogensucht folgenden Verkaufserlöse stellen keine neuen Tatsachen dar. Diese waren im Verurteilungszeitpunkt bekannt. Feststellungen dahingehend, dass der Verbleib der Erlöse offen ist, enthält das Urteil nicht. Konkrete Anhaltspunkte für ein Vorliegen der Verkaufserlöse beim Verurteilten liegen nicht vor.
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten war deshalb anzuordnen, dass die Vollstreckung der im Urteil des Landgerichts Erfurt vom 03.11.2020 angeordneten Einziehung von Wertersatz in Höhe von 23.240 € unterbleibt.
Die Vollstreckung kann gem. § 459g Abs. 5 Satz 2 StPO allerdings wieder aufgenommen werden, wenn nachträglich Umstände bekannt werden oder eintreten, die einer Anordnung nach Satz 1 entgegenstehen.
Ob die Vollstreckung darüber hinaus auch unverhältnismäßig in Hinblick auf die gegenwärtige Vollstreckung der Maßregel nach § 64 StGB ist, kann daher dahin stehen.
5.
Die Kostenentscheidung hat ihre Grundlage in einer entsprechenden Anwendung des § 467 StPO.


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