Strafrecht

Stattgebender Kammerbeschluss: Wohnungsdurchsuchung verletzt bei unzureichendem Tatverdacht Art 13 Abs 1, Abs 2 GG – hier: Bestellung von Zeitungen auf Namen eines Verstorbenen

Aktenzeichen  2 BvR 376/11

Datum:
24.1.2013
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
Normen:
Art 13 Abs 1 GG
Art 13 Abs 2 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 102 StPO
Spruchkörper:
2. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend LG München I, 10. Januar 2011, Az: 2 Qs 60/10, Beschlussvorgehend AG München, 10. Juni 2010, Az: I Gs 5079/10, Beschluss

Tenor

Der Beschluss des Amtsgerichts München vom 10. Juni 2010 – I Gs 5079/10 – und der Beschluss des Landgerichts München I vom 10. Januar 2011 – 2 Qs 60/10 – verletzen den Beschwerdeführer zu 1. in seinem Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Landgerichts München I wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht München I zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

A.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafprozessuale Durchsuchungsanordnung wegen des Verdachts des Betrugs
und Computerbetrugs.

I.
2
1. Der Beschwerdeführer zu 1. besitzt in einem von den Beschwerdeführern zu 2. und 3., seinen Eltern, als Wochenendhaus genutzten
Anwesen eine Wohnung. Am 20. März 2010 verstarb ein Nachbar der Beschwerdeführer. Dieser war im Telefonbuch eingetragen. Am
22. März 2010 erschien eine Todesanzeige in zwei lokalen Zeitungen. Am selben Tag zwischen 18:03 Uhr und 18:28 Uhr wurden
unter dem Namen des verstorbenen Nachbarn der Beschwerdeführer verschiedene Zeitungs- und Zeitschriftenabonnements im Wert
von rund 170 € abgeschlossen. Die Druckerzeugnisse erreichten den Haushalt des Verstorbenen in den folgenden Wochen nur in
wenigen Fällen. Am 23. März 2010 wurden ebenfalls unter dem Namen des Verstorbenen verschiedene Abbuchungen im Gesamtwert
von 135,54 € von einem Konto einer Stiftung, deren Kontodaten im Internet einsichtig waren, vorgenommen.

3
2. Die Staatsanwaltschaft beantragte den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses sowie die Sicherstellung des Computers des
Beschwerdeführers zu 1. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Täter umfangreiches Detailwissen über den Verstorbenen gehabt
haben müsse, da bei der Bestellung und den Abbuchungen insbesondere das Geburtsdatum des Verstorbenen nur leicht verändert
angegeben worden sei. Seine Telefonnummer sei hinsichtlich der Vorwahl und der ersten drei Ziffern korrekt angegeben worden.
Der Beschwerdeführer zu 1. sei der direkte Nachbar des Verstorbenen, der dort mit Hauptwohnsitz gemeldet sei, während seine
Eltern das Haus lediglich als Wochenendhaus nützten. Der Täter müsse die fehlenden Zeitungen aus dem Briefkasten des Verstorbenen
rechtzeitig entfernt und sich deswegen in unmittelbarer Nähe aufgehalten haben. Aus diesem Grund richte sich der Tatverdacht
gegen den Beschwerdeführer zu 1.

4
3. Das Amtsgericht München ordnete mit angegriffenem Beschluss vom 10. Juni 2010 die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers
zu 1. an. Es bestehe der Verdacht, dass der Beschwerdeführer zu 1. unter einer falschen Identität Zeitungen abonniert, diese
nach ihrer Lieferung an sich genommen sowie im Internet Abbuchungen von einem ihm nicht gehörenden Konto veranlasst habe.
Die Durchsuchung verlief ergebnislos.

5
4. Gegen den Durchsuchungsbeschluss legten die Beschwerdeführer Beschwerde ein und rügten das Fehlen jeglichen Tatverdachts
sowie die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme. So werde der Tatverdacht mit keinem Wort begründet; auch eine Abwägung habe
nicht stattgefunden. Der Durchsuchungsbeschluss genüge damit nicht den vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Anforderungen
an den Richtervorbehalt nach Art. 13 Abs. 2 GG, wonach ein Durchsuchungsbeschluss eine eigenverantwortliche richterliche Prüfung
voraussetze.

6
5. Das Landgericht München I forderte den ermittelnden Polizeibeamten daraufhin auf, zu erläutern, weshalb ein Durchsuchungsbeschluss
gerade gegen den Beschwerdeführer zu 1. und nicht gegen einen der übrigen Nachbarn erwirkt wurde. In seiner Stellungnahme
vom 25. Dezember 2010 gab dieser als Grund erneut die unmittelbare Nachbarschaft an und stellte ferner unter anderem darauf
ab, der Beschwerdeführer zu 1. sei promovierter Arzt und komme wegen seines Intellekts als Leser der abonnierten Zeitungen
in Frage.

7
6. Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 10. Januar 2011 verwarf das Landgericht München I die Beschwerde der Beschwerdeführer
als unbegründet. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses hätten zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für
die Begehung einer Straftat durch den Beschuldigten bestanden. Zur Frage des Tatverdachts könne auf die nachgereichte polizeiliche
Stellungnahme verwiesen werden.

II.
8
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 13 GG.

9
Art. 13 Abs. 1 GG sei verletzt, weil gegen den Beschwerdeführer zu 1. zu keinem Zeitpunkt ein Tatverdacht bestanden habe.
Die landgerichtlichen Nachermittlungen zeigten, dass auch das Landgericht der Auffassung gewesen sei, der Aktenlage sei kein
Tatverdacht zu entnehmen gewesen.

III.
10
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat von einer Stellungnahme abgesehen.

11
2. Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

B.
12
Hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 1. sind die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs.
1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an den Tatverdacht bei Erlass eines
Durchsuchungsbeschlusses – bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 44, 353 ; 59, 95 ; 115,
166 ), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers zu 1.
aus Art. 13 Abs. 1 und 2 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers
zu 1. ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.
13
Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer zu 1. in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 und 2 GG.

14
1. Art. 13 Abs. 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit
ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. In diese grundrechtlich
geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 ; 59, 95 ; 96, 27 ;
103, 142 ). Das Gewicht des Eingriffs verlangt als Durchsuchungsvoraussetzung Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte
und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible
Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 44, 353 ; 59, 95 ; 115, 166 ). Eine
Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung des Verdachts erforderlich sind; denn sie
setzt einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332 ; 11, 88 ).

15
2. Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Die Annahme eines ausreichenden Tatverdachts gegen
den Beschwerdeführer zu 1. in dem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts und der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts
ist von Verfassungs wegen nicht haltbar.

16
a) Die in dem „Antrag auf Wohnungsdurchsuchung und Sicherstellung des PCs“ vom 21. Mai 2010 aufgeführten Umstände, auf die
sich der Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts München vom 10. Juni 2010 stützt, reichen nicht aus, um einen ausreichenden
Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer zu 1. zu begründen.

17
aa) Soweit darauf abgestellt wird, der Täter habe Kenntnisse über das Geburtsdatum und die Telefonnummer des Verstorbenen
haben müssen, steht einem hierauf gegründeten Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer zu 1. bereits entgegen, dass die Telefonnummer
des Verstorbenen öffentlich zugänglich war, weil sie im Telefonbuch stand, und dass die Kenntnis des Beschwerdeführers zu
1. vom Geburtsdatum des Verstorbenen, das noch dazu im Rahmen der Zeitungsbestellungen hinsichtlich des Geburtsjahres fehlerhaft
angegeben wurde, lediglich vermutet wurde. Hinzu kommt, dass am Tag der Tatbegehung in zwei lokalen Zeitungen eine Todesanzeige
erschien. In derartigen Anzeigen ist regelmäßig das Geburtsdatum des Verstorbenen aufgeführt. Eine Überprüfung des Inhalts
der Todesanzeigen daraufhin, ob dadurch auch das Geburtsdatum öffentlich zugänglich war, ist nicht erkennbar.

18
bb) Soweit auf die räumliche Nähe der Wohnung des Beschwerdeführers zu 1. zum Anwesen des Verstorbenen abgestellt wird, kann
aus dieser allein ebenfalls nicht ohne weiteres auf die Begehung der vorgeworfenen Taten durch den Beschwerdeführer zu 1.
geschlossen werden. Warum gerade der Beschwerdeführer zu 1. und nicht eine sonstige dritte Person die Zeitungen aus dem Briefkasten
des Verstorbenen entnommen haben soll, ist nicht nachvollziehbar. Die Annahme des Tatverdachts gegen den Beschwerdeführer
zu 1. beruht auch insoweit lediglich auf Vermutungen, die den schwerwiegenden Eingriff einer Durchsuchung in die grundrechtlich
geschützte persönliche Lebenssphäre nicht zu rechtfertigen vermögen.

19
b) Auch der Beschluss des Landgerichts München I vom 10. Januar 2011, mit dem die Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Durchsuchungsbeschluss
verworfen wurde, reicht zur Begründung eines hinreichenden Tatverdachts gegen den Beschwerdeführer zu 1. nicht aus. Dabei
kann offenbleiben, ob das Landgericht Defizite in der Begründung des zugrundeliegenden Tatverdachts durch Einholung einer
weiteren Stellungnahme des ermittelnden Polizeibeamten – freilich bezogen auf die Sach- und Rechtslage zur Zeit des Erlasses
des Durchsuchungsbeschlusses – nachbessern durfte (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. April 2004
– 2 BvR 2043/03, 2 BvR 2104/03 -, juris, Rn. 5) oder ob es seine Entscheidung von vornherein nur auf Gründe stützen durfte,
die bereits dem Ermittlungsrichter bekannt waren, da nur auf diesem Wege der Funktion des Richtervorbehalts gemäß Art. 13
Abs. 2 GG Rechnung getragen werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. September 2010 –
2 BvR 2561/08 -, NJW 2011, S. 291 ).

20
Denn weder der in der Stellungnahme der Polizeiinspektion Bad Wiessee vom 25. Dezember 2010, auf die das Landgericht München
Bezug genommen hat, angeführte Rückschluss von den bestellten Zeitungen und Zeitschriften sowie der geschädigten Stiftung
auf den Intellekt des Täters noch der Hinweis darauf, dass der Verstorbene hin und wieder in Behandlung des Beschwerdeführers
zu 3. gewesen sein und daher ein engeres Verhältnis zwischen beiden Personen bestanden haben soll, führen zu einer ausreichenden
Verdichtung des Verdachts gerade gegen den Beschwerdeführer zu 1. Zu Recht wird in der Stellungnahme von bloßen „Vermutungen“
gesprochen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anordnung einer Durchsuchung nicht genügen.

II.
21
Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG.

III.
22
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

C.
23
Soweit die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, wird von einer Begründung nach § 93d Abs. 1 Satz
3 BVerfGG abgesehen.

24
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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