Strafrecht

Invollzugsetzung eines ausgesetzten Haftbefehls durch das Beschwerdegericht – Erforderlichkeit der Vorführung des erneut festgenommenen Beschuldigten

Aktenzeichen  Ws 735/21

Datum:
11.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 28649
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 115 Abs. 1
GG Art. 104 Abs. 3 S. 1

 

Leitsatz

Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Ermittlungsrichter auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufgehoben und der Haftbefehl damit wieder in Vollzug gesetzt, ist der Beschuldigte unverzüglich nach seiner erneuten Festnahme gem. § 115 Abs. l S. 1 StPO dem zuständigen Gericht vorzuführen. Dies ist anerkannt für den Fall, dass ein ausgesetzter Haftbefehl gem. § 116 Abs. 4 StPO wieder in Vollzug gesetzt wird. Nichts anderes kann vor dem Hintergrund der in Art. 104 Abs. 3 S. 1 GG getroffenen Regelung für den vorliegenden Fall gelten, dass ein zunächst ausgesetzter Haftbefehl durch das Beschwerdegericht wieder in Vollzug gesetzt wird. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Auf die Haftbeschwerde des Beschuldigten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Amberg vom 30.06.2021 und der Beschluss des Landgerichts Amberg vom 15.07.2021 aufgehoben.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten der bei dem Landgericht Amberg und dem Oberlandesgericht geführten Beschwerdeverfahren und die dem Beschuldigten dabei entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

Die zulässige Haftbeschwerde des Beschuldigten richtet sich formell zwar gegen den Beschluss des Landgerichts Amberg vom 15.07.2021, mit dem auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft der Beschluss des Amtsgerichts Amberg vom 01.07.2021 aufgehoben wurde, mit dem der Haftbefehl des Amtsgerichts Amberg vom 30.06.2021 unter Erteilung von Auflagen außer Vollzug gesetzt worden war. Da der Beschuldigte im Schreiben seines Verteidigers vom 21.07.2021 beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen, handelt es sich aber um eine vollumfängliche gemäß § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO statthafte weitere Haftbeschwerde.
Auf die weitere Haftbeschwerde sind der Haftbefehl des Amtsgerichts Amberg vom 30.06.2021 und der Beschluss des Landgerichts Amberg vom 15.07.2021 aufzuheben, da der aufgrund des mit dem Beschluss des Landgerichts Amberg in Vollzug gesetzten Haftbefehls erneut festgenommene Beschuldigte nicht dem zuständigen Gericht vorgeführt wurde.
1. Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls durch den Ermittlungsrichter auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft aufgehoben und der Haftbefehl damit wieder in Vollzug gesetzt, ist der Beschuldigte unverzüglich nach seiner erneuten Festnahme gemäß § 115 Abs. 1 StPO dem zuständigen Gericht vorzuführen. Dies ist anerkannt für den Fall, dass ein ausgesetzter Haftbefehl gemäß § 116 Abs. 4 StPO wieder in Vollzug gesetzt wird (KK-StPO/Graf, 8. Auflage, § 115 Rn 3, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 115 Rn 2). Nichts anderes kann vor dem Hintergrund der in Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG getroffenen Regelung für den vorliegenden Fall gelten, dass der zunächst ausgesetzte Haftbefehl durch das Beschwerdegericht wieder in Vollzug gesetzt wird. Daran ändert nichts, dass – wie auch im Fall des § 116 Abs. 4 StPO – der Ergreifung derselbe Haftbefehl mit demselben Sachverhalt zu Grunde liegt, wozu der Beschuldigte nach seiner ersten Ergreifung bereits angehört und ihm auch im Beschwerdeverfahren rechtliches Gehör gewährt worden war. Auch bei der erneuten Festnahme nach der Aufhebung der Außervollzugsetzung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht handelt es sich damit um eine Ergreifung im Sinn des § 115 Abs. 1 StPO.
2. Der Beschuldigte wurde aufgrund des mit dem Beschluss des Landgerichts Amberg in Vollzug gesetzten Haftbefehls erneut festgenommen und nicht dem zuständigen Gericht vorgeführt.
3. Aufgrund der fehlenden Vorführung des Beschuldigten vor den zuständigen Richter ist der Haftbefehl aufzuheben.
a. In die materielle Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darf nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen eingegriffen werden (Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG). Art. 104 Abs. 1 GG verstärkt den in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt, indem er neben der Forderung nach einem „förmlichen“ freiheitsbeschränkenden Gesetz die Pflicht, dessen Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt. Verstöße gegen die durch Art. 104 GG gewährleisteten Voraussetzungen und Formen freiheitsbeschränkender Gesetze stellen daher stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person dar. Das in § 115 StPO enthaltene Gebot, den Beschuldigten nach Ergreifung auf Grund eines Haftbefehls von dem zuständigen Richter vor der Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls vernehmen zu lassen, gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. September 2001 – 2 BvR 1144/01 -, Rn. 16-17, juris).
b. Offen bleiben kann vorliegend, ob die fehlende Vorführung nachgeholt werden könnte (vgl. Graf, StPO, 3. Auflage, § 115 Rn. 6). Da der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Amberg mit Beschluss vom 09.08.2021 die Vorführung und Anhörung des Beschuldigten abgelehnt hat, ist eine Heilung des Rechtsverstoßes jedenfalls nicht absehbar.
Damit fehlt dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft die Rechtsgrundlage und der Haftbefehl ist aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1, 3 StPO.


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