Strafrecht

Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe in Fällen der Bagatellkriminalität

Aktenzeichen  207 StRR 236/20

Datum:
16.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 16389
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 47 Abs. 1, § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen ist auch in solchen Fällen der Bagatellkriminalität mit §47 Abs. 1 StGB vereinbar, in denen in der rechtspolitischen Diskussion eine Gesetzesänderung erwogen wird, die die Umwandlung des verwirklichten Delikts (hier: Erschleichen von geringwertigen Leistungen) in eine Ordnungswidrigkeit zum Gegenstand hat.   (Rn. 8)
2. Auch soweit gemäß § 267 Abs. 3 Satz 2 letzte Var. StPO im Urteil ausdrücklich zu begründen ist, warum auf eine Geldstrafe und nicht auf eine kurze Freiheitsstrafe erkannt wurde, ist eine Darstellung der Lebenssachverhalte, die den Vorverurteilungen des Angeklagten zugrunde lagen, nur dann geboten, wenn der Tatrichter diese für entscheidungserheblich hält (Fortentwicklung zu BGH, Urt. vom 23. Januar 2020, 3 StR 433/19). (Rn. 9)
3. Der Umstand, dass dem Angeklagten der Widerruf der Bewährung im Hinblick auf eine zuvor gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe droht, stellt keinen Gesichtspunkt dar, der der ansonsten für geboten erachteten Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe entgegensteht. (Rn. 14)

Verfahrensgang

8 Ns 291 Js 27624/19 2020-02-13 Urt LGTRAUNSTEIN LG Traunstein

Tenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 13. Februar 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens an eine andere Strafkammer des Landgerichts Traunstein zurückverwiesen.

Gründe

II.
Die nach § 333 i. V. m. § 341 Abs. 1, 344 Abs. 1, Abs. 2 StPO zulässige Revision erweist sich als begründet.
1. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft erfasst lediglich den Rechtsfolgenausspruch, da die vom Angeklagten erklärte Beschränkung seiner Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Altötting vom 28. Oktober auf das Strafmaß gemäß § 318 Satz 1 StPO wirksam war. Nur im Falle eines inneren Zusammenhangs zwischen der Strafzumessung und der Schuldfrage ist eine solche im Übrigen mögliche Beschränkung unwirksam (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. § 318 Rdn. 17 m. w. N.). Soweit die Revision geltend macht, dem Landgericht sei es aufgrund der Feststellungen des Amtsgerichts verwehrt, Feststellungen dazu zu treffen, ob die Tat einen Ausnahmecharakter habe, ist klar zu stellen, dass dann möglicherweise schon zweifelhaft wäre, ob die Beschränkung der Berufung auf das Strafmaß überhaupt wirksam sein konnte. Die vom Landgericht angesprochenen, nur eine der vier dem Angeklagten zur Last liegenden Taten betreffenden Umstände waren aber ersichtlich nicht geeignet, die Schuld des Angeklagten in Zweifel zu ziehen. Es handelt sich vielmehr um Umstände, die allein im Rahmen der Strafzumessung relevant sein können. Hierzu ergänzende Feststellungen zu treffen, wird durch die Beschränkung des Rechtsmittels ebenso wenig verwehrt wie das Vorliegen solcher Umstände die Wirksamkeit der Beschränkung des Rechtsmittels berühren könnte.
2. Die Überprüfung des Urteils des Landgerichts Traunstein vom 13. Februar 2020 aufgrund der erhobenen Sachrüge führt zur Aufhebung des Urteils mit den dazu gehörenden Feststellungen.
a) Die Strafzumessung ist die ureigenste Aufgabe des Tatrichters, dem hierbei ein weiter Beurteilungsspielraum eröffnet ist, der vom Revisionsgericht bis an die Grenze des Vertretbaren hinzunehmen ist (vgl. nur BGH, Urt. v. 28. März 2018, 2 StR 516/17, BeckRS 2018, 7662). Dies gilt auch für die Frage, ob nach Maßgabe des § 47 Abs. 1 StGB eine Freiheitsstrafe von unter 6 Monaten unerlässlich ist oder nicht. Bei der Beurteilung, ob der Tatrichter sich noch in dem ihm eröffneten Beurteilungsspielraum bewegt hat, ist auch nicht semantisch auf einzelne Formulierungen abzustellen, sondern eine Gesamtwürdigung der vom Tatrichter angegebenen Begründung geboten. Es kommt daher nicht darauf an, ob das Revisionsgericht eine andere Sanktionierung für vorzugswürdig oder naheliegender erachtet und auch nicht darauf, ob einzelne Formulierungen im Berufungsurteil – für sich genommen – eine Missachtung der vom Tatrichter zu beachtenden Grundsätze nahe legen.
b) Das Berufungsurteil legt – den Vorgaben des § 267 Abs. 3 Satz 2 letzte Var. StPO entsprechend – im vorliegenden Fall ausführlich dar, warum von der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe abgesehen wurde, auch wenn dies nach dem Regelungsgehalt des § 47 Abs. 1 StGB den Normalfall darstellt. Der Umstand, dass dabei zum Ausdruck gebracht wurde, dass für jede einzelne der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten eine Einzelfreiheitsstrafe von 2 Monaten tat- und schuldangemessen sei (BU S. 5), besagt indes nicht, dass der Tatrichter damit zum Ausdruck bringen wollte, dass die Festsetzung solcher Einsatzstrafen unerlässlich im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB war. Vielmehr wird im Berufungsurteil (BU S. 6) deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Unerlässlichkeit der Festsetzung kurzer Freiheitsstrafen gerade verneint wurde. Dass sich die Argumentation, dem Wortlaut des § 47 Abs. 1 StGB Rechnung tragend, von der Freiheitsstrafe zur Geldstrafe hinbewegt und nicht, was üblicher sein mag, umgekehrt von der Geldzur Freiheitsstrafe, ändert hieran nichts.
c) Zutreffend weist die Revision zwar darauf hin, dass § 47 Abs. 1 StGB die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen für bestimmte Deliktsgruppen, insbesondere der Bagatellkriminalität, nicht grundsätzlich untersagt (vgl. Fischer, StGB 67. Aufl. 2020, § 47 Rn. 6 m. w. N.) und im Einzelfall ungeachtet des geringen Erfolgsunwerts des Delikts der Handlungsunwert eine kurze Freiheitsstrafe rechtfertigen kann (vgl. Fischer a. a. O. unter Verweis auf BVerfG 2 BvR 710/94). Im Berufungsurteil wird hierzu ausdrücklich klargestellt, dass die Einordnung der Straftaten in den Bereich der Bagatellkriminalität kein Gesichtspunkt ist, der der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe per se entgegensteht und die rechtspolitische Diskussion über die Herabstufung der Beförderungserschleichung zur Ordnungswidrigkeit keinen Einfluss auf die Rechtsfolgenbestimmung im konkreten Fall hat. Dass das Berufungsgericht bei der Würdigung der Taten den durch die Vielzahl der einschlägigen Vorverurteilungen geprägten Handlungsunwert unberücksichtigt gelassen hat, ergibt sich aus den Urteilsgründen, die von einer „kaum zu überbietenden Rückfallgeschwindigkeit“ sprechen, nicht. Dass der Tatrichter von einem geringen Erfolgsunwert ausging, lässt sich daher für sich genommen nicht als Rechtsfehler feststellen.
d) Soweit die Revision rügt, das Urteil hätte die den Vorverurteilungen zugrunde liegenden Sachverhalte im Einzelnen feststellen müssen, verhilft ihr noch nicht zum Erfolg. Zwar werden im Urteil die Vielzahl der Vorstrafen und der Umstand, dass der Angeklagte bei Tatbegehung unter offener Bewährung stand, im Rahmen der Strafzumessung angesprochen, ohne in den Urteilsgründen Feststellungen dazu zu treffen, welche Lebenssachverhalte den vorangegangenen Verurteilungen zugrunde lagen. Doch ist es vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, „wenn das Tatgericht die früher festgestellten Tatumstände nicht in dem Sinne als entscheidungserheblich einstuft, dass sie – über den Straftatbestand und die festgesetzte Vorstrafe hinaus – für die Strafzumessung bestimmend sind. Dann genügt die Mitteilung der Vorstrafen und etwaiger Strafverbüßungen. Einer Schilderung der den Vorverurteilungen zugrunde liegenden Taten oder gar Strafzumessungserwägungen bedarf es nur in einem hier nicht gegebenen Ausnahmefall, so zum Beispiel bei Bildung einer nachträglichen Gesamt- oder jugendrechtlichen Einheitsstrafe (BGH, Urteile vom 30. Juni 2011 – StR 3 39/11, NJW 2011, 3463 Rn. 14; vom 23. Mai 2013 – 4 StR 70/13, juris Rn. 3), bei Berücksichtigung verfahrensfremder Vortaten im Rahmen der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld im Sinne von § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB (vgl. Beschlüsse vom 19. November 2013 – 4 StR 448/13, BGHR StGB 46 Vorleben, 31 Rn. 7 f.; vom 27. Oktober 2015 3 StR 363/15, juris Rn. 16) oder unter Umständen bei der Anordnung einer Maßregel (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 10. November 2011 4 StR 417/11, juris Rn. 7 mwN)“ (BGH, Urteil vom 23. Januar 2020 3, StR 433/19, juris Rn. 25). Gemessen hieran war die Wiedergabe des Inhalts des Bundeszentralregisters und die Bezugnahme hierauf im Rahmen der Ausführungen zur Strafzumessung ausreichend, um die kriminelle Vorbelastung des Angeklagten als Strafzumessungskriterium darzustellen.
Im Übrigen kann mit der von der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten eingelegten Revision nicht geltend gemacht werden, dass das Landgericht, das davon ausging, dass keiner der Vorverurteilungen eine die Taten in milderem Licht darstellende Ausnahmekonstellation zugrunde lag, hierzu keine näheren Feststellungen getroffen hat.
e) Soweit seitens der Generalstaatsanwaltschaft moniert wird, die Ausführungen im angefochtenen Urteil zum Übermaßverbot ließen besorgen, dass das Berufungsgericht verkannt habe, dass § 47 Abs. 1 StGB eine einfachgesetzliche Normierung des Übermaßverbots darstelle, die nicht durch einen nochmaligen Rekurs auf das Übermaßverbot ausgehöhlt werden dürfe, misst sie den Ausführungen im Berufungsurteil einen Sinngehalt bei, den diese selbst bei einer ohnehin nicht angezeigten semantischen Auslegung nicht haben. Der Umstand, dass das Berufungsgericht zur Rechtfertigung seiner Entscheidung auf das Übermaßverbot hingewiesen hat, hat es damit ersichtlich nicht zum Ausdruck bringen wollen, mit diesem Hinweis sei eine Abweichung von den zu § 47 Abs. 1 StGB in Rechtsprechung und Lehre entwickelten Grundsätzen zu rechtfertigen. Die Ausführungen im Urteil legen vielmehr nahe, dass lediglich dem aus § 47 Abs. 1 StGB abgeleiteten Grundsatz, dass die Urteilsgründe erkennen lassen müssen, dass sich das Gericht der Bedeutung des Übermaßverbots bewusst war (Fischer a. a. O. Rn. 10 m. w. N.) Rechnung getragen werden sollte.
f) Soweit die Generalstaatsanwaltschaft rügt, das Berufungsgericht habe Strafzumessungskriterien mit Erwägungen zur Sozialprognose vermengt, geht sie im Ausgangspunkt von der richtigen Auffassung aus, dass die Frage, ob eine positive Sozialprognose gestellt werden kann oder nicht, sich grundsätzlich nur stellt, wenn eine Freiheitsstrafe verhängt wird. Der Hinweis des Berufungsgerichts darauf, dass wegen der vielfachen einschlägigen Vorahndungen eine positive Sozialprognose beim Angeklagten nicht zu begründen war, trägt daher zur Klärung der Frage, ob die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB unerlässlich ist oder nicht, nichts bei. Mit den diesbezüglichen Ausführungen sollten freilich im vorliegenden Fall die Konsequenzen der Festsetzung kurzer Freiheitsstrafen für die Lebensführung des Angeklagten beschrieben werden. Bei der Frage, ob die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen unerlässlich im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB ist oder dadurch gegen das Übermaßverbot verstoßen wird, ist aber der Tatrichter durchaus gehalten, die Konsequenzen der in Betracht zu ziehenden Rechtsfolgen für die Lebensführung des Angeklagten mit zu berücksichtigen.
g) Die Annahme des Berufungsgerichts, aus dem Übermaßverbot ergebe sich im vorliegenden Fall, dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe nicht unerlässlich sei, ist indes aus zwei Gründen mit der gegebenen Begründung nicht haltbar.
aa) Bei der Frage, ob die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen gegen das Übermaßverbot verstößt oder nicht, ist zwar durchaus in den Blick zu nehmen, welche Konsequenzen sich daraus für den Angeklagten ergeben. Aus der hier vom Berufungsgericht angesprochenen Erwartung, dass dem Angeklagten der Widerruf der Bewährung einer zuvor verwirkten Freiheitsstrafe droht, kann aber per se nicht auf die Unverhältnismäßigkeit der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe geschlossen werden, da die zuvor verhängte und zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe einen anderen Schuldvorwurf betraf und das vom Angeklagten insoweit zu gegenwärtigende Strafübel nicht aus der verfahrensgegenständlichen Verurteilung, sondern aus den zuvor begangenen Straftaten erwächst. Der Umstand, dass er mit der erneuten Straffälligkeit zugleich die in ihn gesetzte Erwartung künftiger Straffreiheit enttäuscht hat, lässt sich nicht im Rahmen der Zumessung der allein durch die neue Schuld bestimmten Strafe mildernd berücksichtigen. Insoweit ist die Argumentation des Landgerichts, das zutreffend erkannt hat, dass § 47 Abs. 1 StGB nicht besagt, dass für bestimmte Deliktsgruppen keine Freiheitsstrafen verhängt werden dürfe, in sich widersprüchlich, denn im Ergebnis führt die Argumentation des Landgerichts dazu, dass für Bagatelldelikte, die im Lauf offener Bewährung begangen werden, keine kurze Freiheitsstrafe ausgesprochen werden dürfte.
bb) Das Landgericht hat zudem die Unerlässlichkeit der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen verneint, ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nicht die Verteidigung der Rechtsordnung (§ 47 Abs. 1 letzte Var. StGB) hier die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen gebietet. Dazu hätte aber im Hinblick darauf, dass der Angeklagte die erste der vier ihm hier angelasteten Taten am Abend des Tages begangen hat, an dem er vom Amtsgericht München zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, Anlass bestanden. Gegenstand dieser Verurteilung war ein Vergehen der Sachbeschädigung, wobei gegen den Angeklagten auf eine Gesamtstrafe von 5 Monaten erkannt wurde, weil eine Verurteilung des Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten durch das Amtsgericht Altötting am 7. August 2018 einzubeziehen war, die wegen des Erschleichens von Leistungen ausgesprochen worden war. Der Angeklagte stand also bereits zum Zeitpunkt der ersten der ihm hier angelasteten Taten unter einschlägiger Bewährung und ist noch an dem Tag, an dem ihm vom Strafrichter am Amtsgericht München Bewährung zugebilligt wurde, erneut straffällig geworden. Es liegt nahe, dass es für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheint, dass trotz dieser Umstände nicht auf eine kurze Freiheitsstrafe erkannt wurde. Der Umstand, dass dem Angeklagten aufgrund der „kaum zu überbietenden“ Rückfallgeschwindigkeit keine positive Sozialprognose gestellt werden kann, wie das Berufungsgericht ausführt, ist kein Gesichtspunkt, mit dem man das Absehen von der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe in einer solchen Konstellation rechtfertigen kann.
Das Urteil ist daher gem. § 353 Abs. 1 StPO und im Hinblick auf die hierzu getroffenen Feststellungen gem. § 353 Abs. 2 StPO aufzuheben und das Verfahren gem. § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zurückzuverweisen.


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