Strafrecht

Gehörsverstoß – Deutliche Erhöhung der Geldbuße gegenüber Bußgeldbescheid

Aktenzeichen  202 ObOWi 1446/19

Datum:
19.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27955
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
OWiG § 46 Abs. 1, § 71 Abs. 1, § 74 Abs. 1, Abs. 4, § 80
StPO § 265 Abs. 1, Abs. 2, § 473 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Auch im Abwesenheitsverfahren bedarf eine gegenüber dem Bußgeldbescheid deutliche Erhöhung der Geldbuße ohne das ausnahmsweise Hinzutreten besonderer, im Einzelfall einen Vertrauenstatbestand begründender Umstände grundsätzlich keines vorherigen ge-richtlichen Hinweises entsprechend § 265 Abs. 1, Abs. 2 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG (u.a. Anschluss an OLG Bamberg, Beschluss vom 11.10.2010 – 3 Ss OWi 1380/10 = ZfSch 2011, 410 = DAR 2011, 214). (Rn. 3)
2. Ein infolge der Gewährung von Wiedereinsetzung in die Versäumung der Hauptverhand-lung (§ 74 Abs. 4 OWiG) entfallenes Abwesenheitsurteil nach § 74 Abs. 1 OWiG kann einen solchen Vertrauenstatbestand schon deshalb nicht schaffen, weil die Wiedereinsetzung dem Betroffenen keine Vorteile verschaffen soll, die er ohne die Gewährung von Wiedereinset-zung nicht gehabt hätte. (Rn. 3)
3. Weder ist das rechtliche Gehör verletzt noch liegt ein Verstoß gegen die gerichtliche Für-sorgepflicht vor, wenn das Gericht in der Hauptverhandlung, in der der Betroffene nicht er-schienen und auch nicht vertreten ist, Auskünfte aus Fahrerlaubnis- und Bundeszentralregis-ter bußgelderhöhend verwertet, ohne dass der Betroffene hierauf zuvor hingewiesen wurde (u.a. Anschluss an BayObLGSt 1995, 43). (Rn. 4)

Tenor

I. Der Antrag des Betroffenen, gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 21.02.2019 die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wird als unbegründet verworfen.
II. Der Betroffene hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Gegen den Betroffenen ist eine Geldbuße von nicht mehr als 250 Euro festgesetzt worden. Nach § 80 Abs. 1 OWiG darf die Rechtsbeschwerde daher nur zugelassen werden, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen oder das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Ein solcher Fall liegt hier – auch in Ansehung der Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 19.07.2019 – nicht vor.
Zur Frage der Versagung des rechtlichen Gehörs bemerkt der Senat lediglich Folgendes:
1. Die Erhöhung der im Bußgeldbescheid ausgewiesenen Geldbuße durch das Gericht bedarf – worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 19.07.2019 zutreffend hinweist – auch im Abwesenheitsverfahren grundsätzlich keines vorherigen gerichtlichen Hinweises entsprechend § 265 Abs. 1, Abs. 2 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 11.10.2010 – 3 Ss OWi 1380/10 = ZfSch 2011, 410 = DAR 2011, 214; OLG Stuttgart DAR 2010, 590; OLG Dresden, Beschluss vom 29.11.2002 – Ss [OWi] 599/02 = DAR 2003, 181; BayObLG, Beschluss vom 13.06.2002 – 2 ObOWi 234/02 = DAR 2002, 366; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 71 Rn. 50a; KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 71 Rn. 102). Etwas anderes kann nach der zitierten Rechtsprechung nur dann gelten, wenn das Amtsgericht vorliegend hinsichtlich der Rechtsfolgen einen Vertrauenstatbestand geschaffen hätte. Davon kann hier unbeschadet des Umstands, dass das Amtsgericht zunächst mit Urteil vom 16.10.2018 auf die im Bußgeldbescheid festgesetzte und gegenüber der Regelgeldbuße von 80 Euro lediglich geringfügig erhöhte Geldbuße von 120 Euro erkannt hatte, nicht ausgegangen werden. Wird nach § 74 Abs. 4 OWiG auf Antrag oder – wie hier – von Amts wegen Wiedereinsetzung gewährt, so wird durch die Gewährung von Wiedereinsetzung der Rechtszustand wiederhergestellt, der vor der Versäumung des Termins bestand. Aufgrund der Versäumung des Termins ergangene Entscheidungen fallen ohne Weiteres weg, ohne dass es eines besonderen Ausspruchs hierüber bedarf (vgl. OLG Köln VRS 71, 48, 53; BayObLGSt 1972, 43; KK/Maul StPO 8. Aufl. § 46 Rn. 4; Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 74 Rn. 47; KK/Senge a.a.O. § 74 Rn. 49). Einen Vertrauenstatbestand vermag ein solches Urteil daher von vornherein nicht zu schaffen, zumal hier die Wiedereinsetzung von Amts wegen auch in nicht zu beanstandender Weise erfolgt ist und einem Betroffenen generell keine Vorteile verschaffen soll, die er ohne Säumnis nicht gehabt hätte (vgl. Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 52 Rn. 45). Darauf, dass das Protokoll der Hauptverhandlung vom 16.10.2019 ohnehin besorgen lässt, dass das Amtsgericht einen Auszug aus dem Fahreignungsregister verlesen und seiner Sanktionsentscheidung zugrunde gelegt hatte, welcher sich nicht auf den Betroffenen, sondern ersichtlich auf einen anderen Betroffenen bezogen hatte und ohne Eintragung war, kommt es im Übrigen nicht mehr an. Wird damit das Verfahren so fortgesetzt, wie es vor der Versäumung des Termins bestand, so kann vorliegend auch nicht etwa aus anderen Gründen von einer verfassungsrechtlich unzulässigen Überraschungsentscheidung ausgegangen werden. Ob insoweit dem OLG Dresden zu folgen wäre, das eine unzulässige Überraschungsentscheidung jedenfalls im Falle einer unangekündigten Erhöhung des Bußgeldes auf mehr als das Dreifache des Regelsatzes annimmt (OLG Dresden, Beschluss vom 14.03.2018 – OLG 23 Ss 168/18 = ZfSch 2019, 112), muss der Senat vorliegend nicht entscheiden. Grundsätzlich kommt eine unzulässige Überraschungsentscheidung nur dann in Betracht, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf rechtliche Gesichtspunkte oder Erwägungen abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht zu rechnen braucht (vgl. nur BGH [7. Zivilsenat], Beschluss vom 13.01.2011 – VII ZR 22/10 = NJW-RR 2011, 487 = BauR 2011, 719 = NZBau 2011, 161 unter Hinweis auf BVerfG NJW 2003, 2524). So liegt der Fall hier aber nicht, denn damit, dass das Amtsgericht in Anbetracht der nur 10 Monate vor der verfahrensgegenständlichen Tat rechtskräftig gewordenen Vorahndung (Geldbuße von 100 Euro wegen fahrlässiger Abstandsunterschreitung) in Abweichung von der im Bußgeldbescheid ausgesprochenen geringfügigen Erhöhung der Regelgeldbuße auf eine deutlich höhere Geldbuße erkennen könnte, musste der Betroffene rechnen. Selbst wenn im Übrigen die Erhöhung der Geldbuße im angefochtenen Urteil nicht hinreichend tragfähig begründet wäre, handelte es sich bei einem etwaigen Mangel um einen Rechtsfehler im Einzelfall, der weder unter dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch zur Fortbildung des Rechts (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) die Zulassung der Rechtsbeschwerde rechtfertigen könnte (vgl. KG NZV 2015, 355).
2. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs ergibt sich vorliegend auch nicht – wie die Generalstaatsanwaltschaft meint – daraus, dass das Amtsgericht den Auszug aus dem Fahreignungsregister vom 14.12.2018, auf dessen konkreten Inhalt es die Erhöhung der Geldbuße auf 240 Euro gestützt hat, dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger nicht zur Kenntnis gebracht und diesen durch Verlesung im Abwesenheitsverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt hat. Zwar ist es zutreffend, dass im Abwesenheitsverfahren nur die dem Betroffenen bekannten Beweismittel verwendet werden dürfen (Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 74 Rn. 17; KK/Senge a.a.O. § 74 Rn. 13, jeweils m.w.N.); ob der später datierte Auszug aus dem Fahreignungsregister vom 14.12.2018 gegenüber den früher datierten und ebenfalls in der Akte befindlichen Auszügen aus dem Fahreignungsregister vom 27.08.2018 bzw. vom 03.05.2018 bei (von der Rechtsbeschwerde vorliegend nicht in Abrede gestelltem) völlig identischem Inhalt weil unveränderter Vorahndungslage rechtlich als „neues“ Beweismittel anzusehen wäre, kann der Senat dahingestellt sein lassen. Nach ganz h.M. ist nämlich der Anspruch auf rechtliches Gehör ohnehin nicht verletzt, wenn in der Hauptverhandlung, in der der Betroffene weder erschienen noch vertreten ist, Bundeszentralregister- und Verkehrszentralregisterauszüge des Betroffenen sowie Eintragungen betreffende Straf- und Bußgeldakten verwertet werden, ohne dass der Betroffene hierauf zuvor hingewiesen wurde. Auch die prozessuale Fürsorgepflicht gebietet einen entsprechenden Hinweis grundsätzlich nicht, da jeder Betroffene damit rechnen muss, dass seine aktenkundige Vergangenheit im Verfahren Berücksichtigung findet (so schon BayObLGSt 1995, 43; vgl. auch Göhler/Seitz/Bauer a.a.O. § 74 Rn. 17; KK/Senge a.a.O. § 74 Rn. 13a).
Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wird daher nach § 80 Abs. 4 Sätze 1 und 3 OWiG verworfen. Damit gilt die Rechtsbeschwerde als zurückgenommen (§ 80 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. Abs. 4 Satz 4 OWiG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG.


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