Strafrecht

Rechtmäßige Ausweisungsverfügung gegen einen mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getretenen assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 24 K 16.2383

Datum:
16.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 142860
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
§ 11 AufenthG
§ 53 AufenthG
§ 54 AufenthG
§ 55 AufenthG

 

Leitsatz

1 Bei der ausländerrechtlichen Prognose, ob eine Wiederholung von Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters einschließlch seiner Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (wie BayVGH BeckRS 2012, 59963). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 44267). (Rn. 42) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Ein Bericht über eine Entzugstherapie, der keine abschließende Feststellung über deren erfolgreichen Abschluss und keine Prognose über das vom Betroffenen in Freiheit zu erwartende Verhalten enthält, reicht bei weitem nicht aus, um im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung die Prognose zu rechtfertigen, dass der betroffene Ausländer auch außerhalb der Therapie infolge einer Heilung von seiner Polytoxikomanie in Zukunft die Rechtsgüter anderer Personen, insbesondere deren körperliche Unversehrtheit, nicht mehr verletzen wird. (Rn. 44) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache erfolglos.
1. Das Gericht kann aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. März 2017 entscheiden, obwohl seitens der Klagepartei niemand erschienen ist. Denn in dem gerichtlichen Ladungsschreiben vom 23. November 2016 für den 16. März 2017 (der Klagepartei gegen Empfangsbekenntnis vom 25. November 2016 zugestellt) hat das Gericht ausdrücklich nochmals Bezug genommen auf den Hinweis, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten, auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO), der im früheren Ladungsanschreiben vom 15. November 2016 (betreffend den ursprünglich auf den 16.2.2017 festgesetzten und mit Schreiben vom 23.11.2016 verlegten Termin), wobei das frühere Ladungsanschreiben vom 15. November 2016 der Klagepartei gegen Empfangsbekenntnis vom 17.11.2016 zugestellt worden ist.
Das für die gerichtliche Entscheidung verbindliche Klagebegehren des Kl. ist dahin auszulegen (§ 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO), dass die Klage im Hauptantrag auf Aufhebung des sgB gerichtet ist und dass hilfsweise begehrt wird, die Bekl. zu verpflichten, die im sgB vorgesehene Befristung des gesetzlichen Einreise-und Aufenthaltsverbot kürzer zu bemessen.
Für den so ausgelegten Klagegegenstand ist das Verwaltungsgericht (VG) München insbesondere örtlich zuständig, weil der streitgegenständliche Bescheid im Gerichtsbezirk ergangen ist (§ 52 Nr. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
2. Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden.
3. Die Klage ist hinsichtlich des Hauptantrags unbegründet – der sgB ist im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45/06 – Rn. 12 ff., BVerwGE 130, 20) rechtmäßig und verletzt den Kl. nicht seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
3.1. Der Bescheid findet seine Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), wobei auf den Kl. als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen (zwischen den Beteiligten unstreitig) auch § 53 Abs. 3 AufenthG anzuwenden ist, weswegen der Kl. nur unter den dort genannten Voraussetzungen ausgewiesen werden kann. Dem insoweit zutreffenden sgB (dort S. 6, unter Nr. 2.1 bis S. 7, dritter Absatz sowie S. 10, letzte Zeile bis S. 12, zweite Zeile) folgt das Gericht und sieht diesbezüglich gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
3.2. Die für eine Ausweisung des assoziationsberechtigten Kl. gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG unverzichtbare „gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“, liegt im Fall des Kl. vor.
3.2.1. Dabei haben nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 -juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (st. Rspr.; BayVGH, B.v. 03.03.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn 11; B.v. 16.03.2016 – 10 ZB 15.2109 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
3.2.2. Der Kl. hat seit der dem Urteil des AG München vom … Juni 2004 zugrunde liegenden Tat kontinuierlich Straftaten begangen, die sowohl gegen Vermögenswerte als auch gegen die körperliche Unversehrtheit anderer Personen gerichtet waren und eine Prognose der fortbestehenden Gefährlichkeit des Kl. rechtfertigen. Dem insoweit zutreffenden sgB (dort S. 8, erste Zeile bis S. 10, dritter Absatz) folgt das Gericht und sieht diesbezüglich gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
Auch unter Berücksichtigung der seit dem Erlass des sgB erfolgten Entwicklung des Sachverhalts ergibt sich vor diesem Hintergrund eine vom Kl. ausgehende gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit, und zwar insbesondere im Hinblick auf die körperliche Unversehrtheit möglicher Opfer. Entgegen den Ausführungen der Klagepartei im Schriftsatz vom … März 2017 ändert der Bericht des …-Klinikums vom 22. Februar 2017 hieran nichts. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Bericht unter anderem ausführt, dass der Kl. am 31. August 2016 einem Mitpatienten zweimal mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat. Unabhängig davon enthält der Bericht auch keine abschließende Feststellung über den erfolgreichen Abschluss der Entzugstherapie und keine Prognose über das vom Kl. in Freiheit (nach Abschluss der Therapie) zu erwartende Verhalten, sondern berichtet nur von jüngsten Lockerungen „innerhalb“ dieser Entzugstherapie. Das reicht aber bei weitem nicht aus, um im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eine Prognose zu rechtfertigen, dass der Kl. auch außerhalb der Therapie infolge einer Heilung von seiner (unverändert diagnostizierten) Polytoxikomanie in Zukunft (abweichend von dem aus seinen strafrechtlichen geahndeten Verhaltensweise ersichtlichen Muster) die Rechtsgüter anderer Personen, insbesondere deren körperliche Unversehrtheit, nicht mehr verletzen wird. Dabei ist zu sehen, dass die diversen, vom Kl. verübten Verstöße gegen Strafvorschriften, nur teilweise direkt Drogendelikte betrafen, sondern insbesondere bei der Verurteilung durch das AG München vom … Juni 2004, durch das AG München vom 1.2008 und durch das LG München I vom … September 2015 auch die körperliche Unversehrtheit der damaligen Opfer. Der von der Klagepartei betonte Umstand, dass beim Kl. während des Aufenthalts im Klinikum keinerlei Alkohol- oder Drogenmissbrauch festgestellt werden konnte und auch seit Beginn der Inhaftierung am 8. März 2014 keine weiteren drogenbedingten Erscheinungen mehr zeigte und nicht wegen Drogenkonsums auffällig wurde, reicht deshalb nicht hin, um die aus den bereits vom Kl. verübten Straftaten ableitbare Gefährlichkeit für die körperliche Unversehrtheit zu relativieren. Dabei ist zu sehen, dass die von der Klagepartei beschriebene Entwicklung sich bislang nur „innerhalb“ der Therapie nicht aber in Freiheit ohne permanente Kontrolle ergeben hat. Unabhängig davon sprechen aber auch „innerhalb“ der Therapie die im letzten Bericht des Klinikums geschilderten Faustschläge des Kl. ins Gesicht eines Mitpatienten dagegen, von einer hinreichenden Relativierung der durch die Straftaten des Kl. indizierten Gefährlichkeit auszugehen.
Im Ergebnis ist die Ausweisung des Kl. unerlässlich, weil vom Kl. eine gegenwärtige Gefahr auch für die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen ausgeht, deren Schutz einen wesentlichen Aspekt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausmacht, so dass diese Gefahr ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
3.2. Das Gericht verkennt nicht, dass das Bleibeinteresse des Kl. besonders schwer wiegt, und zwar schon aufgrund § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
3.3. Dabei wiegt aber auch das Ausweisungsinteresse im Fall des Kl. besonders schwer (§ 54 Nr. 1 AufenthG).
3.4. Die gemäß § 53 AufenthG gebotene Abwägung des Bleibeinteresses des Kl. einerseits und des Ausweisungsinteresses andererseits fällt angesichts der (trotz der zwischenzeitlichen Entwicklung der Therapie) fortbestehenden erheblichen Gefährlichkeit des Kl. für höchstrangige Rechtgüter anderer Menschen zugunsten des Ausweisungsinteresses aus, und zwar auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der im Bundesgebiet geborene Kl. ein Ausländer zweiter Generation und im Bundesgebiet verwurzelt ist. Dem insoweit zutreffenden sgB (dort S. 12, viertletzter Absatz bis S. 16, zweiter Absatz) folgt das Gericht und sieht diesbezüglich gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
4. Die Klage ist hinsichtlich des Hilfsantrags in dem auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung unbegründet – der Kl. hat keinen Anspruch auf eine weitergehende Verkürzung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots; die im sgB vorgesehene Befristungsregelung erweist sich als rechtmäßig, weshalb der Kl. auch keinen darüber hinausgehenden Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hat (§ 113 Abs. 5 VwGO).
4.1. Die Befristungsentscheidung des § 11 Abs. 3 AufenthG liegt im Verwaltungsermessen, das vom Gericht nur eingeschränkt überprüfbar ist (§ 114 VwGO), wobei vorliegend weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass Umstände vorliegen, die dieses Ermessen auf Null reduzieren könnten.
4.2. Der Kl. hat deshalb gegen die Bekl. von vornherein nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, dem die Bekl. aber mit der Befristungsentscheidung des sgB genügt hat – Ermessensfehler (§ 114 VwGO) sind nicht ersichtlich.
Die von der Klagepartei im Zusammenhang mit der Frage der Sperrfristverkürzung im gerichtlichen Verfahren betonten persönlichen Bindungen des Kl. im Bundesgebiet hat der sgB (dort S. 16, letzter Absatz) durchaus erkannt und ohne Ermessensfehler ins Verhältnis zum öffentlichen Interesse an der Abwehr der vom Kl. ausgehenden Gefahr gesetzt. Das Gericht folgt dem insoweit nicht zu beanstandenden sgB (dort S. 16, viertletzter Absatz – S. 17, siebter Absatz) und sieht diesbezüglich gemäß § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe:
ab. 5. Auch im Übrigen erweist sich der sgB als rechtmäßig, insbesondere ist jedenfalls nach der in der mündlichen Verhandlung erfolgten Klarstellung der Bekl., dass der Kl. das Bundesgebiet erst nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen hat, auch die Regelung in Nr. 3 des sgB nicht zu beanstanden, wobei sich auch die Gebührenregelungen in Nr. 4 des sgB als rechtmäßig erweist.
6. Die Kosten des Verfahrens hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO der vollständig unterlegene Kläger zu tragen.
7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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