Strafrecht

Stattgebender Kammerbeschluss: Zu den Anforderungen an die eigenverantwortliche richterliche Prüfung der Haftvoraussetzungen bei der Entscheidung über eine vorläufige Freiheitsentziehung gem § 427 Abs 1 FamFG – hier: Freiheitsentziehung zur Sicherung der Abschiebung – Verletzung des Betroffenen in Grundrechten aus Art 2 Abs 2 S 2 GG iVm Art 20 Abs 3 GG bei mangelnder Prüfung der vollziehbaren Ausreisepflicht

Aktenzeichen  2 BvR 1064/10

Datum:
9.2.2012
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2012:rk20120209.2bvr106410
Normen:
Art 2 Abs 2 S 2 GG
Art 20 Abs 3 GG
Art 104 Abs 2 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 62 Abs 4 AufenthG 2004
§ 417 Abs 2 S 2 Nr 5 FamFG
§ 427 Abs 1 FamFG
Spruchkörper:
2. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend LG Hannover, 9. April 2010, Az: 8 T 7/10, Beschlussvorgehend AG Hannover, 26. November 2009, Az: 44 XIV 143/09 B, Beschluss

Tenor

Die Beschlüsse des Amtsgerichts Hannover vom 26. November 2009 – 44 XIV 143/09 B – und des Landgerichts Hannover vom 9. April 2010 – 8 T 7/10 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Reichweite des in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verankerten
Gebots eigenverantwortlicher richterlicher Sachprüfung im Verfahren der vorläufigen Freiheitsentziehung nach § 427 Abs. 1
FamFG zur Sicherung einer Abschiebung.

I.
2
1. Der Beschwerdeführer ist ein im Jahre 1974 geborener georgischer Staatsangehöriger. Anfang des Jahres 2008 reiste er aus
der Slowakischen Republik kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er am 6. Februar 2008 einen Asylantrag stellte.
Diesen wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 5. März 2008 als unzulässig
zurück und ordnete auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien
und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat
gestellten Asylantrags zuständig ist (Amtsblatt Nr. L 50 S. 1 ff. – Dublin II-Verordnung) die Zurückschiebung des Beschwerdeführers
in die Slowakische Republik an.

3
2. Nach mehreren gescheiterten Abschiebungsversuchen und nach Ablauf der Überstellungsfrist nahm das Bundesamt das Asylverfahren
wieder auf, lehnte den Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 7. Oktober 2009 als offensichtlich unbegründet ab
und drohte ihm die Abschiebung an. Ausweislich einer Mitteilung an die Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörde Niedersachsen
vom 3. November 2009 ging das Bundesamt davon aus, dass der Bescheid am 12. Oktober 2009 zugestellt wurde oder als zugestellt
gelte und seit dem 20. Oktober 2009 vollziehbar sei.

4
3. Auf Antrag der Ausländerbehörde ordnete das Amtsgericht mit – hier angegriffenem – Beschluss vom 26. November 2009 gegen
den zwischenzeitlich in die Niederlande ausgereisten Beschwerdeführer, dessen Rücküberstellung in die Bundesrepublik für den
30. November 2009 vorgesehen war, gemäß § 427 Abs. 1 FamFG die einstweilige Freiheitsentziehung an. Der von der Ausländerbehörde
zugleich gestellte Antrag auf Anordnung der Abschiebungshaft, deren Sicherung die vorläufige Freiheitsentziehung diene, sei
nach bisheriger Prüfung offensichtlich begründet. Der Beschwerdeführer sei ausweislich des gestellten Antrages verpflichtet,
aus der Bundesrepublik auszureisen. Dessen ungeachtet sei der Beschwerdeführer untergetaucht und komme seinen aufenthaltsrechtlichen
Pflichten nicht nach. Es bestehe der begründete Verdacht, dass er nicht freiwillig ausreisen werde, sondern sich der Abschiebung
entziehen wolle. Im Übrigen nahm das Amtsgericht auf den Antrag der Ausländerbehörde Bezug.

5
4. Nach Überstellung des Beschwerdeführers aus den Niederlanden ordnete das Amtsgericht mit – hier nicht angefochtenem – Beschluss
vom 30. November 2009 gegen den Beschwerdeführer die Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 5 AufenthG an.
Eine Beschwerde gegen diesen Beschluss blieb erfolglos. Der Rechtsbeschwerde gab der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 22.
Juli 2010 statt und stellte dabei darauf ab, der Haftantrag sei nicht ordnungsgemäß begründet gewesen, weil sich aus ihm die
Grundlage der Ausreisepflicht nicht ergeben habe.

6
5. Seine gegen die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung gerichtete Beschwerde begründete der Beschwerdeführer damit,
es sei nicht ersichtlich, dass er zum Zeitpunkt der Haftanordnung ausreisepflichtig gewesen sei. Aus den Akten ergebe sich
nicht, dass ihm der Bescheid vom 7. Oktober 2009 ordnungsgemäß zugestellt worden sei; er habe von diesem Bescheid keine Kenntnis.
Die Zustellung werde auch nicht über § 10 AsylVfG fingiert. Die Fiktion des § 10 Abs. 2 AsylVfG gelte nach § 10 Abs. 1 AsylVfG
nur während der Dauer des Asylverfahrens, nicht mehr nach dessen Beendigung. Das Asylverfahren sei jedoch mit der Zurückweisung
des Asylantrages als unzulässig beendet gewesen. Voraussetzung der Fiktion nach § 10 Abs. 2 AsylVfG sei außerdem ein tatsächlicher
Zustellungsversuch; an einem solchen fehle es hier. Zudem sei der Beschwerdeführer entgegen § 10 Abs. 7 AsylVfG nicht darüber
belehrt worden, dass eine Ersatzzustellung auch dann möglich sei, wenn er sich einer Überstellung in die Slowakische Republik
entziehe und das Verfahren – wie hier – nach Ablauf der Überstellungsfrist von der Bundesrepublik übernommen werde.

7
Am 20. Februar 2010 wurde der Beschwerdeführer nach Georgien abgeschoben.

8
6. Das Landgericht wies die auf einen Feststellungsantrag umgestellte Beschwerde mit – hier angegriffenem – Beschluss vom
9. April 2010 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen einer einstweiligen Freiheitsentziehung nach § 427 FamFG seien zum
Zeitpunkt der Haftanordnung erfüllt gewesen. Nach dem Antrag der Ausländerbehörde hätten bei summarischer Prüfung Anhaltspunkte
für die Annahme bestanden, dass gegen den Beschwerdeführer Abschiebungshaft würde angeordnet werden können. Dem Amtsgericht
habe der bestandskräftige Bescheid des Bundesamts vorgelegen, wonach der Asylantrag des Beschwerdeführers als offensichtlich
unbegründet abgelehnt und der Beschwerdeführer zur Ausreise binnen einer Woche aufgefordert worden sei. Aus der Abschlussmitteilung
des Bundesamts habe sich ergeben, dass der Bescheid als am 12. Oktober 2009 zugestellt gelte. Im Rahmen einer summarischen
Überprüfung ergäben sich keine Zweifel an einer wirksamen Bekanntgabe gemäß § 10 AsylVfG.

II.
9
Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit
Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 GG geltend. Eine Freiheitsentziehung sei danach nur unter Einhaltung der einfachrechtlichen Vorgaben
zulässig. Voraussetzung der Abschiebungshaft sei in jedem Fall, dass der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig sei. Dies
habe der Haftrichter in eigener Verantwortung zu prüfen. Eine vollziehbare Ausreisepflicht könne sich hier nicht aus der Ablehnung
des Asylantrages als offensichtlich unbegründet ergeben, weil der betreffende Bescheid dem Beschwerdeführer nicht ordnungsgemäß
zugestellt worden sei. Eine Zustellung ergebe sich weder aus dem Haftantrag, noch sei eine Zustellungsurkunde vorhanden. Der
Hinweis auf die Abschlussmitteilung des Bundesamts vom 3. November 2009 ersetze den Zustellungsnachweis nicht. Indem das Amtsgericht
die Haftanordnung ausschließlich auf den Haftantrag gestützt habe, ohne eigenverantwortlich eine ordnungsgemäße Zustellung
des Bescheides zu hinterfragen, sei es seiner verfassungsrechtlichen Prüfungspflicht nicht nachgekommen. Für eine Prüfung
wäre bis zur erwarteten Überstellung aus den Niederlanden auch ausreichend Zeit gewesen. Jedenfalls das Landgericht hätte
sich nicht auf eine summarische Prüfung beschränken dürfen, sondern abschließend klären müssen, ob der Beschwerdeführer tatsächlich
vollziehbar ausreisepflichtig war.

III.
10
Das Niedersächsische Justizministerium hat sich im Einvernehmen mit dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport
dahingehend geäußert, Grundrechte des Beschwerdeführers seien nicht verletzt worden. Das Haftgericht habe zu berücksichtigen,
dass es sich dem Charakter nach um ein Eilverfahren handele, und könne sich daher regelmäßig nur auf die glaubhaft gemachten
Umstände stützen. Diese Einschränkung werde durch die zeitliche Begrenzung der vorläufigen Freiheitsentziehung aufgewogen.
Die vollziehbare Ausreisepflicht habe das Amtsgericht zutreffend aus dem Bescheid des Bundesamts vom 7. Oktober 2009 hergeleitet,
dessen Bestandskraft sich aus der in den Akten dokumentierten Zustellungsfiktion ergebe.

11
Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Äußerung des Vorsitzenden des V. Zivilsenats übermittelt. Dieser hält die Verfassungsbeschwerde
für begründet. Die Pflicht zur Begründung des Haftantrages erstrecke sich nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG auch auf die
Ausreisepflicht des Betroffenen. Dabei habe die den Haftantrag stellende Behörde die wirksame Zustellung des zugrunde liegenden
Bescheides darzulegen. Dem genügten der Haftantrag und der Antrag auf vorläufige Freiheitsentziehung nicht. Der Abschlussmitteilung
des Bundesamts lasse sich nicht entnehmen, aufgrund welcher Tatsachen von einer wirksamen Zustellung oder einer Zustellungsfiktion
ausgegangen worden sei. Zu Unrecht hätten die Gerichte daher Zweifel an einer wirksamen Zustellung gemäß § 10 AsylVfG verneint.
Die Anforderungen an die Darlegung und Feststellung der Ausreisepflicht seien nicht deshalb geringer, weil es sich um ein
einstweiliges Anordnungsverfahren handele. Angesichts des zwischen der Antragstellung und der angekündigten Rückführung des
Beschwerdeführers aus den Niederlanden liegenden Zeitraums von mehreren Tagen hätte es dem Amtsgericht oblegen, weitere Ermittlungen
anzustellen.

12
Die Ausländerakte sowie die Akte des Ausgangsverfahrens sind beigezogen worden.

B.
13
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90
Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht
hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c
Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz
1 BVerfGG. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 3 GG.

14
1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die Freiheit der Person als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen
Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 ; 29, 312 ; 65, 317 ). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG
darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter
Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der
materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 ; 58, 208
). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn
für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem
Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 ; 29, 183 ; 58,
208 ).

15
Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt
des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht
zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 ). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung
des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt
als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (BVerfGE 103, 142 ; 105, 239 ). Das gerichtliche Verfahren muss
darauf angelegt sein, dem Betroffenen vor dem Freiheitsentzug diejenigen rechtsstaatlichen Sicherungen zu gewähren, die mit
einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. Die Eilbedürftigkeit einer solchen Entscheidung kann eine Vereinfachung und
Verkürzung des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigen, darf aber die unabhängige, aufgrund der Justizförmigkeit des Verfahrens
besonders verlässliche Entscheidungsfindung nicht gefährden (BVerfGE 83, 24 ; BVerfGK 7, 87 ).

16
b) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit
für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung
eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender
richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie
entspricht (BVerfGE 58, 208 ; 70, 297 ). In Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz der
Rechtsstaatlichkeit gewährleistet das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen für
eine Haftanordnung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Bei der Anordnung von Abschiebungshaft wie auch bei der Entscheidung
über ihre Fortdauer verpflichtet er die Gerichte insbesondere, zu überprüfen, ob die Ausreisepflicht (fort)besteht (vgl. BVerfG,
Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2009 – 2 BvR 538/07 -, juris, Rn. 19).

17
c) Diese Anforderungen sind auf die einstweilige Freiheitsentziehung nach § 427 FamFG jedenfalls insoweit übertragbar, als
deren Zweck durch die Sachprüfung nicht gefährdet wird.

18
Eine vorläufige Freiheitsentziehung im Wege der einstweiligen Anordnung kann das Gericht nach § 427 Abs. 1 Satz 1 FamFG anordnen,
wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Freiheitsentziehung gegeben
sind und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen einer vorläufigen
Unterbringung sind damit deckungsgleich mit denjenigen, die für die endgültige Maßnahme gelten (vgl. Budde, in: Keidel, FamFG,
17. Aufl. 2011, § 427 Rn. 2). Verfahrensrechtlich kann eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme nach § 427 Abs. 1 Satz 1 FamFG
bereits dann getroffen werden, wenn die für den Erlass der endgültigen Maßnahme erforderlichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen
sind, soweit konkrete Umstände mit erheblicher Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten, dass die sachlichen Voraussetzungen für
die Anordnung der Freiheitsentziehung erfüllt sind; dabei wird eine summarische Prüfung für ausreichend erachtet (vgl. Budde,
a. a. O.).

19
Dies entbindet die Gerichte jedoch allenfalls insoweit von den zur rechtlichen Prüfung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen
erforderlichen Ermittlungen, als ansonsten das Verfahrensziel der Freiheitsentziehung gefährdet wäre. Den Charakter eines
Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht verliert eine Freiheitsentziehung nicht dadurch, dass sie in einem summarischen Verfahren
angeordnet wird. Die allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Sachaufklärung gelten daher im Grundsatz
auch bei der vorläufigen Freiheitsentziehung. Abstriche sind jedenfalls dann nicht zu rechtfertigen, wenn erforderliche Ermittlungen
ohne Gefährdung des Verfahrensziels ohne Weiteres durchführbar sind.

20
Die gerichtliche Aufklärungspflicht ist auch nicht im Hinblick auf die Begrenzung der vorläufigen Freiheitsentziehung auf
die Dauer von sechs Wochen (§ 427 Abs. 1 Satz 2 FamFG) reduziert. Diese Begrenzung dient der Wahrung der Verhältnismäßigkeit
einer vorläufigen Freiheitsentziehung, ändert jedoch nichts an deren Anordnungsvoraussetzungen und der gerichtlichen Verpflichtung,
diese festzustellen.

21
2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben stehen die angegriffenen Entscheidungen nicht im Einklang. Die Gerichte sind
ihrer Verpflichtung zu einer eigenverantwortlichen Sachaufklärung nicht in dem von der Verfassung gebotenen Umfang nachgekommen,
weil sie nicht hinreichend untersucht haben, ob der Beschwerdeführer vollziehbar ausreisepflichtig war.

22
a) Das Amtsgericht ist vor der Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung nicht der Frage nachgegangen, ob dem Beschwerdeführer
der Bescheid des Bundesamts vom 7. Oktober 2009 wirksam bekannt gegeben worden ist, obwohl hieran unter mehreren Gesichtspunkten
Anlass zu Zweifeln bestand, die der Aufklärung bedurft hätten.

23
aa) Eine eigenverantwortliche Prüfung, ob der Beschwerdeführer vollziehbar ausreisepflichtig ist, war dem Amtsgericht auf
der Grundlage der ihm vorgelegten Unterlagen verwehrt. Weder in dem Antrag auf Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung
noch in dem parallel übersandten Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft waren die Tatsachen dargelegt, aus denen sich eine
Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ergab. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen. Die Anordnung von Zurückschiebungshaft
setzt nach § 417 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Satz 2 Nr. 5 FamFG einen begründeten Antrag voraus, der Darlegungen enthalten muss,
aus welchen Gründen der Betroffene zweifelsfrei ausreisepflichtig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2010 – V ZB 218/09
-, juris, Rn. 14). Die vorläufige Freiheitsentziehung darf nach § 427 Abs. 1 FamFG nur angeordnet werden, wenn dringende Gründe
für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für eine Anordnung einer Freiheitsentziehung erfüllt sind. Auch dem Antrag
auf vorläufige Haftanordnung muss daher zu entnehmen sein, dass und aus welchen Gründen der Beschwerdeführer ausreisepflichtig
ist.

24
Dies war hier nicht der Fall. In dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG war ohne Angabe
von Gründen lediglich ausgeführt, der Beschwerdeführer sei vollziehbar ausreisepflichtig. Der die Grundlage der Ausreisepflicht
bildende Bescheid vom 7. Oktober 2009 sowie Zeitpunkt, Art und Weise seiner Bekanntgabe waren nicht bezeichnet. Diese Informationen
ergaben sich auch nicht aus dem dem Amtsgericht zugleich übersandten Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft. Aus diesem
ging lediglich hervor, dass der Asylantrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 5. März 2008 als unzulässig zurückgewiesen
worden war; nicht genannt war hingegen der Bescheid vom 7. Oktober 2009, aus dem eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers
allenfalls folgte. Dieser Begründungsmangel hat den Bundesgerichtshof bewogen, festzustellen, dass die Anordnung der Zurückschiebungshaft
und deren Bestätigung den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt haben (BGH, Beschluss vom 22. Juli 2010 – V ZB 28/10
-, juris). Dass die Ausländerbehörde ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG auch den
Bescheid vom 7. Oktober 2009 beigefügt hat, ersetzt dessen Inbezugnahme im Antrag nicht. Nur durch eine ausdrückliche Nennung
des Bescheides ist hinreichend gewährleistet, dass erkennbar ist, auf welche konkreten Grundlagen die Behörde ihren Antrag
stützt, und dass die Übermittlung des Antrages an den Betroffenen dessen Recht auf rechtliches Gehör wahrt (vgl. BGH, a.a.O.,
Rn. 12). Vor allem aber ergibt sich weder aus dem Bescheid noch aus den anderen dem Amtsgericht vorgelegten Unterlagen, ob
und in welcher Form eine Bekanntgabe an den Beschwerdeführer erfolgt ist. So fehlen Dokumente wie etwa eine Zustellungsurkunde
oder ein Vermerk über die Anschrift, unter der die Zustellung erfolgt oder versucht worden ist.

25
Gegen eine wirksame Bekanntgabe spricht vor diesem Hintergrund der Hinweis in dem Antrag auf Anordnung der vorläufigen Freiheitsentziehung,
der Beschwerdeführer habe sich seiner für den 8. Oktober 2009 geplanten Abschiebung in die Slowakische Republik entzogen und
sei seitdem unbekannten Aufenthalts gewesen. Die Annahme einer wirksamen Zustellung bei unbekanntem Aufenthalt hätte zumindest
näherer Erläuterung bedurft. Zweifel an einer Ausreisepflicht ergaben sich schließlich auch aus dem Vermerk des Bundesamts
vom 3. November 2009, welcher dem Amtsgericht zum Zeitpunkt der einstweiligen Haftanordnung vorlag. Danach ging das Bundesamt
davon aus, dass der Bescheid über die Ablehnung des Asylantrages vom 7. Oktober 2009 dem Beschwerdeführer am 12. Oktober 2009
zugestellt worden sei oder als an diesem Datum zugestellt gelte. Damit blieb offen, ob das Bundesamt von einer Zustellung
oder einer Zustellungsfiktion ausging und aufgrund welcher Tatsachen es zu seiner Annahme gelangte. Anhaltspunkte für die
Klärung dieser Fragen lassen sich den dem Amtsgericht vorgelegten Dokumenten nicht entnehmen.

26
bb) Daher hätte Anlass zur Klärung der Frage der Ausreisepflicht bestanden. Nachforschungen hierzu hat das Amtsgericht jedoch
nicht vorgenommen. Die zuständige Richterin verfügte lediglich die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung. Dabei
geht aus dem verwendeten Textvordruck hervor, dass (allein) aufgrund des gestellten Haftantrages von einer Ausreisepflicht
ausgegangen wurde. Das Amtsgericht ist damit nicht im Ansatz seiner verfassungsmäßigen Verpflichtung nachgekommen, eigenverantwortlich
zu prüfen, ob eine Ausreisepflicht des Beschwerdeführers bestand.

27
Eine Prüfung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil es sich um eine eilbedürftige Entscheidung über eine vorläufige Freiheitsentziehung
handelte. Angesichts des zwischen dem Antrag der Ausländerbehörde vom 25. November 2009 und der erst für den 30. November
2009 angekündigten Rückführung aus den Niederlanden liegenden Zeitraums von mehreren Tagen wäre es dem Amtsgericht ohne Weiteres
möglich gewesen, durch Beiziehung der Akten der Ausländerbehörde und des Bundesamts oder durch telefonische Rückfrage bei
den Behörden eigenständig nachzuprüfen, ob und auf welcher Grundlage von einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Beschwerdeführers
ausgegangen werden konnte.

28
cc) Da bereits das Unterlassen von Nachforschungen trotz ersichtlich unzureichender Entscheidungsgrundlage einen Verstoß gegen
die verfahrensrechtlichen Sicherungen des Freiheitsgrundrechts darstellt, kann dahinstehen, ob eine Ausreisepflicht tatsächlich
bestand. Ein Verstoß gegen Verfahrens- oder Formvorschriften wäre auch dann nicht unbeachtlich, wenn die materiellen Haftvoraussetzungen
erfüllt wären. Eine solche hypothetische Betrachtungsweise widerspräche dem Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG
(vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Dezember 2008 – 2 BvR 1438/07 -, juris, Rn. 13).

29
dd) Der Verfassungsverstoß entfällt schließlich auch nicht deshalb, weil die Ausländerbehörde den Beschwerdeführer nach §
62 Abs. 4 AufenthG in der bis zum 25. November 2011 geltenden Fassung möglicherweise auch ohne vorherige richterliche Anordnung
hätte festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen können. Die Behörde hat nicht diese Vorgehensweise gewählt, sondern sich
dafür entschieden, einen Antrag nach § 427 Abs. 1 FamFG zu stellen. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen,
muss der Eingriff den Voraussetzungen der konkret gewählten Rechtsgrundlage entsprechen.

30
b) Auch der Beschluss des Landgerichts genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine eigenverantwortliche richterliche
Sachprüfung nicht, ohne dass es darauf ankommt, ob in dem keiner Eilbedürftigkeit mehr unterliegenden landgerichtlichen Feststellungsverfahren
erleichterte Anforderungen an die Sachverhaltsfeststellung zur Geltung kommen. Das Landgericht stellte darauf ab, dass dem
Amtsgericht der Bescheid des Bundesamts vorgelegen habe, aus dem sich die Ausreisepflicht des Beschwerdeführers ergeben habe.
Den Bescheid erachtete das Landgericht ohne weitere Nachprüfung als bestandskräftig, wobei es auf die Abschlussmitteilung
des Bundesamts abhob, aus der sich eine Zustellungsfiktion ergebe. Damit überging das Landgericht, dass aus der Mitteilung
des Bundesamts bereits nicht eindeutig hervorgeht, ob der Bescheid zugestellt worden oder ob das Bundesamt von einer Zustellungsfiktion
ausgegangen ist. Den sich hieraus ergebenden Zweifeln ist das Landgericht nicht weiter nachgegangen. Der Hinweis auf das Erfordernis
einer nur summarischen Prüfung, die “keine Zweifel an einer wirksamen Zustellung gemäß § 10 AsylVfG” ergebe, genügt den verfassungsrechtlichen
Anforderungen nicht. Angesichts der Möglichkeit einer eigenen Tatsachenfeststellung anhand der Ausländerakte und der Asylakte
oder einer fernmündlichen Rückfrage bei den Behörden und einer darauf basierenden eigenen Prüfung durfte sich das Landgericht
nicht darauf beschränken, die – zumal mehrdeutige und nicht begründete – Annahme des Bundesamts zu übernehmen. Vielmehr hätte
es, sofern es von einer Zustellungsfiktion ausgehen wollte, deren in § 10 AsylVfG näher geregelte Voraussetzungen erörtern
und deren Vorliegen aufklären müssen.

C.
31
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.


Ähnliche Artikel


Nach oben