Strafrecht

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Grundrechten durch Aufrechterhaltung von Sicherungsverwahrung in Anwendung von § 67d Abs 3 S 1 StGB sowie § 2 Abs 6 StGB – unzureichende fachgerichtliche Feststellungen zum Vorliegen einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten – Anforderungen an Vorliegen einer psychischen Störung iSd § 1 Abs 1 Nr 1 ThUG – unzureichende Prüfung milderer Mittel

Aktenzeichen  2 BvR 1238/12

Datum:
7.5.2013
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
Normen:
Art 2 Abs 2 S 2 GG
Art 20 Abs 3 GG
Art 104 Abs 1 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 2 Abs 6 StGB
§ 67d Abs 3 S 1 StGB
§ 67d Abs 3 S 2 StGB
§ 68a StGB
§ 68b StGB
§ 177 Abs 4 Nr 1 StGB
§ 1 Abs 1 Nr 1 ThUG
Spruchkörper:
2. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend OLG Nürnberg, 7. Mai 2012, Az: 2 Ws 197/12, Beschluss

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 7. Mai 2012 – 2 Ws 197/12 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Er wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung in einem sogenannten Altfall im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.

I.
2
1. Der mehrfach vorbestrafte Beschwerdeführer wurde im März 1994 mit Urteil des Landgerichts Bayreuth wegen schweren Raubes
in zwei Fällen, davon in einem Fall rechtlich zusammentreffend mit sexueller Nötigung, zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren
verurteilt. Überdies wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Er hatte im einen Fall einer Asylbewerberin
ihre Tasche entrissen und ihr dann drohend ein Messer vorgehalten. Bei der anderen Tat – für die eine Einzelstrafe von sieben
Jahren verhängt wurde – hatte er eine Frau in ein Gehölz gezerrt und ihre Hände gefesselt. Mit einem Messer hatte er ihr sodann
die Hose im Schrittbereich aufgeschnitten, ihr an die Scheide gefasst und dort einen harten Gegenstand eingeführt. Das Menstruationsblut
der Geschädigten hatte ihn von weiteren sexuellen Handlungen abgehalten. Der Beschwerdeführer hatte ihr sodann ihre Geldbörse
mit etwa 400 DM weggenommen. Bei der Begehung beider, nur zwei Tage auseinander liegenden Taten hatte er sich im Lockerungsurlaub
von der gegen ihn wegen vorheriger Delikte verhängten Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt befunden.

3
2. Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung wurde im Januar 2012 ein Sachverständigengutachten
erstellt, an welchem der Beschwerdeführer nicht mitwirkte. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, deliktanaloge Taten “bis
hin zu Vergewaltigungen” seien zu befürchten. Die Wahrscheinlichkeit für Gewalt- und Sexualdelikte liege bei “über 50 %”.
Im Anhörungstermin erklärte der Sachverständige, die Rückfallwahrscheinlichkeit für einschlägige Delikte “vorwiegend mit Drohungen”
liege bei 50 %. Eine psychische Störung könne nach Aktenlage nicht festgestellt werden. Es müsse ein “klinisch erkennbarer
Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten” vorliegen, der “auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen-
oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist”. Dies sei in den inhaltlich nachvollziehbaren
Vorgutachten nicht geprüft worden, so dass sich dieses Kriterium anhand der Aktenlage nicht zuverlässig habe belegen lassen.

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3. Am 8. März 2012 waren die Freiheitsstrafe sowie zehn Jahre der Sicherungsverwahrung vollstreckt. Unter Hinweis auf die
Übergangsregelung im Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (vgl. BVerfGE 128, 326 ff.) erklärte
die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing die Sicherungsverwahrung durch
Beschluss vom 12. März 2012 für erledigt. Aus konkreten Umständen in der Person des Beschwerdeführers oder aus seinem Verhalten
sei keine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten abzuleiten. Daher könne dahinstehen, ob eine “psychische
Störung” vorliege.

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4. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht Nürnberg mit angegriffenem Beschluss vom
7. Mai 2012 den landgerichtlichen Beschluss auf und ordnete die weitere Vollziehung der Sicherungsverwahrung an. Es bestehe
die aus konkreten Umständen ableitbare Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten. Eine der begangenen Taten
sei als besonders schwere Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 4 StGB mit Strafe ab fünf Jahren bedroht und daher als schwerste
Sexualstraftat einzustufen. Ferner bestehe eine Rückfallwahrscheinlichkeit von mindestens 50 %, insbesondere da der Beschwerdeführer
die Taten während des Freigangs auf dem Rückweg in die Entziehungsanstalt begangen habe. Eine psychische Störung in Form der
dissozialen Persönlichkeitsstörung liege vor, auch wenn sich der Sachverständige diese Diagnose nach der Weigerung des Beschwerdeführers,
an der Gutachtenerstattung mitzuwirken, letztlich nicht zugetraut habe.

II.
6
Der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch den angegriffenen Beschluss in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen
Rechten aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 20 und Art. 104 GG verletzt. Bei ihm handele es sich um einen “Altfall”, so dass
er nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 5 und 7 EMRK nach Ablauf von zehn Jahren
in der Sicherungsverwahrung zwingend zu entlassen sei. Auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten dürfe es dabei nicht
ankommen. Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

7
Ferner macht der Beschwerdeführer die Zahlung von Haftkosten, die ihm wegen seines Status als Sicherungsverwahrter im Mai
2010 nicht hätten auferlegt werden dürfen, und die Festsetzung einer Entschädigungszahlung geltend.

III.
8
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es führt insbesondere
aus, das Oberlandesgericht sei in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass eine hochgradige
Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten vorliege. Die durch den Sachverständigen festgestellte “mindestens 50-prozentige
Rückfallwahrscheinlichkeit” sei nachvollziehbar. Die Wertung, dass es sich bei den drohenden Straftaten um schwerste Taten
handle, sei verfassungsrechtlich nicht angreifbar.

9
2. Der Generalbundesanwalt hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Er ist der Auffassung, die oberlandesgerichtliche Rechtsanwendung
halte der verfassungsrechtlichen Nachprüfung noch stand. Das Oberlandesgericht habe das Vorliegen einer hochgradigen Gefahr
für schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten willkürfrei angenommen. Da eine besonders hohe Rückfallgefahr festgestellt worden
sei, stelle sich die Fortdauer auch dann als verhältnismäßig dar, wenn die drohenden Straftaten innerhalb der Bandbreite schwerster
Gewalt- und Sexualstraftaten eher am unteren Ende anzusiedeln seien. Zudem sei die Annahme einer psychischen Störung verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Auch wenn der Sachverständige nicht sämtliche Elemente einer dissozialen Persönlichkeitsstörung habe
nachweisen können, habe das Gericht das Vorliegen dieser Störung insbesondere unter Bezugnahme auf Vorgutachten festgestellt.

10
3. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht ebenso vorgelegen wie das Vollstreckungsheft.

IV.
11
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG)
und auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erfüllt sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen
– insbesondere hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer einer vor 1999 angeordneten Sicherungsverwahrung über den
Zeitraum von zehn Jahren hinaus – bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 128, 326 ). Die Verfassungsbeschwerde
ist im Wesentlichen offensichtlich begründet.

12
1. Soweit der Beschwerdeführer die Erstattung von Haftkosten und die Zahlung einer Entschädigung geltend macht, ist die Verfassungsbeschwerde
unzulässig, da sie nicht hinreichend substantiiert (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG) und der Rechtsweg gemäß § 90 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG nicht erschöpft ist.

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2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss zur Fortdauer der Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG. Er genügt den Anforderungen nicht, die sich für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung
auf der Grundlage der verfassungswidrigen, aber für vorläufig weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz
1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB aus Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ) ergeben.

14
a) Das Bundesverfassungsgericht hat – neben anderen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung – auch
§ 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten
vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (BVerfGE 128, 326 f.). Zugleich hat es gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Norm bis zu
einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, angeordnet (BVerfGE 128, 326 ). Danach darf
§ 67d Abs. 3 Satz 1 nur nach Maßgabe einer – insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrenprognose und die
gefährdeten Rechtsgüter – strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden (BVerfGE 128, 326 ).

15
Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB –
soweit er zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren
Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten
vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen wurden – mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar
ist (BVerfGE 128, 326 ). In diesen Fällen tritt unter Berücksichtigung der Wertungen der EMRK der legitime gesetzgeberische
Zweck, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, weitgehend hinter das grundrechtlich geschützte Vertrauen
in ein Ende der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren zurück (vgl. BVerfGE 128, 326 ). Daher darf gemäß Nr.
III.2.a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 die Fortdauer der Sicherungsverwahrung
nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen
in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von §
1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz
– ThUG) leidet (BVerfGE 128, 326 ).

16
Dabei handelt es sich bei dem Begriff der “psychischen Störung” in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG um einen unbestimmten Rechtsbegriff,
der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist. Ob seine Merkmale im Einzelfall erfüllt
sind, haben die Gerichte eigenständig zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. September
2011 – 2 BvR 1516/11 -, juris, Rn. 39). In den Fällen einer “dissozialen Persönlichkeitsstörung” kommt es im Rahmen des §
1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG entscheidend auf den Grad der objektiven Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer
Hinsicht an, der anhand des gesamten – auch des strafrechtlich relevanten – Verhaltens des Betroffenen zu bestimmen ist (vgl.
BVerfG, a.a.O., Rn. 40).

17
Darüber hinaus beinhaltet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Anordnung und Fortdauer der Sicherungsverwahrung als
letztes Mittel nur in Betracht kommt, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen, um den Sicherheitsinteressen
der Allgemeinheit Rechnung zu tragen (BVerfGE 128, 326 ; 70, 297 ).

18
Zwar setzt die Feststellung der dargestellten Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung eine wertende richterliche
Entscheidung voraus, die das Bundesverfassungsgericht nicht in allen Einzelheiten nachprüfen kann (vgl. BVerfGE 70, 297 <314,
315>). Aufgrund des zunehmenden Gewichts des Freiheitsanspruchs erhöhen sich bei langandauernden Unterbringungen aber die
Anforderungen an die Wahrheitserforschung (vgl. im Einzelnen BVerfGE 109, 133 ) und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte
(vgl. BVerfGE 70, 297 ). Daher ist in diesen Fällen im Wege verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die
Annahme der Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage beruht
und dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung Rechnung getragen ist (vgl. BVerfGE 70, 297 ).

19
b) Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 7. Mai 2012 nicht. Das
Gericht legt zwar die Anforderungen, die sich aus Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
vom 4. Mai 2011 für die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ergeben, seiner Entscheidung zugrunde. Die
Feststellungen des Gerichts vermögen aber die Annahme einer hochgradigen Gefahr schwerster Sexual- oder Gewaltstraftaten nicht
zu rechtfertigen und verletzen dadurch das Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers. Auch im Übrigen trägt der Beschluss
den Anforderungen an eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht hinreichend Rechnung.

20
aa) Hinsichtlich des Vorliegens einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten geht das Oberlandesgericht
in seinem angegriffenen Beschluss davon aus, dass beide Merkmale nicht isoliert voneinander zu betrachten seien. Stehe ein
Delikt im Raum, das sich am unteren Rand der Bandbreite bewege, bedürfe es einer besonders hohen Rückfallgefahr. Vorliegend
bestehe nach den Feststellungen des Sachverständigen die Gefahr von Straftaten, die in ihrer Intensität den bisher begangenen
Delikten entsprechen. Dabei sei insbesondere auf die letzte begangene Tat abzustellen, bei der der Beschwerdeführer ein Messer
eingesetzt habe, um sexuelle Handlungen vornehmen zu können. Derartige Taten seien gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr.
1, Abs. 4 Nr. 1 StGB mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht. Da der Sachverständige eine mindestens 50-prozentige
Rückfallwahrscheinlichkeit angenommen habe, liege eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten vor.

21
Damit lässt das Oberlandesgericht bereits die von ihm selbst dargelegte Wechselwirkung zwischen Rückfallrisiko und Deliktsschwere
außer Betracht. Auch wenn in Fällen des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB angesichts einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine
“schwerste Sexualstraftat” im Sinne der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 vorliegen kann, ist
zu berücksichtigen, dass es noch schwerere, mit höheren Strafdrohungen verbundene Sexual- und Gewaltdelikte gibt (§§ 176b,
178, 211, § 212 Abs. 2, § 251 StGB). Die sexuelle Nötigung gemäß § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB ist daher allenfalls dem mittleren
Bereich der schwersten Taten einzuordnen. Vor diesem Hintergrund hätte aber für das Oberlandesgericht Veranlassung bestanden,
sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Rückfallwahrscheinlichkeit von (mindestens) 50 % ausreicht, um eine “hochgradige
Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten” annehmen zu können. Hierzu verhält sich der angegriffene Beschluss jedoch
nicht.

22
Vor allem aber gibt das Gericht die Feststellungen des Sachverständigen nur unvollständig wieder. Zwar hat er in seinem Gutachten
die Wahrscheinlichkeit weiterer Gewalt- und Sexualdelikte mit über 50 % eingestuft. Bei der mündlichen Anhörung hat er demgegenüber
nur noch von einer Wahrscheinlichkeit von 50 % gesprochen und diesen Wahrscheinlichkeitsgrad auf “einschlägige Delikte (vorwiegend
mit Drohungen)” beschränkt. Unter einschlägigen Delikten versteht der Sachverständige ausweislich seines Gutachtens Handlungen
der Körperverletzung bis hin zur Vergewaltigung, aber auch andere Delikte wie Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung. Außerdem
hat er im Rahmen der mündlichen Anhörung erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit für noch gravierendere Delikte deutlich geringer
sei.

23
Damit rechtfertigen die Feststellungen des Sachverständigen die Annahme einer hochgradigen Gefahr sexueller Nötigungen im
Sinne des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB oder vergleichbar schwerwiegender Straftaten nicht. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit
der Begehung schwerster Sexual- oder Gewaltstraftaten kann weder aus den Ausführungen des Sachverständigen noch aus sonstigen
Umständen abgeleitet werden. Eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung hätte aber die Feststellung einer hochgradigen Gefahr
der Begehung gerade derartiger Straftaten zur Voraussetzung. Insofern beruhen die Feststellungen des Oberlandesgerichts auf
einer unzureichenden tatsächlichen Grundlage. Um eine überwiegende Wahrscheinlichkeit schwerster Sexualstraftaten anzunehmen,
hätte es weiterer Sachaufklärung bedurft.

24
bb) Auch die Annahme des Vorliegens einer “psychischen Störung” im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG begegnet durchgreifenden
verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Oberlandesgericht nimmt insoweit das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung
an.

25
Im vorliegenden Verfahren hat der Sachverständige erklärt, angesichts der Weigerung des Beschwerdeführers zur Mitwirkung bei
der Gutachtenerstellung eine entsprechende Diagnose nicht stellen zu können. Soweit das Oberlandesgericht stattdessen zur
Begründung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers auf die Feststellungen der Vorgutachter zurückgreift,
hat der Sachverständige in der mündlichen Anhörung erklärt, dass eine Persönlichkeitsstörung nur festgestellt werden könne,
wenn eine Beeinträchtigung der Lebensführung durch einen Symptomkomplex vorliege. Dies sei bei früheren Gutachten aber nicht
geprüft worden. Hierzu verhält sich der angegriffene Beschluss nicht.

26
Des Weiteren begründet das Oberlandesgericht das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung damit, dass der Beschwerdeführer
in seiner Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht objektiv beeinträchtigt sei, weil er seinen spontanen körperlichen
Angriffen gegen Frauen keine willentliche Gegenwehr entgegensetzen könne. Worauf sich diese Annahme gründet, ist nicht ersichtlich.
Sie steht im Widerspruch zu den Feststellungen des anlässlich der Begehung der Ausgangstat eingeholten Sachverständigengutachtens,
auf das das Oberlandesgericht sich in seinem Beschluss ebenfalls bezieht. Dort wurde ausdrücklich festgestellt, der Beschwerdeführer
unterliege keinem zwanghaften Trieb. Vielmehr sei sein Gewissen nicht ausreichend ausgebildet und er verfüge über ein hohes
Maß an Bedenkenlosigkeit. Vor diesem Hintergrund hätte die Annahme einer dissozialen Persönlichkeitsstörung weiterer Begründung
bedurft.

27
cc) Darüber hinaus verhält der angegriffene Beschluss sich nicht zu der Frage, ob und inwieweit die Möglichkeit bestand, durch
Maßnahmen der Führungsaufsicht ein ausreichendes Maß an Kontrolle und Betreuung des Beschwerdeführers zu erreichen.

28
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg ist daher aufzuheben. Die Sache ist an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen
(§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

29
4. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

30
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.


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