Strafrecht

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Vorläufige Untersagung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis – drohender irreparabler Eingriff in Freiheitsgrundrecht – Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG durch Unterlassen einer Vorlage an den EuGH gem Art 267 Abs 3 AEUV nicht auszuschließen – Vereinbarkeit von § 28 Abs 4 S 1 Nr 3, S 3 FeV mit Art 8 Abs 2, Abs 4 EGRL 439/91 fraglich

Aktenzeichen  2 BvR 947/11

Datum:
30.5.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Einstweilige Anordnung
Normen:
Art 101 Abs 1 S 2 GG
Art 2 Abs 2 S 2 GG
Art 267 Abs 3 AEUV
§ 32 Abs 1 BVerfGG
Art 11 Abs 4 UAbs 2 EGRL 126/2006
Art 8 Abs 2 EGRL 439/91
Art 8 Abs 4 EGRL 439/91
§ 28 Abs 4 S 1 Nr 3 FeV
§ 28 Abs 4 S 3 FeV
Spruchkörper:
2. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend OLG Nürnberg, 30. März 2011, Az: 1 St OLG Ss 42/11, Beschlussvorgehend LG Nürnberg-Fürth, 8. November 2010, Az: 15 Ns 915 Js 140982/2010, Urteilvorgehend AG Erlangen, 20. Mai 2010, Az: 6 Ds 915 Js 140982/10, Urteilnachgehend BVerfG, 22. September 2011, Az: 2 BvR 947/11, Stattgebender Kammerbeschluss

Tenor

1. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 20. Mai 2010 – 6 Ds 915 Js 140982/10
– in Form des Urteils des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8. November 2010 – 15 Ns 915 Js 140982/2010 – wird einstweilen für
die Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, längstens für die Dauer von sechs Monaten (§ 32 Absatz 6 Satz 1 BVerfGG), ausgesetzt.

2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die Auslagen im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe

I.
1
1. a) Das Amtsgericht Erlangen verurteilte den Beschwerdeführer im Jahr 2007 wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu
einer Geldstrafe, entzog ihm die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen, zog seinen Führerschein ein und wies die Verwaltungsbehörde
an, ihm vor Ablauf von noch neun Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Nach Ablauf und vor Tilgung der Sperre für
die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis im Verkehrszentralregister erwarb der Beschwerdeführer in der Tschechischen Republik
eine tschechische Fahrerlaubnis der Klasse B mit Wirkung zum 2. Dezember 2009. In der Fahrerlaubnis ist der tschechische Zweitwohnsitz
des Beschwerdeführers “Magistrat M. Most” eingetragen.

2
b) Der Beschwerdeführer fuhr mit der tschechischen Fahrerlaubnis an zwei Tagen im Januar und März 2010 in Deutschland. Daraufhin
verurteilte das Amtsgericht Erlangen den Beschwerdeführer mit angegriffenem Urteil vom 20. Mai 2010 wegen vorsätzlichen Fahrens
ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und wies die Verwaltungsbehörde an, dem
Beschwerdeführer vor Ablauf von noch 12 Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Das Landgericht Nürnberg-Fürth verwarf
die dagegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers mit angegriffenem Urteil vom 8. November 2010 und änderte auf die Berufung
der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts dahingehend ab, dass die Gesamtfreiheitsstrafe zu Lasten des Beschwerdeführers
auf sechs Monate erhöht wurde.

3
Das Oberlandesgericht Nürnberg verwarf die dagegen gerichtete Revision des Beschwerdeführers mit angegriffenem Beschluss vom
30. März 2011 als unbegründet. § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV versage das Recht, von einer ausländischen EU-Fahrerlaubnis im
Inland Gebrauch zu machen, wenn – wie hier – im Inland eine isolierte Sperrfrist nach § 69a Abs. 1 Satz 3 StGB für die Erteilung
einer Fahrerlaubnis angeordnet gewesen sei. Zwar sei die Sperrfrist zu dem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer die tschechische
Fahrerlaubnis erworben habe, und zu den jeweiligen Tatzeiten bereits abgelaufen. Dies sei jedoch aufgrund der seit dem 19.
Januar 2009 geltenden Regelung in § 28 Abs. 4 Satz 3 FeV unbehelflich, weil die Sperrfrist im Verkehrszentralregister nach
wie vor eingetragen und nicht tilgungsreif sei (vgl. § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVG).

4
Diese Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 und Satz 3 FeV sei jedenfalls in vorliegenden Fallgestaltungen mit Unionsrecht,
insbesondere mit Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember
2006 über den Führerschein (3. Führerscheinrichtlinie – ABl L 403/18) vereinbar (vgl. VGH München, Beschluss vom 7. Oktober
2010 – 11 CS 10.1280, BeckRS 2010, S. 55976). Der Beschwerdeführer habe wegen Alkoholdelikten im Straßenverkehr wiederholt
belangt werden müssen. Er habe sich dadurch in hohem Maße zum Führen von Kraftfahrzeugen als ungeeignet erwiesen. Angesichts
der Gefahren, die vom motorisierten Straßenverkehr für das menschliche Leben und die körperliche Unversehrtheit insbesondere
dann ausgingen, wenn charakterlich ungeeignete Personen wie der Beschwerdeführer zum Führen von Kraftfahrzeugen zugelassen
würden, sei der europäische Normgeber gehalten gewesen, diesem Schutzauftrag bei der Ausgestaltung der 3. Führerscheinrichtlinie
gerecht zu werden.

5
c) Der Beschwerdeführer ist zum Strafantritt am 31. Mai 2011 geladen worden.

6
2. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1 und
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Er beantragt, die Vollstreckung aus den im Tenor genannten Urteilen im Wege der einstweiligen Anordnung
auszusetzen.

II.
7
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor. Der zulässige Antrag ist begründet.

8
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies
zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl
dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung vorgetragen
werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist insgesamt unzulässig
oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 ; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das
Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde
indes Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die angegriffene Regelung nicht erginge (vgl. BVerfGE
91, 320 ; 99, 57 ; stRspr).

9
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch in Gänze offensichtlich unbegründet. Nach dem Vorbringen
des Beschwerdeführers ist insbesondere eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch den angegriffenen Beschluss des
Oberlandesgerichts Nürnberg nicht von vornherein ausgeschlossen. Das Oberlandesgericht Nürnberg gelangt zur Vereinbarkeit
der Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 und Satz 3 FeV mit Unionsrecht und in deren Folge zur Ablehnung einer Vorlage nach
Art. 267 Abs. 3 AEUV mit einer Begründung, die im Hinblick auf einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union zur Vereinbarkeit von § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV a.F. mit Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29.
Juli 1991 über den Führerschein (2. Führerscheinrichtlinie – ABl L 237/1) Zweifel an ihrer Vertretbarkeit weckt (vgl. insbesondere
EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-476/01, Kapper, Slg. 2004, S. I-5205).

10
3. Die danach gebotene Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile, die dem Beschwerdeführer im Falle der Ablehnung des Erlasses
der einstweiligen Anordnung drohen, gewichtiger als die Nachteile sind, die im Falle der Stattgabe entstehen könnten.

11
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die
Freiheitsstrafe in der Zwischenzeit vollstreckt werden. Dies wäre ein erheblicher, irreparabler Eingriff in das besonders
gewichtige (vgl. BVerfGE 65, 317 ) Recht auf die Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 22, 178 ; 104, 220 ).

12
b) Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, wögen
die damit verbundenen Nachteile deutlich weniger schwer. Zwar könnte dann die Freiheitsstrafe vorübergehend nicht vollstreckt
werden. Angesichts der geringen Freiheitsstrafe von sechs Monaten ist jedoch nicht ersichtlich, dass durch das Zurücktreten
des öffentlichen Interesses an einer nachdrücklichen und beschleunigten Vollstreckung rechtskräftig verhängter Freiheitsstrafen
(vgl. § 2 Abs. 1 und 2 StVollstrO) ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.

13
4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.

14
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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