Strafrecht

Keine neue Führungsaufsicht bei bereits eingetretener Führungsaufsicht infolge der Erledigterklärung der Unterbringung

Aktenzeichen  JKII Qs 35/20 jug

Datum:
3.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 33522
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 64, § 67d Abs. 2 S. 1, Abs. 5 S. 2, § 68e Abs. 1, § 68g Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1. Nach § 67d Abs. 5 S. 2 StGB geht mit der Erledigterklärung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ein Eintritt der Führungsaufsicht kraft Gesetzes einher, sobald der Betroffene nach Rechtskraft der Erledigterklärung aus dem Vollzug der Unterbringung entlassen wird. Dies gilt unabhängig davon, ob ein Betroffener in den Strafvollzug überführt wird (ebenso KG BeckRS 2001, 16595 Rn. 10) (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen eine Führungsaufsicht nach Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel grundsätzlich fortbestehen und Doppelbetreuungen vermieden werden. Der Führungsaufsicht kommt gleichermaßen Stützungs-/Betreuungsfunktion als auch Überwachungs-/Sicherungsfunktion zu (ebenso OLG Nürnberg BeckRS 2014, 22548 Rn. 19). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine bereits eingetretene Führungsaufsicht wird nicht durch die Aussetzung der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel zur Bewährung verdrängt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
4. Erfolgt die Aussetzung der Vollstreckung nach § 67d Abs. 2 S. 1 StGB und tritt gem. § 67d Abs. 2 S. 3 StGB kraft Gesetzes Führungsaufsicht ein, ist dies nicht als „Erledigung“ der „Entlassung aus dem Vollzug“ nach § 67d Abs. 5 S. 2 StGB auslegbar. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Auslegung; obwohl die Führungsaufsicht keine materielle Strafe darstellt, gilt über den im Rechtsstaatsprinzip verorteten Gesetzesvorbehalt das Gebot der Wortlautgrenze und das Analogieverbot (ebenso BVerfG BeckRS 2008, 33093; aA OLG München BeckRS 2013, 4336).  (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

462 BÜR 7/19 FA 2020-09-22 Bes AGFUERTH AG Fürth

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth gegen den Beschluss des Amtsgerichts Fürth vom 22.09.2020 wird als unbegründet verworfen.
2. Die Kosten des Rechtsmittels fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.
Mit Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth – Jugendkammer IV – vom 16.11.2016 (JKIV KLs 353 Js 11975/15 jug) wurde der Verurteilte wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 15 Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 4 Jahren 6 Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB angeordnet.
Am 07.02.2017 wurde der Verurteilte im Bezirkskrankenhaus Parsberg zur stationären Therapie aufgenommen (Bl. 37).
Mit Beschluss vom 24.01.2019 (25 VRJs 6/17 jug) setzte das Amtsgericht Neumarkt die Vollstreckung des Restes der Jugendstrafe sowie die weitere Vollstreckung der Unterbringung in der Entziehungsanstalt zum 08.02.2019 zur Bewährung aus und stellte fest, dass Führungsaufsicht eintritt (Bl. 109). Die Dauer der Führungsaufsicht wurde auf drei Jahre festgesetzt.
Mit Beschluss vom 12.03.2020 (462 BÜR 7/19 FA) widerrief das Amtsgericht Fürth die Reststrafaussetzung zur Bewährung (Bl. 204) und erklärte mit Beschluss vom 23.03.2020 (462 BÜR 7/19 FA) die weitere Vollstreckung der zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung für erledigt (Bl. 219). Die vom Verurteilten durch dessen Verteidiger eingelegte sofortige Beschwerde vom 02.04.2020 (Bl. 222) wurde durch das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Beschluss vom 23.06.2020 (1 Qs 27/20) verworfen (Bl. 241). Der Verurteilte verbüßt die Reststrafe seit 08.06.2020.
Mit Verfügung vom 17.07.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die gerichtliche Feststellung des Eintritts einer neuen Führungsaufsicht (Bl. 247). Dieser Antrag wurde durch das Amtsgericht Fürth letztlich mit Beschluss vom 22.09.2020 (462 BÜR 7/19 FA) zurückgewiesen (Bl. 257). Der Beschluss ging der Staatsanwaltschaft am 24.09.2020 zu, § 41 StPO (Bl. 259).
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vom 01.10.2020 (Bl. 261), bei Gericht eingegangen am 01.10.2020 (Bl. 263). Mit Verfügung vom 09.10.2020 hat die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth das Rechtsmittel als sofortige Beschwerde benannt und beantragt, den Beschluss des Amtsgerichts Fürth aufzuheben und festzustellen, dass Führungsaufsicht eingetreten ist, sowie die gesetzliche Dauer von fünf Jahren nicht abzukürzen, den Verurteilten der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen und auszusprechen, dass weitere Weisungen für den Zeitpunkt der Entlassung vorbehalten werden (Bl. 264).
Dem Verteidiger des Verurteilten wurde am 19.10.2020 rechtliches Gehör gewährt (Bl. 266). Er hat erklärt, keine Stellungnahme abzugeben.
II.
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
1. Die sofortige Beschwerde ist gem. § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. §§ 454 Abs. 3 Satz 1, 462 Abs. 3 Satz 1, 463 Abs. 3 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig erhoben.
2. Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.
a) Ausweislich § 67d Abs. 5 Satz 2 StGB geht mit der Erledigterklärung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ein Eintritt der Führungsaufsicht kraft Gesetzes einher, sobald der Betroffene nach Rechtskraft der Erledigterklärung aus dem Vollzug der Unterbringung entlassen wird (Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 66; LK-StGB/Rissing-van Saan, 12. Aufl. 2007, § 67d Rn. 40; MüKo-StGB/Veh, 4. Aufl. 2020, § 67d Rn. 46; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, § 67d Rn. 14). Dies gilt gerade unabhängig davon, ob ein Betroffener in den Strafvollzug überführt wird (KG 10.07.2001 – 5 Ws 291/01, NStZ-RR 2002, 138 (139); BeckOK-StGB/Ziegler, 47. Ed. 2020, § 67d Rn. 14; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, § 67d Rn. 14). Dem liegt die Annahme des Gesetzgebers zugrunde, dass Personen, bei denen wegen fehlender Erfolgsaussicht der Unterbringung die Maßregel für erledigt erklärt wird, als besonders gefährlich einzustufen sind, da ihre Sucht in therapeutisch resistenter Weise fortbesteht (Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 66; LK-StGB/Schneider, 12. Aufl. 2007, Vor §§ 68 ff. Rn. 9).
b) Vorliegend war der Verurteilte indessen bereits zum 08.02.2019 aus dem Vollzug der Unterbringung entlassen worden, wodurch auch bereits Führungsaufsicht nach §§ 105 Abs. 1, 7 Abs. 1 JGG, 67d Abs. 2 Satz 3 StGB eingetreten ist. Im Rahmen des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen von 2010 (BGBl. I, 2010, S. 2300 (2302)) reformierte der Gesetzgeber § 68e Abs. 1 Satz 1 StGB dahingehend, dass die Führungsaufsicht nach Aussetzung der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Maßregel zur Bewährung in keinem Fall mehr automatisch verdrängt wird (Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 124). Demnach besteht die mit Beschluss des Amtsgerichts Neumarkt vom 24.01.2019 festgestellte Führungsaufsicht unverändert fort. Eine nachträgliche Verlängerung bzw. eine Aufhebung der Abkürzung der dort festgesetzten Frist nach § 68d Abs. 1 StGB ist – bis zu ihrem Ablauf – jederzeit möglich (OLG Hamm 13.03.2014 – 2 Ws 42/14, NStZ-RR 2014, 245; BeckOK-StGB/Heuchemer, 47. Ed. 2020, § 68d Rn. 2; MüKo-StGB/Groß/Ruderich, 4. Aufl. 2020, § 68c Rn. 5a; zu einer faktischen Verlängerung der Höchstdauer der Führungsaufsicht infolge § 68g Abs. 1 Satz 2 StGB vgl. Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 98). Gleiches gilt für die auf eine veränderte Sachlage gestützte Änderung/Neufassung von Weisungen, was an der jeweils aktuellen Kriminalprognose für den Verurteilten auszurichten ist (OLG Nürnberg 11.03.2013 – 1 Ws 307/12, BeckRS 2013, 5853; MüKo-StGB/Groß/Ruderich, 4. Aufl. 2020, § 68d Rn. 4).
c) Die vorliegende Konstellation, dass nämlich eine Aussetzung der Vollstreckung nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB erfolgt (und gem. § 67d Abs. 2 Satz 3 StGB kraft Gesetzes Führungsaufsicht eintritt), ist einer Auslegung der „Erledigung“ als „Entlassung aus dem Vollzug“ nach § 67d Abs. 5 Satz 2 StGB nicht zugänglich (vgl. auch OLG Bremen 21.12.1979 – Ws 246/79, MDR 1980, 512). Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen zum Nachteil des Betroffenen (BGH 28.08.2007 – 1 StR 268/07, BGHSt 52, 31 = NJW 2008, 240 (243) Rn. 28). Auch in einer stattfindenden forensischen Nachsorge (etwa durch Urin-Screenings und vorgegebene Therapeutengespräche) kann kein solcher Vollzug gesehen werden, da diese nicht mehr in der Unterbringung, sondern vielmehr bereits in der Führungsaufsicht begründet ist. Es handelt sich bei der Führungsaufsicht zwar nicht um eine materielle Strafe, sodass Art. 103 Abs. 2 GG keine Anwendung findet (BVerfG 20.06.2012 – 2 BvR 1048/11, BVerfGE 131, 268 = NJW 2012, 3357 (3363) Rn. 116; OLG Nürnberg 10.11.2014 – 2 Ws 509/14, BeckRS 2014, 22548 Rn. 8 f.; BeckOK-GG/Radtke, 44. Ed. 2020, Art. 103 Rn. 20), gleichwohl jedoch um eine den Betroffenen belastende Maßnahme mit je nach Ausgestaltung nicht unerheblichen Grundrechtseingriffen (vgl. auch BVerfG 15.08.1980 – 2 BvR 495/80, BVerfGE 55, 28 = NStZ 1981, 21 (22)), wodurch über den im Rechtsstaatsprinzip verorteten Gesetzesvorbehalt das Gebot der Wortlautgrenze und des Analogieverbots (lex stricta) ebenfalls Geltung beansprucht (BVerfG 26.02.2008 – 2 BvR 2143/07, BVerfGK 13, 345 = NStZ-RR 2008, 217; LK-StGB/Schöch, 12. Aufl. 2007, Vor §§ 61 ff. Rn. 50; MüKo-StGB/Schmitz, 4. Aufl. 2020, § 1 Rn. 74; Bottke, NStZ 2005, 327 (328); Roxin, StrR AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 40; a.A. OLG München 04.05.2012 – 1 Ws 331/12, 1 Ws 334/12, BeckRS 2013, 4336; Lackner/Kühl, 29. Aufl. 2018, § 1 Rn. 8; Dölling/Duttge/König/Rössner, 4. Aufl. 2017, § 1 Rn. 8). Die Regelung des § 2 Abs. 6 StGB steht dem nicht entgegen, sondern stützt vielmehr diese Sichtweise.
Zwar spricht das Gesetz in § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB von „Vollstreckung“, während es in § 67d Abs. 5 Satz 2 StGB die Formulierung „Vollzug“ wählt, dem ist jedoch im Wege systematischer und teleologischer Auslegung kein übermäßiger Bedeutungsgehalt beizumessen. Dem entspricht es auch, dass für § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB („Sind zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden“) anerkannt ist, dass Zeiten der Aussetzung oder der Unterbrechung insofern ausscheiden (LK-StGB/Rissing-van Saan, 12. Aufl. 2007, § 67d Rn. 67; Matt/Renzikowski/Eschelbach, 2. Aufl. 2020, § 67d Rn. 23; MüKo-StGB/Veh, 4. Aufl. 2020, § 67d Rn. 36), diesbezüglich also explizit Vollzug und Vollstreckung innerhalb des § 67d StGB gleichgesetzt werden (LK-StGB/Rissing-van Saan, 12. Aufl. 2007, § 67d Rn. 67; Matt/Renzikowski/Eschelbach, 2. Aufl. 2020, § 67d Rn. 23; vgl. zum Begriffsverständnis auch NK-StGB/Pollähne, 5. Aufl. 2017, § 67d Rn. 52). Dem Gedanken des Gesetzgebers folgend, dass eine Führungsaufsicht nach Aussetzung einer freiheitsentziehenden Maßregel grundsätzlich fortbestehen soll, gleichzeitig jedoch Doppelbetreuungen zu vermeiden sind (vgl. Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 125), entspricht die vorgenommene Auslegung durch die Kammer. Dieser Gedankengang hat auch im Gesetzeswortlaut Niederschlag gefunden. Der Maßregel der Führungsaufsicht kommt gleichermaßen Stützungs-/Betreuungsfunktion als auch Überwachungs-/Sicherungsfunktion zu (OLG Nürnberg 10.11.2014 – 2 Ws 509/14, BeckRS 2014, 22548 Rn. 19); sie ist entsprechend der persönlichen Struktur des Täters und seinen Bedürfnissen solcherart auszugestalten, dass im Bedarfsfall die Gewichtung der gesetzlichen Zielrichtung unterschiedlich auszufallen hat (Ruderich, Führungsaufsicht, 2014, S. 49 ff.). Infolge des Fortbestands der Führungsaufsicht nach § 67d Abs. 2 Satz 3 StGB ist der Gesetzeszweck vorliegend gewahrt. Dass die eine etwaige Widerrufsbewehrung begleitende (teilweise) Zwecksetzung der Führungsaufsicht sich durch die Erledigterklärung ebenfalls erledigt hat, steht dem Fortbestand der zugrunde liegenden Führungsaufsicht weder vom Wortlaut noch teleologisch entgegen, weil die fortbestehende (wenn auch vorliegend ruhende, § 68e Abs. 1 Satz 2 StGB) Überwachung weiter gerechtfertigt ist (freilich unter der Prämisse, dass nicht – wie von der sofortigen Beschwerde geltend gemacht – nach § 67d Abs. 5 Satz 2 StGB eine neue Führungsaufsicht auszugestalten wäre, wobei dann ja immer noch eine Entscheidung nach § 68e Abs. 1 Satz 3, Satz 4 StGB zu treffen wäre).
Zwar ist zuzugeben, dass sich die gesetzes-typisierte abstrakte Gefährlichkeit des Verurteilten durch die nachträgliche Erledigterklärung und den gleichzeitigen Bewährungswiderruf sogar gewissermaßen konkret erhöht hat, indem er die in der Aussetzungsentscheidung getroffene positive Prognose nicht bestätigen konnte. Auch verkennt die Kammer nicht, dass die bestehende, während der Haft ruhende, Führungsaufsicht nach Haftentlassung – selbst bei Verlängerung nach § 68d Abs. 1 StGB – gegebenenfalls nur noch kürzer läuft als eine etwaige neue Führungsaufsicht nach § 67d Abs. 5 Satz 2 StGB. Insofern ist jedoch zum einen auf §§ 68f Abs. 1 Satz 1, 68g Abs. 1 StGB zu verweisen und zum anderen zu betonen, dass diese Erwägung ohnehin nicht an der Wortlautgrenze vorbeiführt. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch eine nach Haftentlassung eintretende Führungsaufsicht nach § 68f Abs. 1 Satz 1 StGB neben die hiesige Führungsaufsicht nach § 67d Abs. 2 Satz 3 StGB treten wird, sodass dann eine Entfallens-Entscheidung nach § 68e Abs. 1 Satz 3, Satz 4 StGB geboten sein wird.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.


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