Strafrecht

Generalpräventives Ausweisungsinteresse wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte

Aktenzeichen  10 B 20.1795

Datum:
12.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30367
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 54 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 9, § 55

 

Leitsatz

1. Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es – anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. – nicht der Verurteilung wegen eines besonders schwerwiegenden Delikts. (Rn. 33)
2. Die Verurteilung wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) kann ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen. (Rn. 34)

Verfahrensgang

M 24 K 20.155 2020-05-14 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. In Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 14. Mai 2020 wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahren in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zuglassen.

Gründe

Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Der angefochtene Ausweisungsbescheid des Beklagten vom 9. Januar 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Demgemäß ist die Klage in Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 14. Mai 2020 abzuweisen.
1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Anfechtungsbegehren (§ 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO) auf Aufhebung des streitgegenständlichen Ausweisungsbescheids des Beklagten. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. z.B. U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11; vgl. auch BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 25).
2. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an seiner Ausreise mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 19 ff.).
a) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergibt sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen. Der Antragsteller erfüllt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG sowie eines nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Die mit der Verwirklichung dieser Tatbestände indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG besteht auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats.
aa) Vom Kläger, der nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Juni 2017 innerhalb kurzer Zeit dreimal strafrechtlich belangt und zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts Ingolstadt vom 30. Juli 2019 wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt wurde, geht nach wie vor eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus, da insofern eine Wiederholungsgefahr besteht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
Gemessen daran besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass es im Falle des Klägers in absehbarer Zeit wieder zu Straftaten kommen wird. Der Kläger hat innerhalb einer Zeitspanne von nur etwas mehr als einem Jahr nach seiner Einreise im Juni 2017 drei vorsätzliche Straftaten begangen. Mit Verfügung vom 16. November 2017 wurde zudem ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung eingestellt, nachdem die Ausländerbehörde bei der Staatsanwaltschaft angefragt hatte, ob Einverständnis mit der Abschiebung des Klägers nach Italien bestehe. Daneben ergibt sich aus dem Akteninhalt (Vorfälle am 27. April 2017 und 24. August 2018), dass der Kläger in Überforderungssituationen wiederholt zu mindestens verbaler Aggression gegen andere und autoaggressivem Verhalten zur Durchsetzung seiner Belange gegriffen hat. Nach der Darstellung der Bediensteten des Ankerzentrums in Ingolstadt/Manching kam es in der Zeit vor dem 24. August 2018 häufiger vor, dass der Kläger in der Unterkunft „randalierte“, weswegen der Kläger verlegt und ein Hausverbot ausgesprochen wurde. Die aggressive Durchsetzung eigener Interessen ist dem Kläger daher nicht wesensfremd. Dieses Verhalten in der Vergangenheit lässt den Rückschluss zu, dass er auch künftig zu solchen Mitteln greifen wird, um (vermeintliche) Ansprüche und Interessen durchzusetzen. Dass der Kläger seit der letzten Verurteilung nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, spricht nicht für einen Wegfall der Wiederholungsgefahr, zumal der Kläger unter dem Druck offener Bewährung steht. Mit der Durchführung eines nationalen Asylverfahrens, der Verlegung des Klägers in eine dezentrale Unterkunft und die Möglichkeit eines Schulbesuchs waren vorübergehend wesentliche Konfliktfelder entfallen, die dem Kläger zuvor regelmäßig Anlass zur Durchsetzung seiner Interessen mittels aggressiver Verhaltensweisen gab. Mit Eintritt der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht durch die Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. April 2020 im Asylverfahren und den damit bevorstehenden ausländerbehördlichen Schritten zur Aufenthaltsbeendigung sind entsprechende Konfliktsituation allerdings wieder absehbar, ohne dass erkennbar wäre, dass der Kläger zwischenzeitlich seine Kompetenzen zur gewaltfreien Konfliktlösung ausgebaut hätte. Im Hinblick auf Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen, derentwegen der Kläger in der Vergangenheit ebenfalls strafrechtlich belangt wurde, ist nicht erkennbar, dass der Kläger nach Abschluss des Asylverfahrens substantielle Anstrengungen zur Erfüllung der Pass(beschaffungs) pflicht unternommen hätte. Auch insofern ist zu erwarten, dass der Kläger wieder gegen seine ausländerrechtlichen Pflichten verstoßen wird.
An dieser für den Kläger negativen Gefahrenprognose sieht sich der Senat auch durch die Aussetzung der Freiheitsstrafe des Klägers zur Bewährung durch das Amtsgericht Ingolstadt nicht gehindert. Auch wenn straf- oder strafvollstreckungsgerichtlichen Entscheidungen über die Aussetzung der (Rest-)Freiheitsstrafe eine Indizwirkung im Hinblick auf eine Wiederholungsgefahr zukommt, sind die Verwaltungsgerichte weder an diese Entscheidungen noch die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Prognosen gebunden (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Vorliegend entfaltet das Urteil des Amtsgerichts Ingolstadt vom 30. Juli 2019 allenfalls eine schwache Indizwirkung. Die Begründung der Strafaussetzung zur Bewährung erschöpft sich im Wesentlichen in der Wiederholung der § 56 Abs. 1 Satz 1 StGB formulierten tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Strafaussetzung zur Bewährung. Die von § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB geforderte Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ist den Urteilsgründen allenfalls in Ansätzen zu entnehmen. Insbesondere hat das Gericht das wiederholte aber nicht strafrechtlich geahndete aggressive Verhalten des Klägers vor der abgeurteilten Tat nicht berücksichtigt. Zu den beiden sonstigen Vorverurteilungen des Klägers, die nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG auch für sich genommen ebenfalls ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründen, verhält sich das Urteil des Amtsgerichts ebenfalls nicht.
Soweit der Kläger im Rechtsmittelverfahren Atteste über eine psychische Erkrankung vorgelegt hat, lassen diese ebenfalls nicht auf den Wegfall der Wiederholungsgefahr schließen. Ungeachtet der Frage, welchen Aussagewert die Atteste hinsichtlich der Straftaten des Klägers überhaupt haben (dazu sogleich), belegen sie jedenfalls keine Reduzierung des Aggressionspotentials des Klägers oder eine zu erwartende Rechtstreue im Hinblick auf seine ausländerrechtlichen Pflichten.
bb) Unabhängig davon bzw. daneben rechtfertigen generalpräventive Gesichtspunkte die Ausweisung des Klägers.
Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – BVerwGE 162, 349 juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 – juris Rn.17). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es – anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. – nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Nach der Rechtsprechung des Senats können im Einzelfall auch Falschangaben zur Erlangung einer Duldung (BayVGH, B.v. 10.12.2018 – 10 ZB 16.1511 – juris Rn. 19; B.v. 17.9.2020 – 10 C 20.1895 – juris Rn. 10), eine Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde (BayVGH, B.v. 6.3.2020 – 10 ZB 19.2419 – juris Rn. 5), Falschangaben im Visumverfahren (BayVGH, B.v. 28.12.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 13), die Verletzung der Passpflicht (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 20.666 – juris Rn. 8) oder Körperverletzung (BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 10 C 20.51 – juris Rn. 7) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – BVerwGE 42, 133 – juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Auflage 2020, § 7 Rn. 27; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.7.2020, § 53 AufenthG Rn. 32). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 – juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (so auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 63).
Gemessen daran besteht im Falle des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Schon bei den vom Kläger begangenen vorsätzlichen Straftaten im Zusammenhang mit seinen ausländerrechtlichen Pflichten besteht nach der dargestellten Rechtsprechung des Senats ein erhebliches öffentliches Interesse, andere Ausländer davon abzuhalten, vergleichbare Verstöße zu begehen. Darüber hinaus begründet insbesondere der vom Klägers begangene tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 StGB) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Bei tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte handelt es sich um ein zunehmend häufig auftretendes Delikt (Zahlenmaterial etwa bei BKA, Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte – Bundeslagebild 2019, S. 9 ff., abrufbar unter https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/GewaltGegenPVB/gewaltGegenPVB_node.html), dessen Begehung nicht nur die körperliche Integrität der betroffenen Beamtinnen und Beamten, sondern auch staatliche Vollstreckungsinteressen beeinträchtigt (vgl. etwa Eser in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB, § 114 Rn. 1). Tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte beeinträchtigen deshalb in erheblichem Maße die öffentliche Sicherheit und Ordnung, an einer entsprechenden generalpräventiven Abschreckung besteht ein hohes öffentliches Interesse. Diese Wertung hat auch in § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. e AufenthG Niederschlag gefunden, wonach im Falle der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte oder tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse besteht. Taten dieses Deliktstyps stellen typischerweise auch keine Beziehungs- oder Affekttaten da, sodass eine konsequente Ausweisungspraxis tatsächlich geeignet ist, Ausländer von entsprechenden Straftaten abzuhalten.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich der Kläger bei der Tatbegehung in einer so besonderen, gleichsam nicht wiederholbaren Lage befunden hätte, dass eine generalpräventive Ausweisung eine abschreckende Wirkung von vornherein nicht entfalten könnte. Der Kläger lässt im Berufungsverfahren zwar ausführen, dass die Tat im August 2018 „nicht ausschließbar“ aufgrund der seit März 2020 diagnostizierten Erkrankungen (PTBS, polymorphe psychotische Störung, paranoide Schizophrenie u.a.) erfolgt sein könnte. Für die Annahme, dass er bei Tatbegehung nicht oder nur eingeschränkt einsichts- oder steuerungsfähig gewesen wäre, liegen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Eine fehlende oder eingeschränkte Schuldfähigkeit hat das Amtsgericht nicht angenommen oder auch nur thematisiert, der Kläger hatte sie zu keiner Zeit geltend gemacht. Auch im Anhörungsverfahren zur streitgegenständlichen Ausweisung hat der Kläger nur geschildert, dass er sich in einer „Stresssituation“ befunden habe. Ein Zusammenhang seiner Erkrankung mit der Straftat oder auch nur allgemein mit aggressivem Verhalten gegenüber Dritten wird in keinem der vorgelegten Atteste hergestellt. Selbst wenn die nunmehr diagnostizierten Erkrankungen bereits im August 2018 vorgelegen hätten, ist nicht erkennbar, dass sie den Angriff auf Vollstreckungsbeamte in einer Weise mitverursacht hätten, dass eine Ausweisung von vornherein keine abschreckende Wirkung auf andere Ausländer haben könnte. Insofern bedurfte es auch trotz der Beweisanregung des Klägers im Schriftsatz vom 6. Oktober 2020 keiner weiteren Sachverhaltsaufklärung durch den Senat.
Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist im Falle des Klägers auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8). Da tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte nach § 78 Nr. 4 StGB in fünf Jahren verjährt, besteht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats zwei Jahre und zwei Monate nach der Tat an der Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses kein Zweifel. Entsprechendes gilt für das Ausweisungsinteresse im Hinblick auf den illegalen Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet in Tateinheit mit Aufenthalt ohne Pass im Zeitraum bis zum 5. April 2018, der nach § 78 Nr. 5 StGB in drei Jahren verjährt.
b) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiegt.
Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
Der Kläger erfüllt – wie dargestellt – ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Die Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 10 Monaten u.a. wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte bewegt sich dabei nur knapp unterhalb des Strafmaßes von einem Jahr Freiheitsstrafe, ab dem nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. e AufenthG von einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse auszugehen wäre. Im konkreten Fall spricht für ein weiter erhöhtes generalpräventives Ausweisungsinteresse insbesondere, dass sich im Zusammenhang mit dem aggressiven Verhalten des Klägers gegen die Mitarbeiter des Ankerzentrums ca. 30 Asylbewerber mit dem Kläger solidarisiert hatten und aus der folgenden Gemengelage weitere Straftaten u.a. gegen (andere) Polizeibeamte begangen wurden. Der zur Auflösung der Lage erforderliche Einsatz von ca. 30 Polizeibeamten und -beamtinnen wurde in der Folge von der (teilweise überregionalen) Presse aufgegriffen. Das Unterbleiben einer ausländerrechtlichen Reaktion würde die öffentliche Sicherheit und Ordnung daher in besonderem Maße beeinträchtigen. Selbst wenn die nunmehr diagnostizierten Erkrankungen des Klägers einen Einfluss auf das Verhalten des Klägers gehabt hätten, ist nicht erkennbar, dass dieser Einfluss so groß gewesen wäre, dass er die von der Ausweisung ausgehende Abschreckungswirkung mehr als nur geringfügig reduzieren würde. Dass der Kläger den Schmerzensgeldanspruch der geschädigten Polizeibeamtin in Raten erfüllt, mindert das Ausweisungsinteresse ebenfalls nicht erheblich, zumal der Kläger damit offenbar erst begonnen hat, nachdem er im Adhäsionsverfahren hierzu verurteilt wurde.
Das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt dieses schwerwiegende Ausweisungsinteresse nicht. Auf ein in § 55 AufenthG vertyptes Bleibeinteresse kann sich der Kläger nicht berufen. Er hält sich erst seit Juni 2017 im Bundesgebiet auf und ist nach dem erfolglosen Abschluss seines Asylverfahrens vollziehbar ausreisepflichtig. Schützenswerte, insbesondere familiäre Bindungen im Bundesgebiet hat er nicht. Eine berufliche oder wirtschaftliche Integration hat bislang allenfalls in Ansätzen stattgefunden, nachdem der Kläger erst seit September 2019 die Integrationsklasse einer staatlichen Berufsschule besucht.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.


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