Strafrecht

Nichtannahmebeschluss: Mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässige gesetzesunmittelbare Verfassungsbeschwerde – zur Auslagenerstattung nach § 34a Abs 3 BVerfGG bei Erledigung einer Verfassungsbeschwerde wegen zwischenzeitlicher Aufhebung der angegriffenen Norm

Aktenzeichen  1 BvR 661/06

Datum:
4.11.2010
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20101104.1bvr066106
Normen:
§ 34a Abs 3 BVerfGG
§ 90 BVerfGG
Art 34a Abs 1 S 1 Nr 2 PolAufgG BY vom 14.09.1990
Art 34a Abs 1 S 1 Nr 3 PolAufgG BY vom 14.09.1990
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Gründe

1
1. Die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (im
Folgenden: PAG) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes und des Parlamentarischen Kontrollgremium-Gesetzes
vom 24. Dezember 2005 (GVBl S. 641) richtet und sich durch die Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG durch § 1 Nr.
6 Buchstabe a des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes, des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes und des Bayerischen
Datenschutzgesetzes vom 27. Juli 2009 (GVBl S. 380) erledigt hat, ist nicht zur Entscheidung anzunehmen.

2
Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche Bedeutung zu
noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist
unzulässig, weil ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen
nach Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG nicht mehr besteht. Dies gilt auch in Bezug auf Art. 34a Abs. 1 Satz 1
Nr. 3 PAG, der nur insoweit Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, als er an Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG anknüpfte.

3
Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsakts oder wenigstens für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit ein Rechtsschutzbedürfnis
besteht (vgl. BVerfGE 50, 244 ; stRspr). Ist wie hier das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren
erledigt, so besteht ein Rechtsschutzbedürfnis dann, wenn andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher
Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt; ferner besteht das Rechtsschutzbedürfnis
fort, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den
Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 50, 244 ; 91, 125 ; 99, 129 ; 119, 309 ; BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 1. März 2010 – 1 BvR 2380/09 -, juris, Rn. 3; stRspr). Nach diesen Maßstäben
besteht das für eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen
erforderliche Rechtsschutzbedürfnis nicht mehr.

4
Abgesehen davon, dass für nicht mehr geltendes Recht in der Regel schon kein über den Einzelfall hinausgreifendes Interesse
besteht, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außerkrafttreten zu klären, und sich deshalb Fragen von grundsätzlicher
verfassungsrechtlicher Bedeutung insoweit regelmäßig nicht stellen (vgl. BVerfGE 91, 186 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer
des Ersten Senats vom 1. März 2010 – 1 BvR 2380/09 -, juris, Rn. 6), ist nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführer durch
die angegriffenen Regelungen einem besonders schwer wiegenden Grundrechtseingriff ausgesetzt gewesen wären.

5
Zwar stellen die durch diese Regelungen ermöglichten Datenerhebungen durch Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation
grundsätzlich schwer wiegende Grundrechtseingriffe dar (vgl. BVerfGE 113, 348 ). Die Beschwerdeführer legen aber weder
dar, solchen Maßnahmen in der Zeit bis zur Aufhebung von Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG ausgesetzt gewesen zu sein, noch
ist dies sonst ersichtlich. Dass im Hinblick auf die in der aufgehobenen Regelung liegende Rechtsgrundlage für Telekommunikationsüberwachungen
einzelne Telefongespräche unterblieben sind, wie die Beschwerdeführer geltend machen, ist Ausdruck eines im Vergleich zu solchen
Maßnahmen weit weniger schwer wiegenden Eingriffs.

6
Schließlich bestehen Anhaltspunkte für eine fortbestehende Beeinträchtigung der Grundrechte der Beschwerdeführer ebenso wenig
wie für eine Wiederholungsgefahr.

7
2. Trotz der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung entspricht es allerdings der Billigkeit, die Erstattung
der Auslagen der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach § 34a Abs. 3 BVerfGG anzuordnen.

8
Für die Entscheidung nach § 34a Abs. 3 BVerfGG kommt dem Grund, der zur Erledigung der Verfassungsbeschwerde geführt hat,
wesentliche Bedeutung zu. Beseitigt die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Hoheitsakt,
so kann, falls keine anderweitigen Gründe ersichtlich sind, davon ausgegangen werden, dass sie das Begehren des Beschwerdeführers
selbst für berechtigt erachtet hat (vgl. BVerfGE 85, 109 ; 91, 146 ). In einem solchen Fall ist es billig, die
öffentliche Hand ohne weitere Prüfung an ihrer Auffassung festzuhalten und dem Beschwerdeführer die Erstattung seiner Auslagen
in gleicher Weise zuzubilligen, wie wenn seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre (vgl. BVerfGE 85, 109 <114
f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. März 2004 – 1 BvR 1778/01 -, juris, Rn. 5).

9
Nach diesen Grundsätzen entspricht es der Billigkeit, die Erstattung der Auslagen der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren
anzuordnen. Denn wie sich aus der Begründung des § 1 Nr. 6 Buchstabe a des Gesetzes zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes,
des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes und des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 27. Juli 2009 (GVBl S. 380) ergibt,
mit dem Art. 34a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PAG aufgehoben worden ist, bestanden im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung. Diese hat der Gesetzgeber zum Anlass genommen, die Vorschrift vorsorglich
zu streichen (vgl. LTDrucks 16/1271, S. 7). Damit hat er das Begehren der Beschwerdeführer als wahrscheinlich berechtigt erachtet.
Dies rechtfertigt es, die Auslagenerstattung in gleicher Weise anzuordnen, wie wenn den Verfassungsbeschwerden stattgegeben
worden wäre.

10
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

11
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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