Strafrecht

(Sozialgerichtliches Verfahren – Rechtsweg – Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung iS von § 51 Abs 2 SGG – Apotheke – Vergütungskürzung durch Krankenversicherungsträger – Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen ein Pharmaunternehmen – Pflichtverletzung (hier: Rücksichtnahmepflicht) mit Ursprung in Regelungen des SGB 5 – Eröffnung des Sozialrechtswegs)

Aktenzeichen  L 6 KR 51/21 B

Datum:
10.1.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 6. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:LSGST:2022:0110.L6KR51.21B.00
Normen:
§ 51 Abs 2 SGG
§ 172 Abs 1 SGG
§ 202 S 1 SGG
§ 17a Abs 4 S 3 GVG
§ 129 Abs 2 SGB 5
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Spruchkörper:
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Leitsatz

1. Wird einer Apothekerin durch die Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung die Vergütung gekürzt, kommt für einen Schadensersatzanspruch gegen ein Pharmaunternehmen der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit zumindest nach § 51 Abs 2 SGG in Betracht. (Rn.14)


2. Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ist gegeben, wenn die Klägerin die Verletzung von Rücksichtnahmepflichten geltend macht, die innerhalb eines Geflechts von Verträgen beider Beteiligter mit der Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V bestehen sollen. (Rn.16)


3. Stützt sich die Klägerin dabei auf unspezifische Anspruchsgrundlagen des bürgerlichen Rechts, ist dies für die Zuordnung des Rechtsweges unmaßgeblich, wenn es letztlich um eine Verletzung von Pflichten gehen soll, die in den Regelungen des SGB V wurzeln. (Rn.15)

Verfahrensgang

vorgehend SG Magdeburg 15. Kammer, 1. April 2021, S 15 KR 5/21, Beschluss

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 1. April 2021 wird aufgehoben.
Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit ist zulässig.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Beschwerdegegnerin.
Die weitere Beschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Beschwerdeführerin macht im Hauptsacheverfahren gegen die Beschwerdegegnerin einen Schadensersatzanspruch geltend, der sich nach ihrer Auffassung aus dem Unterbleiben einer Lieferausfallbescheinigung ergibt. Zwischen der AOK Sachsen-Anhalt und der Beschwerdegegnerin bestand im maßgeblichen Zeitraum ein Arzneimittelrabattvertrag nach § 130a Abs. 8 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) in Bezug auf ein bestimmtes Arzneimittel. Dieses konnten von der Beschwerdeführerin betriebene Apotheken nach ihrem Vortrag im Zeitraum Mai/Juni 2019 an mehrere Versicherte der AOK Sachsen-Anhalt nicht abgeben, weil sie es weder von der Beschwerdegegnerin noch vom Großhandel erhalten konnten. Die Abrechnung wirkstoffgleicher Präparate anderer Hersteller beanstandete die AOK Sachsen-Anhalt unter Rückforderung der Vergütungen, weil ihr eine Lieferunfähigkeit nicht gemeldet worden war. Eine entsprechende Bescheinigung stellte die Beschwerdegegnerin auch nachträglich nicht aus. Die Grundlage für die Bindung der Beschwerdeführerin gegenüber der AOK Sachsen-Anhalt stellt ein Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V dar. Nach einer Vergleichsregelung mit der AOK Sachsen-Anhalt über einen Teil der Vergütung macht die Beschwerdeführerin die ihr entgangene Vergütung mit der Begründung geltend, die Beschwerdegegnerin habe eine Nichtlieferbarkeitsbescheinigung ausstellen müssen, mit der die Beschwerdeführerin sich gegenüber der AOK Sachsen-Anhalt habe entpflichten können.
Die Beschwerdeführerin machte gegenüber der Beschwerdegegnerin vorgerichtlich geltend, es bestehe ein Schadenersatzanspruch nach § 280 Abs. 1, § 282, § 241 Abs. 2,  § 311 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 BGB. Sie sei zur Abgabe von Medikamenten als Gegenstand von Rabattverträgen verpflichtet, soweit nicht Unvermögen durch Lieferausfall besteht. Damit unterliege sie einem Kontrahierungszwang bezüglich solcher Medikamente, der Rücksichtspflichten im Sinne von § 311 BGB begründe. Eine solche Nebenpflicht habe die Beschwerdegegnerin durch die verweigerte Bescheinigung über die fehlende Lieferbarkeit verletzt. Die Beschwerdegegnerin erwiderte, sie sei lediglich eingeschränkt leistungsfähig in dem Sinne gewesen, dass sie nicht die gesamte Nachfrage nach dem Medikament an allen Tagen habe befriedigen können.
Mit der am 8. Januar 2021 beim Sozialgericht Magdeburg erhobenen Klage hat die Beschwerdeführerin ergänzend geltend gemacht, die Rabattverträge seien Verträge mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter. Diese seien die Apotheken, die für beide Vertragsparteien erkennbar in die Leistungsnähe kämen und an deren Schutz ein Interesse bestehe. Sie seien Pflichtverletzungen ebenso ausgesetzt wie der Gläubiger selbst.
Das Sozialgericht hat die Beteiligten auf Bedenken gegen den Rechtsweg der Sozialgerichtsbarkeit hingewiesen und seine Absicht zur Verweisung an das Amtsgericht Leverkusen angekündigt. Die Beschwerdeführerin bestreitet den Erhalt dieses Schreibens.
Mit Beschluss vom 1. April 2021 hat das Sozialgericht sich für örtlich und sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Leverkusen verwiesen. Es gehe um eine Schadensersatzklage aus dem Zivilrecht. Eine Anspruchsgrundlage im Sozialrecht gebe es dafür nicht. Im SGB X enthaltene Anspruchsgrundlagen passten auf diesen Fall nicht. Gem. § 23 GVG seien die Amtsgerichte zuständig; örtlich nach § 17 ZPO das Amtsgericht Leverkusen am Sitz der Beklagten.
Gegen den Beschluss hat die Beschwerdeführerin am 12. April 2021 sofortige Beschwerde eingelegt und ausgeführt, das Sozialgericht habe sich zu Unrecht auf § 98 S. 2 SGG als Rechtsgrundlage bezogen. Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit wäre nach § 51 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1 SGG auch dann eröffnet, wenn es keine sozialversicherungsrechtliche Anspruchsgrundlage geben sollte. Sowohl sie als auch die Beschwerdegegnerin seien als Leistungserbringerinnen der gesetzlichen Krankenversicherung tätig geworden. Sie mache als Beschwerdeführerin vorrangig einen in dem sozialrechtlichen Vertrag nach § 130a Abs. 8 SGB V wurzelnden Anspruch geltend. Auf die unmittelbare Anspruchsgrundlage komme es dabei nicht an (Hinweis auf BGH, Urt. v. 23.2. 1988 – VI ZR 212/87, OLG Köln – 7 U 20/14, Bayerisches Landessozialgericht –  L 1 SV 4/21 B).
Die Beschwerdeführerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 1. April 2021 aufzuheben und den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für zulässig zu erklären.
Die Beschwerdegegnerin beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie verweist darauf, die nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG maßgebliche öffentlich-rechtliche Streitigkeit habe zwischen der Beschwerdeführerin und der AOK Sachsen-Anhalt bestanden und sei durch den Vergleich beendet worden. Bei den ihr gegenüber geltend gemachten Ansprüchen handele es sich um zivilrechtliche Schadensersatzansprüche.
Bei der Entscheidung hat die Gerichtsakte vorgelegen.
II.
Die Beschwerde ist gem. § 202 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil diese Vorschrift auf § 17a Abs. 4 S. 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) verweist. An die Stelle der im SGG nicht vorgesehenen sofortigen Beschwerde tritt nach § 17a Abs. 4 S. 3 GVG die Beschwerde nach § 172 Abs. 1 SGG, die die Beschwerdeführerin fristgerecht erhoben hat.
Die Beschwerde ist auch begründet, weil es sich um eine Streitigkeit in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne von § 51 Abs. 2 SGG handelt. Dazu können auch Streitigkeiten über Rechtsbeziehungen der Leistungserbringer untereinander gehören (BSG, Urt. v. 15.3.17 – B 6 KA 35/16 R – juris, Rn. 19). Eine nähere Abgrenzung der betroffenen privatrechtlichen Streitigkeit zu den nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG demselben Rechtsweg zugewiesenen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten ist dabei entbehrlich.
Eine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung wird nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die geltend gemachten Anspruchsgrundlagen dem allgemeinen bürgerlichen Recht entstammen (z. B. für den Fall des § 826 BGB BSG, Urt. v. 30.9.15 – B 3 KR 22/15 B – juris, Rn. 17). Die Beschwerdeführerin stützt ihren Anspruch ungeachtet ihrer teilweisen Benennung von Anspruchsgrundlagen aus dem bürgerlichen Vertragsrecht jedenfalls nicht vorrangig auf vertragliche Beziehungen zwischen ihr und der Beschwerdegegnerin. Denn für ihre Anspruchsbegründung kommt es auf einen Vertrag mit der Beschwerdegegnerin gerade nicht an. Maßgeblich für einen entsprechenden Liefervertrag wäre danach nämlich allein die sofortige Lieferbarkeit, ggf. auch durch einen Großhändler. Nur durch eine entsprechend gestreute Nachfrage kann sie im Übrigen auch die fehlende Lieferbarkeit feststellen, die nach ihrem Vortrag eine Grundlage des Rechtsstreits ist.
In jeder anderen Hinsicht kommt es für die Bestimmung des Rechtsweges darauf an, dass Schadensersatzansprüche wegen Verletzung besonderer Verpflichtungen der Rechtsnatur des zu Grunde liegenden Rechtsverhältnisses folgen (BSG, a.a.O., Rn. 23). Insoweit beruft sich die Beschwerdeführerin für ihre Rechtsverfolgung entscheidend auf eine Rücksichtnahmepflicht, die sie aus der Stellung der Beteiligten jeweils als Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung ableitet. Sie soll nach ihrer Auffassung aus der besonderen Verzahnung der Rechte und Pflichten entstehen, die sich aus der jeweiligen Behandlung von Arzneirabatten in Verträgen der Beteiligten mit der AOK Sachsen-Anhalt als Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung ergibt. Diese sind für beide Beteiligten krankenversicherungsrechtlich vorgeordnet, für die Beschwerdeführerin als Apothekerin in § 129 SGB V und für die Beschwerdegegnerin als pharmazeutisches Unternehmen in § 130a SGB V. In der Zusammenschau ergeben die Regelungen eine spezifische Auswirkung auf die Geschäftstätigkeit der Beschwerdeführerin, die im allgemeinen bürgerlichen Vertragsrecht so nicht denkbar ist. Denn einerseits wird der Beschwerdegegnerin danach von der AOK Sachsen-Anhalt eine Monopolstellung für bestimmte Fälle ärztlicher Verordnungen eingeräumt. Andererseits ist die Beschwerdeführerin verpflichtet, das benannte Medikament auszuliefern, ohne eigenen Einfluss auf die Auswahl nehmen zu können. Gleichwohl muss sie im Verhältnis zur Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung in Eilfällen unverzüglich ein wirkstoffgleiches Medikament ausgeben. Will sie insoweit eigenen Schaden durch eine verminderte Vergütung vermeiden, muss sie den Lieferausfall eines Präparates mit Rabattpreis beweisen, ohne umgekehrt Zugang zur Leistungsorganisation der Beschwerdegegnerin zu haben. Umgekehrt benötigt die Beschwerdegegnerin Apotheken – wie diejenigen der Beschwerdeführerin – zur Umsetzung des sie begünstigenden Rabattvertrages.
Ob sich aus dieser spezifisch krankenversicherungsrechtlichen Struktur der Leistungsbeziehungen Nebenpflichten der Beschwerdegegnerin gegenüber der Beschwerdeführerin ergeben, ist allein nach den Abhängigkeitsverhältnissen zu entscheiden, die deren notwendige Rechtsfolge sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Gründe für die Zulassung der weiteren Beschwerde nach § 17a Abs. 4 S. 4 GVG liegen nicht vor, weil die aufgeworfenen Fragen allgemein geklärt sind und die Anwendung auf den konkreten Fall keine allgemeine Bedeutung hat.


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