Strafrecht

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Aktenzeichen  12 Qs 6/22

Datum:
10.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 5392
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Nürnberg-Fürth
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ApoG § 11 Abs. 1
StGB § 263 Abs. 1
StPO § 98 Abs. 2
stopp § 108 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Rechnet ein Apotheker gegenüber der Krankenkasse Verschreibungen ab, die er sich entgegen § 11 Abs. 1 ApoG hat zuweisen lassen, kann das den Tatverdacht des Abrechnungsbetrugs begründen.
2. Für die Bestätigung der vorläufigen Mitnahme von Zufallsfunden durch die Staatsanwaltschaft ist der Richter des Ausgangsverfahrens zuständig, solange kein neues Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist.

Verfahrensgang

57 Gs 11304/21 — AGNUERNBERG AG Nürnberg

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg aufgehoben, soweit die vorläufige Mitnahme der Asservate Nr. 1.2.126 und 1.2.145 des Sicherstellungsverzeichnisses vom 27.10.2021 bestätigt worden ist. Die Asservate sind an ihn herauszugeben.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet verworfen.
3. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen.

Gründe

I.
Der Beschuldigte wendet sich gegen die ermittlungsrichterliche Bestätigung der Mitnahme vorläufig sichergestellter Unterlagen zur Durchsicht. Dem liegt Folgendes zugrunde:
Der Beschuldigte ist Apotheker. Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg (GenStA) führt gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen Abrechnungsbetrugs. Soweit für das Beschwerdeverfahren von Interesse, wirft sie dem Beschuldigten vor, er habe sich über die X GmbH, die Hilfsmittel (Medizinprodukte zur Einnahme von Arzneimitteln) vertreibt, von Ärzten absprachegemäß Verschreibungen zuweisen lassen. Dabei habe die X GmbH Rezepte für die Arzneimittel V., A. und G. bei den diese Rezepte ausstellenden Ärzten eingesammelt und an den Beschuldigten weitergegeben. Darin liege ein Verstoß gegen § 11 ApoG. Die Leistungen des Beschuldigten seien daher gegenüber den Krankenkassen nicht abrechenbar. Gleichwohl habe der Beschuldigte die abgegebenen Arzneimittel abgerechnet und die Kassen entsprechend geschädigt.
Auf Antrag der GenStA ordnete das Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 19. März 2021 die Durchsuchung der Apotheke und der Wohnung des Beschuldigten an. Gesucht werden sollte nach Unterlagen, die für den Zeitraum vom 1. Oktober 2016 bis 31. Dezember 2018 über die Abgabe der genannten Arzneimittel und die diesen zugrunde liegenden Geschäfte und Zahlungen Auskunft geben. In der Begründung des Beschlusses wird unter anderem ausgeführt, der Beschuldigte habe mit der X GmbH im Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2018 zusammengearbeitet. Am 24. September 2021 bestätigte der Ermittlungsrichter den Durchsuchungsbeschluss vom 19. März 2021.
Die Durchsuchungen wurden am 27. Oktober 2021 vollzogen. Dabei stellten die Ermittler diverse Unterlagen und Datenträger sicher und nahmen sie zur Durchsicht mit. Diese dauert noch an. Der Verteidiger beantragte am 23. November 2021 bei der GenStA die Herausgabe der Unterlagen, die nicht den im Durchsuchungsbeschluss bezeichneten Zeitraum betreffen. Mit Beschluss vom 4. Januar 2022 bestätigte das Amtsgericht Nürnberg auf Antrag der GenStA die vorläufige Mitnahme der in den Sicherstellungsprotokollen bezeichneten Gegenstände zum Zwecke der Durchsicht durch die GenStA und ihre Ermittlungspersonen.
Dagegen legte der Beschuldigte mit Schreiben vom 17. Januar 2022 Beschwerde ein. Das Amtsgericht Nürnberg half ihr nicht ab. Die GenStA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
II.
Die Beschwerde (§ 304 Abs. 1 StPO) ist zulässig, jedoch nur im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen war sie als unbegründet zu verwerfen. Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung ist anhand der rechtlichen Voraussetzungen der Durchsuchung (§§ 102, 103 StPO) und der Durchsicht von Papieren (§ 110 StPO) – sowie hier ergänzend anhand des § 108 StPO – zu beurteilen (BGH, Beschluss vom 5. August 2003 – StB 7/03, juris Rn. 8 f.).
1. Die Voraussetzungen einer Durchsuchungsanordnung gem. § 102 StPO sind gegeben.
a) Es liegt ein formell wirksamer Durchsuchungsbeschluss vor. Wird mit einer Durchsuchung nicht spätestens innerhalb eines halben Jahres nach Erlass des Durchsuchungsbeschlusses begonnen, kann die richterliche Anordnung den Eingriff nicht mehr rechtfertigen. Sie tritt, wenn sie nicht richterlich bestätigt wird, außer Kraft und verliert damit ihre rechtfertigende Wirkung (BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 1997 – 2 BvR 1992/92, juris Rn. 29 f.; Beschluss vom 6. Februar 2002 – 2 BvR 380/01, juris Rn. 13). Hier liegt die erforderliche Bestätigung im Beschluss des Ermittlungsrichters vom 24. September 2021 vor.
b) Es ist – entgegen der Auffassung der Beschwerde – auch der Anfangsverdacht i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO des (Abrechnungs-)Betruges gegen den Angeklagten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu bejahen.
aa) Der Betrug (§ 263 Abs. 1 StGB) setzt zunächst voraus, dass jemand über Tatsachen ausdrücklich oder konkludent täuscht. Dahingehender Anfangsverdacht besteht.
(1) Ein Apotheker, der am Abrechnungssystem der Krankenkassen teilnimmt, erklärt bei den Abrechnungen stillschweigend, dass er bestehende sozial-rechtliche Erstattungsansprüche unter Einhaltung der abrechnungsrechtlichen Maßgaben geltend macht (BGH, Urteil vom 10. Dezember 2014 – 5 StR 405/13, juris Rn. 11; Urteil vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19, juris Rn. 60 m.w.N.). Voraussetzung der Entstehung des gesetzlichen Vergütungsanspruchs des Apothekers ist, dass der Empfänger des Arzneimittels gesetzlich versichert ist, eine ordnungsgemäße vertragsärztliche Verordnung vorlegt und die Abgabevorschriften inhaltlicher Art eingehalten wurden. Letzteres bedeutet, dass die Entstehung des Vergütungsanspruchs des Apothekers unter der Bedingung der Abgabe gemäß den kollektivvertraglichen Bestimmungen steht (BSG, Urteil vom 17. März 2005 – B 3 KR 2/05 R, juris Rn. 32; Urteil vom 3. August 2006 – B 3 KR 6/06 R, juris Rn. 21). Der aufgrund von § 129 Abs. 2 SGB V zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem Deutschen Apothekerverband geschlossene Rahmenvertrag (hier i.d.F. vom 30. September 2016) regelt, in welchen Fällen der Vergütungsanspruch des Apothekers gegen die Krankenkasse entsteht und wann er entfällt. Weitere einschlägige Regelungen finden sich im zwischen dem Verband der Ersatzkassen und dem Deutschen Apothekerverband geschlossenen Arzneiversorgungsvertrag (AVV, i.d.F. vom 1. April 2016) sowie im auf Grundlage des § 3 Abs. 2 des Rahmenvertrags i.V.m. § 129 Abs. 5 Satz 1 SGB V vereinbarten Arzneimittelversorgungsvertrag Bayern (AV-Bay, i.d.F. vom 1. Juni 2016).
Der von der GenStA in diesem Zusammenhang angeführte § 7 Abs. 1 AVV enthält weder nach dem Wortlaut noch nach seiner systematischen Stellung eine abrechnungsrechtliche Regelung, sondern bestimmt, dass Versicherte oder Vertragsärzte weder von den Apotheken zu Lasten der Ersatzkassen noch von den Ersatzkassen zugunsten bestimmter Apotheken beeinflusst werden dürfen. Dies bezieht sich auch auf die Zuweisung von Verordnungen an einzelne Apotheken oder Lieferanten. Damit vergleichbar dürfen – zum Schutz des Vertrauens der Kundschaft in die Unabhängigkeit und Professionalität der Tätigkeit des Apothekers (BGH, Urteil vom 18. Juni 2015 – I ZR 26/14, juris Rn. 20; Sieper in Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., § 11 ApoG Rn. 1) – nach § 11 Abs. 1 ApoG (i.d.F. vom 19.10.2012) Apotheker mit Ärzten keine Rechtsgeschäfte vornehmen oder Absprachen treffen, die u.a. die Zuführung von Patienten oder die Zuweisung von Verschreibungen zum Gegenstand haben. Gleichwohl entfällt bei Verstößen gegen die genannten Vorschriften der Vergütungsanspruch des Apothekers (SG Berlin, Urteil vom 18. Juli 2006 – S 81 KR 4207/04, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. April 2008 – L 1 KR 78/07, juris; allgemein von Dewitz in BeckOK-SozR, 63. Ed. 1.12.2021, SGB V § 129 Rn. 4; a.A. Saalfrank, jurisPR-MedizinR 8/2020 Anm. 4 unter C). Zugleich hat der Bundesgerichtshof dem Abrechnungsbegehren eines Apothekers, der gegen § 7 Abs. 1 AVV verstoßen hatte, Täuschungscharakter zugeschrieben (BGH, Urteil vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19, juris Rn. 63). Ebenso sieht es die überwiegende Meinung bei Verstößen gegen § 11 Abs. 1 ApoG (Michels, medstra 2018, 65, 66 f.; Fischer, medstra 2019, 257; siehe weiter für vergleichbare Konstellationen einer unzulässigen Kooperation auch AG Landsberg, Urteil vom 16. Januar 2013 – 6 Ls 200 Js 141129/08, juris; LG Koblenz, Urteil vom 3. März 2016 – 10 KLs 2050 Js 66342/12, UA S. 89, unter https://www.kkh.de/content/dam/kkh/dokumente/abrechnungsbetrug/fachliteratur/strafrecht/061.pdf; a.A. Warntjen, medstra 2018, 193, 194; allgemein Saliger, medstra 2019, 258, 261). Für den Fall eines Verstoßes gegen § 11 Abs. 1 ApoG folgt die Kammer mit Blick auf das zitierte Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19. August 2020 dieser Auffassung. Denn es handelt sich bei dieser Regelung um eine einigermaßen zentrale Berufsausübungsvorschrift, bei der auch seit langem bekannt ist, welche Folgen für die Abrechnung (bzw. für die Retaxation) es hat, wenn gegen sie verstoßen wird. Mit dieser Wertung wird weder die objektive Täuschungshandlung übermäßig normativ überlagert, noch gerät man bei der Prüfung des subjektiven Tatbestandes in nicht behebbare Beweisnot.
(2) Diesen rechtlichen Rahmen vorweggeschickt, teilt die Kammer die Auffassung des Amtsgerichts, es bestünden tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass zwischen dem Beschuldigten und den verschreibenden Ärzten über die X GmbH vermittelte Absprachen bestanden haben könnten, die eine Zuweisung von Verschreibungen i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 1 ApoG (zu deren Voraussetzungen OLG Karlsruhe, Urteil vom 14. Juni 2013 – 4 U 254/12, juris Rn. 20 ff.) zum Gegenstand hatten. Diesen Schluss lassen die vorgelegten statistischen Auswertungen der Krankenkassen und die Stellungnahme der X GmbH gegenüber der Uniklinik Magdeburg vom 5. November 2018 zu, wie schon das Amtsgericht ausgeführt hat. Diese Indizien können plausibel dahin gedeutet werden, es lägen abgesprochene Zuweisungen von Verschreibungen vor, sodass die – ohnehin nicht sehr hohe – Schwelle des Anfangsverdachts insoweit genommen wird.
bb) Auch die weiteren Tatbestandsmerkmale des Betrugs sind im Sinne des Anfangsverdachts gegeben. Ein das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 ApoG betreffender Irrtum bei dem jeweils sachbearbeitenden Mitarbeiter der Krankenkasse wird selbst ohne konkrete Einzelfallprüfung herbeigeführt, da es im standardisierten und auf Massenerledigung angelegten Abrechnungsverfahren nicht erforderlich ist, dass der jeweilige Mitarbeiter sich hinsichtlich jeder einzelnen geltend gemachten Position eine positive Vorstellung dahingehend macht, dass sie nach Grund und Höhe berechtigt ist. Es genügt insoweit die Annahme und das sachgedankliche Mitbewusstsein, mit der Abrechnung sei insgesamt alles in Ordnung (BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 – 2 StR 109/14, juris Rn. 21). Durch die Leistung auf einen tatsächlich nicht bestehenden Erstattungsanspruch entsteht der Krankenkasse – bei der anzulegenden streng formalen Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts (vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19, juris Rn. 47 ff.) – ein entsprechender Schaden.
2. Die Entscheidung, in welchem Umfang bei einer Durchsuchung Unterlagen mitgenommen werden können und eine inhaltliche Durchsicht potenzieller Beweismittel nach § 110 StPO notwendig ist, obliegt dem Ermessen der Staatsanwaltschaft. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Staatsanwaltschaft die Grenzen ihres Ermittlungsermessens überschritten hat (BGH, Beschluss vom 20. Mai 2021 – StB 21/21, juris Rn. 18). Das ist – von den beiden Fällen nachfolgend unter d) abgesehen – nicht der Fall.
a) Dass die Mitnahme zur Durchsicht derjenigen Aktenordner, die schon aufgrund ihrer Beschriftung Zeiträume betreffen, die im Durchsuchungsbeschluss genannt sind (Oktober 2016 bis Dezember 2018: Asservate gem. Nr. 1.2.1 bis 1.2.52, 1.2.117, 1.2.119, 1.2.120, 1.2.129, 1.2.130, 1.2.139 und 1.2.144 des Sicherstellungsverzeichnisses), nicht ermessensfehlerhaft ist, liegt für die Kammer auf der Hand. Die potenzielle Beweisrelevanz von Unterlagen aus 2016 – die inkriminierte Abrechungen sollten erst ab Januar 2017 beginnen – lässt sich mit kriminalistischer Erfahrung begründen, weil im zeitlichen Vorfeld mit Belegen für oder Hinweisen auf beabsichtigte Absprachen gerechnet werden kann.
Gleiches gilt für nicht in Aktenordner eingeordnete, aber aufgrund der Datierung auf den ersten Blick als beweisrelevant zu identifizierende Dokumente, die etwa in Tüten (Nr. 1.2.140 bis 1.2.142) oder Umschlägen (Nr. 1.2.148) gesammelt vorgefunden wurden.
b) Ermessensfehler vermag die Kammer auch nicht zu erkennen, soweit Datenträger mitgenommen wurden, bei denen nicht auf den ersten Blick erkennbar war, ob oder inwieweit darauf Daten gespeichert sind, die den im Durchsuchungsbeschluss genannten Zeitraum betreffen (Nr. 1.1.1 bis 1.1.4 und 2.1.1, 2.1.2). Dass diese Datenträger durchgesehen werden müssen, scheint für die Kammer offenkundig, denn anders als Aktenordner sind die Datenträger nicht schon durch ihre Beschriftung oder Kennzeichnung als brauchbare Beweismittel auszuschließen (vgl. auch Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 110 Rn. 2a). Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der vorläufigen Sicherstellung zum Zwecke der Durchsicht ist nicht entscheidend, ob die vorläufig sichergestellten Unterlagen und Dateien später tatsächlich beschlagnahmt werden können. Auch wenn es möglich ist, dass sich unter den durchzusehenden Unterlagen und Dateien auch beschlagnahmefreie Gegenstände befinden, ist die Durchsicht sowie die hierzu erforderliche vorläufige Sicherstellung nicht rechtswidrig (Hegmann in BeckOK-StPO, 42. Ed. 1.1.2022, § 110 Rn. 12 m.w.N.). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde hier dadurch gewahrt, dass – soweit technisch möglich – Datensicherungen vorgenommen wurden, statt die Computeranlage mitzunehmen. Im Übrigen ist die Durchsicht, im Gegensatz zu einer eingriffsintensiveren Beschlagnahme, schon Ausdruck der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, Beschluss vom 12. April 2005 – 2 BvR 1027/02, juris Rn. 118).
Die gleichen Erwägungen gelten auch für Aktenordner, die nicht eindeutig beschriftet waren aber neben oder bei evident sicherzustellenden Aktenordnern gelagert waren oder die aufgrund ihrer – im Übrigen unspezifischen – Beschriftung (z.B. „Rechnungen“) als möglicherweise beweisrelevant angesehen werden konnten (Nr. 1.2.118, 1.2.121 bis 1.2.125, 1.2.127). Gleiches gilt für weitere Dokumente, die in Umschlägen oder Tüten beim Beschuldigten gesammelt wurden (Nr. 1.2.136 bis 1.2.138, 1.2.146, 1.2.147 und 1.2.149). Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde hier dadurch entsprochen, dass die GenStA auf Anfrage des Beschuldigten ihm Teile der sichergestellten Unterlagen, die dieser für eigene Zwecke brauchte, in Ablichtungen zur Verfügung stellte.
c) Hinsichtlich der weiteren sichergestellten Unterlagen, die bereits augenscheinlich nicht den im Durchsuchungsbeschluss genannten Zeitraum betreffen (Nr. 1.2.53 bis 1.2.116, 1.2.128, 1.2.131 bis 1.2.135, 1.2.143), sondern danach liegende Zeiträume, ergibt sich die Befugnis zur vorläufigen Mitnahme aus § 108 Abs. 1 Satz 1 StPO.
aa) Der Durchsuchungsbeschluss rechtfertigt die Mitnahme zur Durchsicht nicht. Die – zeitlich, räumlich, situativ und rechtlich – eingrenzende Beschreibung der aufzuklärenden Straftat im Durchsuchungsbeschluss hat eine die Grundrechte des Betroffenen schützende Funktion. Sie macht Umfang und Reichweite des Grundrechtseingriffs deutlich und zeigt, worauf sich die Durchsuchung bezieht. Sie muss den mit der Vollziehung der Anordnung betrauten Beamten klarmachen, worauf sie ihr Augenmerk richten sollten, und damit den Zweck der Durchsuchungsanordnung erfüllen, den Zugriff auf Beweisgegenstände bei der Vollziehung der Durchsuchung zu begrenzen (BVerfG, Beschluss vom 11. Februar 2015 – 2 BvR 1694/14, juris Rn. 25; Beschluss vom 1. August 2014 – 2 BvR 200/14, juris Rn. 14; Beschluss vom 24. März 2003 – 2 BvR 180/03, juris Rn. 2; Beschluss vom 6. März 2002 – 2 BvR 1619/00, juris Rn. 16).
Unter diesem Blickwinkel ist der Durchsuchungsbeschluss eindeutig. Es wird dort eine zur Falschabrechnung führende Zusammenarbeit des Beschuldigten mit der X GmbH im Zeitraum bis 31. Dezember 2018 behauptet. Auf diesen Zeitraum – und nicht darüber hinaus – durfte sich die Durchsuchung erstrecken. Die Durchsicht von Unterlagen, die offenkundig spätere Zeiträume betreffen, war danach nicht zulässig. Das schließt allerdings nicht aus, dass man vor Ort stichprobenartig prüft, ob die mit bestimmten Daten beschrifteten Ordner auch tatsächlich so befüllt sind wie angegeben. Nachdem die GenStA hierzu nichts Gegenteiliges ausführt, geht die Kammer allerdings davon aus, dass das der Fall ist. Es wäre jedenfalls im gegebenen Fall ermessensfehlerhaft, weil nicht mehr verhältnismäßig, die Ordner zum Zwecke dieser Stichprobenkontrolle aus der Apotheke wegzuschaffen. Es waren sechs Polizeibeamte und eine Staatsanwältin vor Ort, die Durchsuchung dauerte sechseinhalb Stunden und unter dem Strich war die Menge der Unterlagen überschaubar. Einer Mitnahme bedurfte es danach insofern nicht (vgl. auch Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 110 Rn. 2).
bb) Die Mitnahme durfte aber erfolgen, weil es sich um sog. Zufallsfunde i.S.d. § 108 Abs. 1 Satz 1 StPO handelte, die einstweilen in Beschlag genommen werden konnten.
Noch während der Durchsuchung haben die Ermittlungspersonen – ohne dass sie für die Kammer erkennbar gezielt nach Zufallsfunden gesucht hätten – Hinweise darauf erhalten, dass andere als die im Durchsuchungsbeschluss bezeichneten Straftaten begangen worden sein könnten. Es handelt sich dabei um mutmaßliche Betrugstaten für den Zeitraum ab 1. Januar 2019 bis zum Durchsuchungstag. Die Rechnungslegung der Apotheke erfolgt gem. § 11 Abs. 1 AVV, § 7 AV-Bay monatlich bis spätestens einen Monat nach Ablauf des Kalendermonats, in dem die Lieferung erfolgte, an die von den Ersatzkassen benannten Stellen. Damit ist jede monatliche Abrechnung – wenn sie betrügerisch erfolgt und soweit sie nicht im Durchsuchungsbeschluss genannt ist – eine neue Straftat i.S.d. § 108 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Dazu hielt die sachbearbeitende Staatsanwältin im Vermerk vom 16. November 2021 fest, aufgrund der bei der Durchsuchung vor allem in M. gewonnenen Erkenntnisse habe die Zusammenarbeit des Beschuldigten mit der X GmbH offensichtlich bis zur Durchsuchung angedauert. Der Tatverdacht habe sich zeitlich erweitert. In einem weiteren Vermerk vom 26. November 2021 legte die Staatsanwältin dar, sie habe bei der Durchsuchung im Büro der Apotheke einen Kassenbeleg über die zehnmalige Abgabe des Medikaments A. gefunden und die Zeugin K vernommen. Aus deren Aussage ergebe sich, dass die Zusammenarbeit andauere. Die Kammer verkennt nicht, dass dieser Vermerk erst drei Tage nach dem Herausgabeverlangen des Verteidigers angefertigt worden ist. Seine Richtigkeit wird allerdings durch den Akteninhalt bestätigt. Ausweislich des Durchsuchungsberichts dauerte die Durchsuchung der Apotheke von 9.00 Uhr bis 15.30 Uhr. Um 9.00 Uhr war auch die Apothekenmitarbeiterin K vor Ort. Sie wurde, mit einer Pause, zwischen 9.45 Uhr und 11.15 Uhr von der Staatsanwältin und einem Polizeibeamten als Zeugin und vernommen. Aus der Verschriftlichung der Tonaufnahme der Vernehmung ergibt sich, dass die mutmaßlich inkriminierte Zusammenarbeit andauert. Danach gebe es ein Betreuungsprogramm mit der X GmbH, die einen Patientenstamm betreffe. Die GmbH betreue die Patienten, der Beschuldigte beliefere diese mit Medikamenten. Sie denke, dass es zwischen der GmbH und dem Beschuldigten eine Vereinbarung gebe, wisse es aber nicht.
d) Nach allem ist für die Asservate Nr. 1.2.126 und 1.2.145, die augenscheinlich die Jahre 2013 und 2015 betreffen, und die in keine der vorstehend abgehandelten Fallgruppen einzuordnen sind, ein Grund für die weitere Sichtung nicht gegeben. Eine solche wäre nach den eigenen Maßstäben der GenStA ermessensfehlerhaft. Diese Unterlagen sind somit herauszugeben.
3. Der Bestätigungsbeschluss des Amtsgerichts, soweit er die unter 2. c) genannten Zufallsfunde betrifft, war auch nicht deshalb aufzuheben, weil der Ermittlungsrichter für die Entscheidung insoweit nicht zuständig gewesen wäre.
a) Über die Bestätigung der vorläufigen Mitnahme (oder in der Terminologie des § 108 Abs. 1 Satz 1 StPO: des einstweiligen Beschlags) der Zufallsfunde durch die GenStA hat der bislang zuständige Richter innerhalb des bislang geführten Verfahrens entschieden. Nach Auffassung der Kammer zu Recht.
Das wird allerdings von der überwiegenden Literatur für den der angegriffenen Bestätigung gegenläufigen Akt anders gesehen. Für die Aufhebung der vorläufigen Beschlagnahme soll danach der Richter zuständig sein, der für das wegen der Zufallsfunde neu einzuleitende Ermittlungsverfahren zuständig ist (Bruns in KK-StPO, 8. Aufl., § 108 Rn. 9; Hauschild in MünchKomm-StPO, 1. Aufl., § 108 Rn. 16; Hegmann in BeckOK-StPO, 42. Ed. 1.1.2022, § 108 Rn. 13; Hadamitzky in KMR-StPO, 94. Lfg., § 108 Rn. 14; dies. in SSW-StPO, 4. Aufl., 4. Aufl., § 108 Rn. 14). Dieser Auffassung folgt die Kammer allerdings nicht, weil sie den Rechtsschutz des Betroffenen unzumutbar erschwert. Ein Antrag auf richterliche Entscheidung analog § 98 Abs. 2 StPO wäre danach nämlich erst dann möglich, wenn die Staatsanwaltschaft ein neues Verfahren für die Zufallsfunde eingeleitet hat, was sie aber nicht umgehend, sondern in angemessener Frist tun muss (BGH, Beschluss vom 11. Mai 1979 – StB 26/79, juris Rn. 6) – hier beispielsweise hat die GenStA insoweit noch kein neues Verfahren eingeleitet. Bis dahin stünde der Betroffene schutzlos. Ebenso muss die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit haben, die Rechtmäßigkeit einer vorläufigen Mitnahme bestätigen zu lassen, auch wenn sie noch nicht weiß, ob sie ein neues Ermittlungsverfahren einleiten will. Deshalb muss der im bisherigen Ermittlungsverfahren zuständige Richter die Möglichkeit haben, die Sache zu prüfen und vorläufig zu regeln (im Ergebnis wie hier Tsambikakis in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 108 Rn. 21). Das beinhaltet die Befugnis zur Freigabe und zur Bestätigung. Nicht weiterführend ist jedenfalls die Auffassung von Wohlers/Jäger (in SK-StPO, 5. Aufl., § 108 Rn. 16), wonach die Zuständigkeit beim Richter der neuen Sache liegt, es sei denn, es ist nicht binnen angemessener Zeit ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Denn die richterliche Zuständigkeit kann nicht von einem so dehnbaren Begriff wie „angemessene Zeit“ abhängig gemacht werden. Im Übrigen ist, solange das neue Verfahren noch nicht eingeleitet worden ist, unklar, wer der Richter des neuen Verfahrens werden wird. Denn es ist möglich (und in der Praxis nicht selten), dass die bisher befasste Staatsanwaltschaft das neue Verfahren nicht selbst führt, sondern die Sache an eine andere Behörde abgibt, mit Folgen für die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters (vgl. § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Die Zuständigkeit des bisherigen Richters für die vorläufige Bestätigung der Mitnahme besteht daher, bis ein neues Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist.
Dieser Auffassung der Kammer steht nicht entgegen, dass die (endgültige) Beschlagnahme im Fall des § 108 StPO durch den Richter der neuen Sache herbeigeführt werden muss (BGH, Beschluss vom 4. August 1964 – 3 StB 12/63, juris Rn. 34; Beschluss vom 14. März 1979 – StB 6/79, juris Rn. 3; OLG Celle, Beschluss vom 15. Januar 1974 – 3 Ws 355/73, NJW 1974, 805, 806). Das ist folgerichtig, weil der Beschlagnahme die Bewertung des Asservats als Beweismaterial in einem Ermittlungsverfahren und damit die Einleitung des neuen Verfahrens vorausgehen muss. Hier geht es jedoch allein um die Regelung eines vorläufigen Zustandes bei noch ausstehender Bewertung. Aus diesem Grund teilt die Kammer auch nicht die Meinung von Köhler (in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 108 Rn. 7; ebenso Cordes/Pannenborg, NJW 2019, 2973, 2976), wonach die Bestätigung des Ermittlungsrichters im Ausgangsverfahren für die Zufallsfunde „wertlos“ sei. In der von ihm zitierten Fundstelle BGHSt 19, 374, 376 stellt der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 4. August 1964 – 3 StB 12/63, juris Rn. 33) lediglich fest, dass die Bestätigung der einstweiligen Beschlagnahme durch den Ermittlungsrichter des Ausgangsverfahrens „einstweilig“ geblieben ist. Um mehr geht es bei der Bestätigung der Mitnahme aber auch nicht. Eine endgültige Beschlagnahme steht hier nicht in Streit.
b) Aber selbst wenn man der hier abgelehnten Auffassung folgen und die angegriffene richterliche Bestätigung als ein rechtliches Nullum ansehen wollte, hätte dies – derzeit – keine praktischen Folgen. Denn die fehlende Wirksamkeit oder die (dann nur deklaratorische) Aufhebung der amtsrichterlichen Bestätigung wegen Unzuständigkeit würde den Umstand nicht beseitigen, dass nach Wertung der Kammer die angemessene Frist (dazu Cordes/Pannenborg, NJW 2019, 2973, 2976), die der GenStA für die Einleitung eines neuen Verfahrens für die Zufallsfunde zuzugestehen ist, noch nicht abgelaufen wäre. Daher könnte sie den vorläufigen Beschlag aus eigenem Recht noch aufrechterhalten. Erst nach dem Fristablauf ohne Verfahrenseinleitung würden die Asservate freizugeben sein (Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 108 Rn. 7 m.w.N.).
4. Soweit die Beschwerde insgesamt die Verhältnismäßigkeit der Mitnahme zur Durchsicht infrage stellt, teilt die Kammer die Auffassung nicht. Die Ermittlungsbehörden haben, wie oben bereits ausgeführt, einige Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen der Mitnahme einzugrenzen. Auch beziehen sich die mitgenommenen Ordner auf bereits abgeschlossene, d.h. zugunsten des Beschuldigten abgerechnete Geschäftsvorfälle, sodass sich insoweit keine erheblichen Erschwernisse für den laufenden Apothekenbetrieb ergeben dürften. Insgesamt sind die durchgeführten Maßnahmen auch ins Verhältnis zum Tatvorwurf zu setzen: Es geht vorliegend nicht um „peanuts“, sondern um einen möglichen Betrugsschaden von über sieben Millionen Euro. Vor diesem Hintergrund sind die ergriffenen Maßnahmen nicht überzogen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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