Verkehrsrecht

Abgrenzung von freiwilliger und unfreiwilliger Gesundheitsbeschädigung in der privaten Unfallversicherung

Aktenzeichen  25 U 933/13

Datum:
16.2.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 170385
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG VVG § 178 Abs. 2 S. 2
ZPO ZPO § 286

 

Leitsatz

1. Freiwillig erlitten ist die Gesundheitsbeschädigung eines Versicherten dann, wenn dieser sie entweder gewollt oder für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat. Hat er sich hingegen bewusst zwar einem hohen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt, aber darauf vertraut, dass sich dieses nicht in einer Schädigung auswirken würde, liegt eine unfreiwillige Gesundheitsbeschädigung vor. (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Versicherer hat die Vermutung der Unfreiwilligkeit der Gesundheitsbeschädigung gemäß § 178 Abs. 2 S. 2 VVG nicht widerlegt, wenn sich der von einer Bahn erfasste Versicherte nachvollziehbar aufgrund einer Amnesie an das Unfallgeschehen nicht erinnern kann, direkte Beweise für eine suizidale Absicht des Versicherten fehlen und auch mittels Indizien nicht der Vollbeweis der Freiwilligkeit als geführt anzusehen ist (Einzelfallentscheidung). (redaktioneller Leitsatz)
3. Beruft sich der Versicherer hilfsweise auf den Ausschluss für Unfälle durch Geistes- oder Bewusstseinsstörungen (hier Ziff. 5.1.1 AUB 2006), scheidet eine Wahlfeststellung zwischen Freiwilligkeit der Gesundheitsbeschädigung und Ausschlusstatbestand (vgl. dazu LG Dortmund BeckRS 2008, 16422) aus, wenn der Versicherer natürliche Störungen wie Übermüdung oder Schlaftrunkenheit als Unfallursache nicht ausräumt. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

71 O 1077/12 2013-02-01 Endurteil LGLANDSHUT LG Landshut

Gründe

Oberlandesgericht München
Az.: 25 U 933/13
IM NAMEN DES VOLKES
Verkündet am 16.02.2016
71 O 1077/12 LG Landshut
In dem Rechtsstreit

– Kläger und Berufungskläger –
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte …
gegen

– Beklagte und Berufungsbeklagte –
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte …
wegen Forderung
erlässt das Oberlandesgericht München – 25. Zivilsenat – durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht …, den Richter am Oberlandesgericht … und die Richterin am Oberlandesgericht … aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16.02.2016 folgendes
Endurteil
I.
Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Landgerichts Landshut vom 01.02.2013 – Az.: 71 O 1077/12 – dahingehend abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger 232.557,50 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.02.2012 zu bezahlen, sowie weitere 99,96 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 28.04.2012.
II.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen und bleibt die Klage abgewiesen.
III.
Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen trägt der Kläger zu 6%, die Beklagte zu 94%.
IV.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung je durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des je zu vollstreckenden Betrages leistet.
V.
Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
VI.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 247.557,50 € (232.557,50 € Leistungsantrag, 15.000,00 € Feststellungsantrag) festgesetzt.
Gründe:
I. Der Kläger macht gegen die Beklagte für seinen mitversicherten Sohn Ansprüche aus einem Unfallversicherungsvertrag geltend.
Der am … 1995 geborene Versicherte war am 07.08.2011 kurz nach 10:00 Uhr auf der Bahnstrecke Mühldorf – München in der Nähe des Bahnhofes D. von einem Regionalexpress erfasst worden, wobei – neben erheblichen Verletzungen des linken Beines und einer Schädelfraktur – sein rechtes Bein im Bereich des Oberschenkels komplett abgetrennt wurde und in der Folge im proximalen (körpernahen) Drittel eine Oberschenkelamputation erfolgte. Der Kläger verlangt deshalb von der Beklagten auf Grundlage der in den Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (V. AUB 2006) vereinbarten Gliedertaxe i. V. m. den Besonderen Bedingungen zur Progression (400%) eine Invaliditätsleistung für einen Invaliditätsgrad von 70% in Höhe von 221.000 € sowie Krankenhaus-Tagegeld für einen unfallbedingten stationären Aufenthalt von insgesamt 174 Tagen in Höhe von 11.557,50 €, zusammen 232.557,50 €. Außerdem begehrt er – neben Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten – Attestkosten in Höhe von 99,96 € sowie die Feststellung einer Einstandspflicht der Beklagten aus dem Versicherungsvertrag für etwaige weitergehenden Ansprüche.
Die Beklagte hat eine Leistungserbringung vorprozessual unter Berufung darauf abgelehnt, dass der Versicherte in suizidaler Absicht vor den Zug gesprungen sei. Im Prozess hat sie hilfsweise eine Bewusstseinsstörung eingewandt und bezüglich der Anspruchshöhe gegen einen Teil der Krankenhaustagegeldansprüche und die Attestkosten sowie gegen die Nebenforderungen Einwendungen erhoben; den Feststellungsantrag hält sie für unzulässig.
Das Landgericht hat die Klage nach Vernehmung mehrerer Zeugen, insbesondere des Zugführers – Zeuge L. -, und unter Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte abgewiesen, da es zur Überzeugung gelangt ist, dass eine nicht unfreiwillige Gesundheitsbeschädigung vorliege und insoweit die Beklagte die Vermutung des § 178 Abs. 2 Satz 2 VVG widerlegt habe.
Im Einzelnen wird auf die tatsächlichen Feststellungen und die Entscheidungsgründe im Urteil des Erstgerichts Bezug genommen.
Dagegen wendet sich die Berufung des Klägers. Sein Sohn, der Geschädigte, könne sich aufgrund des erlittenen Polytraumas mit retrograder Amnesie zwar nicht an das Unfallgeschehen erinnern. Er könne sich den Unfall aber nur so erklären, dass er die Bahnlinie laufend habe überqueren wollen und den von links herannahenden Zug nicht erkannt oder dessen Geschwindigkeit verkannt habe, er müsse wohl irgendwie gestolpert und dadurch auf dem Gleiskörper zu Fall gekommen sein. Das Landgericht habe die Beweisanforderungen des § 178 Abs. 2 Satz 2 VVG verkannt, die Zeugenaussagen unzutreffend bewertet und entscheidungserhebliche Beweisangebote übergangen. Es habe insbesondere keinen Ortsaugenschein vorgenommen oder Sachverständigenbeweis dazu erhoben, dass häufig Leute an der geschlossenen Schranke vorbei und über die Gleise gehen würden und sich beidseits der Schrankenanlage ein Trampelpfad gebildet habe, was die Version des Geschädigten wahrscheinlich mache. Auch habe es den angebotenen Sachverständigenbeweis dazu, dass beim Stolpern eine Rotationsbewegung nicht ausgeschlossen sei, weshalb die Stolperbewegung eine Erklärung dafür sei, dass das rechte und nicht das linke Bein abgetrennt worden sei, nicht erholt. Insgesamt habe die Beklagte den erforderlichen Strengbeweis für die Freiwilligkeit der Gesundheitsbeschädigung nicht geführt.
Auf die Berufungsbegründung vom 08.05.2013 (Bl. 143/157 d. A.) und die weiteren Schriftsätze des Klägers im Berufungsverfahren vom 27.11.2014 (Bl. 240/241 d. A.), 16.02.2015 (Bl. 257/259 d. A.), 07.07.2015 (Bl. 288/289 d. A.), 11.09.2015 (Bl. 298/299 d. A.) und vom 11.11.2015 (Bl. 317 d. A.) wird Bezug genommen
Der Kläger beantragt im Berufungsverfahren:
Das Urteil des Landgerichts Landshut vom 01.02.2013, Az. 71 O 1077/12, wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt,
I. an den Kläger 232.557,50 € zu bezahlen, nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.11.2011.
II. Weiterhin wird die Beklagte verurteilt, 1.855,21 € vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten sowie weitere 99,96 € nebst dieser Zinsen seit Klagezustellung zu bezahlen.
III. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Stefan R., geb. 14.07.1995, sämtliche weitergehenden Ansprüche aus dem Unfall vom 07.08.2011 gegen 10:08 Uhr in D., an der Bahnstrecke München-Simbach, Kilometer 46,334 im Rahmen des Versicherungsvertrages zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Dritte, namentlich Sozialversicherungsträger, übergegangen sind.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das landgerichtliche Urteil und dessen Beweiswürdigung.
Auf die Berufungserwiderung vom 24.06.2013 (Bl. 160/165 d. A.) und die weiteren Schriftsätze der Beklagten im Berufungsverfahren vom 19.11.2014 (Bl. 237/238 d. A.), 07.01.2015 (Bl. 245/252 d. A.), 13.01.2015 (Bl. 254 d. A.), 27.07.2015 (Bl. 290/291 d. A.), und vom 05.11.2015 (Bl. 315/316 d. A.) wird Bezug genommen.
Der Senat hat gemäß Beschluss vom 27.08.2013 (Bl. 166/169 d. A.) ein unfallanalytisches und verletzungs- bzw. biomechanisches Sachverständigengutachten erholt. Zum Ergebnis wird auf das schriftliche Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. B. und Prof. Dr. P. vom 29.09.2014 (Bl. 191/235 d. A.), deren ergänzendes Gutachten vom 29.05.2015 (Bl. 267/284 d. A.) und die Anhörung der Sachverständigen in den mündlichen Verhandlungen vom 20.10.2015 (Bl. 303/314 d. A.) und vom 16.02.2016 (Bl. 326/335 d. A.) verwiesen. In letzterer Verhandlung wurde zudem der Zeuge L. erneut vernommen. Auf die Protokolle der Verhandlungen und die gerichtlichen Hinweise gemäß Verfügung vom 10.08.2015 (Bl. 292/293 d. A.) wird ebenfalls Bezug genommen.
II. Die zulässige Berufung des Klägers ist hinsichtlich des Leistungsantrags – abgesehen von einem Teil der Nebenforderungen – begründet, hinsichtlich des Feststellungsantrags unbegründet.
1. Das angefochtene Urteil des Landgerichts Landshut war abzuändern und der Klage weitgehend stattzugeben, da sich der Senat nach ergänzender Beweisaufnahme anders als das Landgericht nicht davon überzeugen konnte, dass der Sohn des Klägers den Zusammenstoß in suizidaler Absicht herbeigeführt hat und damit die Gesundheitsbeschädigung bei dem Zugunfall am 07.08.2011 freiwillig erlitten hätte. Damit greift die Vermutung der Unfreiwilligkeit des § 178 Abs. 2 Satz 2 VVG, die Beklagte ist dem Grunde nach verpflichtet, an den Kläger die vertraglich vereinbarten Unfallversicherungsleistungen zu erbringen, § 178 Abs. 1 VVG.
Freiwillig erlitten ist die Gesundheitsbeschädigung eines Versicherten dann, wenn dieser sie entweder gewollt oder für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat. Hat er sich hingegen bewusst zwar einem hohen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt, aber darauf vertraut, dass sich dieses nicht in einer Schädigung auswirken würde, liegt eine unfreiwillige Gesundheitsbeschädigung vor (vgl. Rixecker in Römer/Langheid, VVG, 4. Aufl., Rn. 11 zu § 178).
Wie schon das Landgericht zutreffend festgestellt hat, ist ein direkter Beweis für die Absichten des geschädigten Sohnes des Klägers beim Überqueren des Zuggleises nicht vorhanden.
Dieser selbst kann sich aufgrund einer – glaubhaften – Amnesie an das Unfallgeschehen nicht erinnern; ein Abschiedsbrief wurde trotz polizeilicher Suche nicht gefunden. Soweit in den beigezogenen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft vermerkt wurde, dass der Geschädigte gegenüber dem Zeugen R. angegeben habe, dass er sich umbringen wolle (Vermerk POM’in B. vom 30.08.2011, Bl. 37 d.EA), hat sich das schon in der Beweisaufnahme des Landgerichts nicht bestätigt. Der Zeuge R. hat auf Vorhalt des Aktenvermerks angegeben, dass ihm die Polizistin bei dem Anruf mitgeteilt habe, dass es um den Selbstmordversuch gehe und dass das Gespräch von Anfang an auf den Selbstmordversuch ausgerichtet gewesen sei. Er könne nicht mehr sagen, was er der Polizeibeamtin gesagt habe. Weiter hat er insbesondere bekundet, dass er sich an das Gespräch mit dem Geschädigten, bei dem mehrere Themen angerissen worden seien, im Einzelnen nicht mehr erinnern könne. Wenn dieser zu ihm gesagt hätte, dass er sich jetzt gleich umbringt, hätte er ihn nicht 50 m vor seinem Haus alleine gelassen, sondern ihn direkt nach Hause gebracht und seine Eltern informiert (Protokoll vom 11.12.2012, Bl. 103/113 d. A.). Die Zeugin B. hat hierzu ausgesagt, dass sie sich bereits während des Telefonats mit dem Zeugen R. handschriftlich Stichpunkte gemacht und diese dann zur Fertigung des Vermerks verwendet habe. In diesen Stichpunkten habe sie nicht drin, „dass er sich umbringen“ wolle, im Vermerk stehe dies dann. Es könne durchaus sein, dass sie in gewisser Weise eine Schlussfolgerung daraus gezogen habe, dass der Zeuge ihr mitgeteilt hat, dass er sich Sorgen gemacht habe und den Geschädigten deshalb nach Hause gebracht hätte (Protokoll vom 11.12.2012, Bl. 103/113 d. A.). Das Landgericht hat bei seiner Beweiswürdigung die Aussage des Zeugen R. entsprechend nur insoweit als Anhaltspunkt für die Freiwilligkeit herangezogen, als es darin Indizien für eine angespannte emotionale Lage des Geschädigten gesehen hat.
Der Senat sieht bei einer Würdigung der Gesamtumstände nach ergänzender Beweisaufnahme zwar durchaus gewisse Anhaltspunkte dafür, dass der Geschädigte sich in suizidaler Absicht bei und trotz Herannahen des Zuges auf das Gleis begeben haben könnte. Da aber andere gewichtige Gesichtspunkte dagegen sprechen, reichen diese Anhaltspunkte nicht aus, um den Senat von einer Selbstmordabsicht des Versicherten oder einem anderen die Freiwilligkeit ausschließenden Geschehensablauf im Sinne des § 286 ZPO zu überzeugen. Der Senat hält dies insgesamt nicht einmal für überwiegend wahrscheinlich.
Für Selbstmordabsicht könnte vor allem die Aussage des Zeugen L., des Zugführers, sprechen, nach dessen Bekundungen vor dem Landgericht der Geschädigte trotz Warnsignal bei Annäherung des Zuges in den Bereich des Trafohäuschens vom Trafohäuschen aus mit vorgehaltenen Händen auf das Gleisbett zugelaufen sein soll. Der Zeuge hatte den Eindruck, als ob man von einem Startblock springen wollte (Protokoll vom 04.09.2012, Bl. 70 d. A.). Da das Landgericht seine Beweiswürdigung maßgeblich auf diese Wahrnehmungen des Zeugen L. gestützt hat, hat der Senat ihn erneut vernommen (vgl. zu den Voraussetzungen BGH, Urteil vom 11.06.2015 – I ZR 217/14 -, NZM 2015, 944, Rn. 9 bei juris), wobei der Zeuge im Wesentlichen seine Aussage vor dem Landgericht bestätigt hat: Die Person sei ihm an einer ganz übersichtlichen Stelle, wo man mit sowas überhaupt nicht rechnen konnte, vor den Zug gesprungen; sie sei mit vorgestreckten Armen hinter dem Trafohaus hervor gelaufen und auf das Gleis gelaufen. Es habe so ausgesehen, als wenn die Person ins Wasser springen wolle. Ein gutes Jahr vor diesem Unfall sei schon einmal (an einem anderen Ort) eine Person vor ihm mitten auf dem Gleis gestanden, wobei es ebenfalls zur Kollision kam (Protokoll vom 16.02.2016, Bl. 329/330 d. A.).
Der Senat kann dieser Aussage allerdings nicht ein derart ausschlaggebendes Gewicht beimessen, wie es das Landgericht getan hat. Er glaubt durchaus, dass der Zeuge L. sich subjektiv so an den Vorfall erinnert und um eine wahrheitsgemäße Aussage bemüht war. Ihr Beweiswert ist dennoch aus mehreren Gründen nicht allzu hoch einzuordnen.
So hat der Zeuge vor Gericht schon nicht mehr seine von der Polizei protokollierten Angaben, dass er den Geschädigten „auf der rechten Seite der Schienen im Gras hocken“ gesehen habe und dieser „bei Erkennen des Zuges mit vorgestreckten Armen im Hechtsprung vor den Zug gesprungen“ sei (so in der polizeilichen Erstbefragung vor Ort am 07.08.2011, Bl. 45 d.EA) bzw. dass „von rechts eine Person auf das Gleis hechtete“ (Aussage vor der Polizei am 24.08.2011, Bl. 35 d.EA) bestätigt, sondern – eine nicht unwesentliche Abänderung – nur mehr von einem Laufen auf das Gleisbett zu bzw. auf das Gleis mit vorgestreckten Armen gesprochen. Von einem Hocken im Gras war nicht mehr die Rede – wobei es sichtlich einen Unterschied macht, ob jemand direkt neben den Schienen wartend im Gras sitzt und aus der Hocke vor einen herannahenden Zug „springt“ oder ob diese Person hinter einem – die Sicht verdeckenden – Trafohäuschen hervorläuft, während sich der Zug annähert. Dieser Umstand schränkt auch die Indizwirkung der grundsätzlich guten Einsehbarkeit und Übersichtlichkeit der Gleisstrecke ein (vgl. insbesondere die im Rahmen der Sachverständigenbegutachtung bei der Ortsbesichtigung am 18.06.2014 gefertigte Fotodokumentation,Tafeln 1 – 6 zum Gutachten vom 29.09.2014) – ein Übersehen des Zuges oder eine Fehleinschätzung seiner Geschwindigkeit erscheinen bei dem vor Gericht geschilderten Ablauf wesentlich plausibler. Für ein bloßes Überlaufen der Gleise spricht auch, dass die Ortsbesichtigung die Behauptung des Klägers bestätigt hat, dass an der Unfallstelle häufig Leute neben der geschlossenen Schranke vorbeigehen würden und sich beidseits der Schrankenanlage bereits Trampelpfade gebildet hätten. Der Sachverständige Prof. Dr. B. hat neben seinen Ausführungen dazu im schriftlichen Gutachten vom 29.09.2014 mit Fotodokumentation (vgl. Seiten 26 ff., Bl. 216 ff. d. A. mit Bildtafeln, insbesondere Tafeln 2 und 6) bei seiner Anhörung am 20.10.2015 erläutert, dass vom Trafohäuschen aus ein Trampelpfad über die Gleise führe, und zwar in Richtung des Weges, den der Sohn des Klägers eingeschlagen hatte, leicht nach links. Beim Ortstermin sei die Schranke die ganze Zeit geschlossen gewesen (vgl. Protokoll, Bl. 307 d. A.). Der Sachverständige konnte beim Ortstermin selbst beobachten, dass bei geschlossener Bahnschranke Radfahrer und Fußgänger auf den Pfaden um die Bahnschranken herum über den Grünbereich und das Bahndammbett hinweg gingen, dies also offenbar möglich und üblich ist, sowie, dass dabei unebenes Geläuf mit geschotterter Oberfläche zu überwinden ist (GA vom 29.09.2014, Seiten 27, 28 und 43, Bl. 217/218 und 234 d. A.). Diese Besonderheit der Örtlichkeit macht einen „normalen“ Überquerungsversuch der Gleise durch den Geschädigten ohne Suizidabsicht und möglicherweise mit einem Stolpervorgang verbunden grundsätzlich plausibler.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass der objektive Gehalt der Aussage des Zeugen L. sich letztlich darauf beschränkt, dass der Geschädigte nach seiner Erinnerung sehr kurz vor dem Zug und mit vorgestreckten Armen auf und über das Gleisbett gelaufen ist und auf das Warnsignal nicht erkennbar reagiert hat. Der Eindruck des Zeugen, dass dies in Suizidabsicht geschah, stellt dessen bloße subjektive Einschätzung dar. Zudem darf der psychologische Hintergrund nicht außer Acht gelassen werden, dass der Zeuge bereits zum zweiten Mal innerhalb relativ kurzer Zeit mit dem sicher traumatischen Ereignis konfrontiert wurde, mit seinem Zug einen Menschen überfahren zu haben. Es liegt nahe, dass dies leichter zu verarbeiten ist, wenn man sich sagen kann, dass der je Betroffene den Zusammenstoß selbst gesucht hat – und dass dies die eigene Wahrnehmung und Erinnerung möglicherweise formt.
Entscheidend in Frage gestellt hinsichtlich des äußeren Ablaufs wird die Suizidabsicht des Geschädigten aber durch die biomechanische Analyse im unfallanalytischen Sachverständigengutachten dazu, wie der Bewegungsablauf beim Anstoß vermutlich gewesen ist. Von zentraler Bedeutung ist dabei vor allem die Feststellung, dass angesichts des Verletzungsbildes der Sohn des Klägers sicher nicht in aufrechter Position mit dem Schienenfahrzeug kollidiert sein kann; wesentliche Verletzungen seien bei ihm lediglich im Bereich des linken und rechten Oberschenkels sowie im Bereich des Kopfes (Platzwunde, Impressionsfraktur) dokumentiert worden, Hals- und Rumpfregion seien hingegen offenbar gänzlich unverletzt gewesen – was bei einer Kollision in aufrechter Position nicht möglich gewesen wäre. Auch könne die Verletzung im Kopfbereich nicht mit einem Kontakt mit dem Schienenfahrzeug in Übereinstimmung gebracht werden: aufgrund der vergleichsweise selektiven Verletzungszonen sei vielmehr davon auszugehen, dass sich der Geschädigte mit seinem Rumpf- und Kopfbereich bereits vollständig außerhalb des durch die Bauteile am Schienenbus überdeckten Bereichs befunden habe; bei einem wie auch immer gearteten Kontakt mit harten Bauteilen am Zug wären mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitaus schwerwiegendere Kopfverletzungen entstanden – die Kopfverletzung lasse sich aber mit einem Aufprall am Gleiskörper in Zusammenhang bringen (vgl. zum Ganzen GA, Seiten 35 – 40, Bl. 225 -230 d. A.). Das bedeute, dass sich nach dem Verletzungsbild der Sohn des Klägers mit Beckenregion, Rumpf, Hals und Kopf bereits südlich vom Gleisbett befunden haben müsse (Ergänzungsgutachten vom 29.05.2015, Seite 14, Bl. 281 d. A.) bzw. dieser mit Hüftbereich und Oberkörper schon über den Schienstrang und auch über den von der Lokomotive abgedeckten Bereich hinaus war (Protokoll vom 20.10.2015, Seite 4, Bl. 306 d. A.). Der Sohn des Klägers habe zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes das Gleis also schon fast überquert gehabt (Protokoll vom 20.10.2015, Seite 5, Bl. 307 d. A.).
Nach dem Gutachten ist insgesamt ein Bewegungsablauf beim Anstoß wie folgt wahrscheinlich: Es muss eine schnelle Bewegung vorgelegen haben, bei der der Sohn des Klägers den Oberkörper nach vorne gebeugt hatte, entweder ein schnelles Laufen oder auch eine Stolperbewegung. Der Körperkontakt erfolgte mit dem linken Bein an dem Räumschild in Fahrtrichtung links – dort ist eine Wischspur dokumentiert – durch den Anstoß wurde der Körper in eine Rotationsbewegung entgegen dem Uhrzeigersinn nach links versetzt, so dass es dann zu einem irgendwie gearteten Kontakt des rechten Beines mit dem Fahrwerk der Lokomotive gekommen ist, der zu einem Abfahren oder Abriss des rechten Beines geführt hat. Gewebeanhaftungen sind an dem Metallkasten hinter dem linken Räumschild dokumentiert.
Für ein gezieltes Herbeiführen eines Vollkontaktes mit dem Schienenbus sei die Position des Geschädigten im Ergebnis ungeeignet gewesen (GA vom 29.09.2014, Seite 42, Bl. 232 d. A.).
Der Sachverständige Prof. Dr. B. hatte angesichts dessen bei seiner Anhörung eigentlich keinen Zweifel, dass der Sohn des Klägers über das Gleis gelaufen, dabei möglicherweise gestolpert ist, beim Laufen den Oberkörper aber schon nach vorne geneigt hatte; einen „Hechtsprung“ hielt er für unwahrscheinlich, da es dabei zu einer anderen Rotation und zu einem deutlich anderen Verletzungsbild gekommen wäre; ebenso hätte ein Sprung aus dem Stand zu anderen Verletzungen geführt.
Am wahrscheinlichsten erschien ihm, dass der Geschädigte zum Zeitpunkt des Anstoßes in einer Vorwärtsbewegung nach vorne schräg links noch auf dem linken Bein stand und das rechte Bein bereits im Vorwärtsschwung war, und zwar mit nach vorne geneigtem Oberkörper.
Prof. Dr. B. – und auch der Mitgutachter Prof. Dr. P. – hatten aus diesem Geschehensablauf nicht in ausreichendem Umfang Anhaltspunkte dafür, dass sich der Geschädigte absichtlich bzw. zielgerichtet vor den Zug geworfen hätte (vgl. zum Ganzen Anhörung vom 20.10.2015, Protokoll Seiten 4 – 6 und Seite 9, Bl. 306/308 und 311 d. A.).
Der Senat folgt dieser Einschätzung vollumfänglich. Der gerichtsbekannt sehr erfahrene Gutachter hat den Akteninhalt einschließlich der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte und unter Beiziehung (über den Senat und im Einverständnis der Parteien) weiterer polizeilich gefertigter Lichtbilder sowie ärztlicher Befunde sorgfältig ausgewertet, sich durch den Ortstermin konkrete Kenntnis von den Örtlichkeiten verschafft und auf dieser breiten Beurteilungsgrundlage eine in sich schlüssige, plausible und ohne weiteres nachvollziehbare sachverständige Einschätzung vorgenommen, mit welchem Bewegungsablauf sich das dokumentierte Verletzungs- und Spurenbild am ehesten in Einklang bringen lässt. Der Senat teilt die Schlussfolgerung des Sachverständigen, dass vor allem die Feststellung, dass der Geschädigte mit einem großen Teil seines Körpers beim Zusammenprall bereits am Zug vorbei war, gegen ein zielgerichtetes Laufen vor diesen in der Absicht oder mit billigender Inkaufnahme, dass er von diesem erfasst wird, spricht. Der Sohn des Klägers hat es ja fast noch geschafft, dem Zusammenstoß bzw. schweren Verletzungen durch diesen zu entgehen, er wurde lediglich noch im Beinbereich vom Regionalzug erfasst, wobei es zur Abtrennung des rechten Beines vermutlich aufgrund der Rotationsbewegung und einem unglücklichen Verhaken dieses Beines am Fahrwerk des Schienenfahrzeuges kam. Bei bestehender Suizidabsicht wäre nach Auffassung des Senats aller Wahrscheinlichkeit nach zu erwarten, dass der Betroffene sich vor den Zug wirft bzw. auf die Gleise vor den Zug läuft, um einen Vollkontakt herbeizuführen – und nicht soweit wie möglich über die Gleise hinweg am Zug vorbei. In Anbetracht dessen kann der Senat der Angabe des Zugführers L., dass nach seiner Erinnerung der Geschädigte mit vorgestreckten Armen auf das Gleisbett zugelaufen ist – eine eher unübliche Laufhaltung – keine ausschlaggebende Bedeutung beimessen.
Die unfallanalytischen Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen werden durch die kritischen Stellungnahmen des Privatgutachters der Beklagten Prof. Dr. D. C. vom 26.12.2014 (Anlage zum Schriftsatz vom 07.01.2015, Bl. 245/252 d. A.) und vom 09.07.2015 (Anlage zum Schriftsatz vom 27.07.2015, Bl. 290/291 d. A.) sowie durch dessen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vom 20.10 2015, zu der ihn die Beklagte zum Zwecke der Gegenüberstellung mitgebracht hat, nicht in Frage gestellt.
Der Privatgutachter stimmt in der zentralen Feststellung, dass keine Kollision in aufrechter Körperhaltung vorlag und dass sich Beckenregion, Rumpf, Hals und Kopf des Geschädigten zur Zeit der Erstkollision bereits südlich des Gleisbetts befunden haben müssen, ohnehin mit dem Gerichtsgutachter überein. Auch hält er seine eigene Theorie einer vermuteten Suizidhandlung im Ergebnis lediglich für „deutlich wahrscheinlicher“ als den Erklärungsversuch des Sachverständigen und hat Letzteren als Möglichkeit nicht für ausgeschlossen erachtet. Seine Analyse des Ablaufs aus biomechanischer Sicht, wonach er einen Hechtsprung des Geschädigten mit annähernd horizontaler Stellung der (gesamten) Körperlängsachse beim Aufprall annimmt sowie eine anschließende Drehung des Körpers und Amputation des rechten Beines durch Überrollen mit einem Zugrad (vgl. PrivatGA vom 26.12.2014 Seiten 29, 30), ist zudem für den Senat aus verschiedenen Gründen erheblich weniger plausibel und überzeugend als die des gerichtlich bestellten Sachverständigen.
Der Privatsachverständige hatte schon eine weit weniger umfassende Beurteilungsgrundlage als der Gerichtsgutachter zur Verfügung, ihm wurden lediglich von der Beklagten bestimmte Unterlagen überlassen, in denen insbesondere zwar die Aussagen des Zeugen L. vor der Polizei, nicht jedoch dessen – maßgebliche – Aussage vor dem Landgericht gemäß Protokoll enthalten waren, und der auch die Fotodokumentation des Gerichtsgutachters vom Ortstermin lediglich als „mangelhafte Abbildungskopien“ erhielt. Seine Analyse knüpft gerade an die Aussagen des Zeugen L. über einen von diesem beobachteten „Hechtsprung“ – den er vor Gericht so nicht bestätigt hat – sehr eng an, er sieht sich offenbar an diese Beobachtung gebunden und macht einen solchen Hechtsprung zur Grundlage seiner Beurteilung (vgl. Seiten 35, 36 PrivatGA vom 26.12.2014). Der Privatgutachter sieht bei seiner Analyse selbst, dass schwer zu erklären ist, wie das abgetrennte rechte Bein nach der Überrollung auf die linke (südliche) Außenseite des Gleisbettes gelangt sein soll, wo es laut Ermittlungsbericht der Bundespolizei vom 08.08.2011 im Gras liegend von der Feuerwehr D. geborgen wurde, in Höhe der Gewebeanhaftungen an der südlichen Schiene (Bl. 45 d.EA). Für seine Mutmaßung, dass am ehesten noch nachvollziehbar sei, dass ein Feuerwehrmann das zwischen den Gleisen aufgefundene Bein zunächst ins Gras zum Verletzten gelegt hätte, besteht keinerlei Anhaltspunkt, sie ist rein spekulativ; in der mündlichen Verhandlung hat der Privatgutachter dann auch eingeräumt, dass ihm der Fundort des Beins letztlich schleierhaft ist. Wie der gerichtliche Sachverständige im Ergänzungsgutachten und in der mündlichen Verhandlung einleuchtend erläutert hat, spricht die Spurenlage (vgl. insbesondere bei der Anhörung vor dem Senat erörterte Lichtbilder der Bundespolizei und der PI D.) auch insoweit gegen die Annahme eines Überrollens des Beins, als Gewebeanhaftungen ausschließlich an der Außenseite des Gleises gesichert wurden, nicht auch an der Innenseite. Spuren dort wären aber auch in Anbetracht der Form des Radkranzes zu erwarten gewesen, an der Radinnenseite seien ebenfalls keine Spuren dokumentiert. Der gerichtliche Sachverständige hat anhand der Spurenlage darüber hinaus einen Abriss des Beines durch das Fahrwerk des Zuges auch deshalb für wahrscheinlicher gehalten als ein Überrollen, da Gewebeanhaftungen an dem Metallkasten hinter dem linken Räumschild dokumentiert wurden (vgl. Bl. 28/29 d.EA) und eine Abscherung des rechten Beines, das sich nach der Rotation irgendwie verhakt haben müsse, im Bereich dieses Bauteils durchaus vorstellbar sei. Im Übrigen sei dieser Streitpunkt – Überrollen des Beines oder sonstige Abtrennung – für die Beurteilung im Ergebnis ohnehin nicht entscheidend.
Der gerichtliche Sachverständige hat im Ergänzungsgutachten und insbesondere bei seiner Anhörung im Termin vom 20.10.2015 sämtliche Einwendungen des Privatgutachters gegen seine Beurteilung nachvollziehbar und überzeugend ausgeräumt, wie eben geschildert. Auch zu den Einwänden des Privatgutachters hinsichtlich der aus den Akten nicht sicher klärbaren Frage, inwieweit schon eine Abbremsung des Zuges stattgefunden hatte, hat er plausibel Stellung genommen – davon, dass der Zug im Zeitpunkt des Erstkontaktes schon etwas eingebremst war, ist er ausdrücklich ausgegangen. Die nochmalige Vernehmung des Zeugen L. vor dem Senat, zu der der Sachverständige beigezogen wurde, um seine Erwägungen ggf. überprüfen zu können, hat ihn zu keiner Änderung seiner Einschätzung veranlasst.
Da nach alledem aus dem Unfallablauf selbst ein auch nur halbwegs sicherer Rückschluss auf eine Suizidabsicht des Geschädigten nicht möglich ist, müssten für den von der Beklagten zu erbringenden Beweis der Freiwilligkeit zumindest belastbare und massive Anhaltspunkte für eine bestehende Suizidalität des Sohnes des Klägers zum Unfallzeitpunkt festgestellt werden können, um in einer Gesamtschau doch noch zu einer entsprechenden Überzeugung zu gelangen. Das ist aber ebenfalls nicht der Fall.
Direkte Indizien für eine Suizidabsicht liegen, wie oben bereits ausgeführt, nicht vor. Das Landgericht hat lediglich im Rahmen der Würdigung der weiteren Zeugenaussagen zum Verhalten des Geschädigten vor dem Geschehen gewisse Anhaltspunkte dafür gesehen, dass der Geschädigte wenige Stunden vor dem Vorfall in einer emotional schlechten Lage war bzw. sich in einer emotional angespannten Lage befand. So wurde zwar von Zeugen bekundet, dass er in der Nacht von Samstag auf Sonntag „gut drauf“ gewesen sei, er hatte aber dem unbeteiligten Zeugen Z. am frühen Morgen mitgeteilt, dass es ihm nicht gutgehe und diesem von Ärger mit seinem Vater am Vortag wegen seines Weggehens trotz Arbeit zuhause erzählt. Der Zeuge hatte sich Sorgen um den Geschädigten gemacht und vergeblich versucht, ihn nach Hause zu schicken. Es gab nach weiteren Zeugenaussagen auch gewisse Differenzen in der Urlaubsplanung der Familie; schließlich mutete das vom Geschädigten gegenüber dem Zeugen R. gezeigte Verhalten etwas seltsam an. Im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des Ersturteils Bezug genommen. Das Landgericht hat daraus allerdings nicht auf eine latente Suizidalität und einen geplanten Geschehensablauf geschlossen, sondern ist in einer Gesamtschau in Verbindung mit der Aussage des Lokführers von einem Spontanentschluss mit tragischen Auswirkungen ausgegangen.
Der Senat hat von einer nochmaligen Vernehmung auch dieser Zeugen abgesehen, da er die Aussagen so, wie sie das Landgericht ausweislich der Entscheidungsgründe verstanden hat, auch seiner Beurteilung zugrunde legt. Der Senat stellt weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe der Zeugen in Frage noch will er die Glaubhaftigkeit der Aussagen anders als das Landgericht bewerten. Es bedarf daher keines persönlichen Eindrucks dieser Zeugen durch den Senat (vgl. BGH, Urteil vom 11.06.2015 – I ZR 217/14 -, Rn. 9 bei juris).
Der Senat stimmt aber mit der sachverständigen Einschätzung des rechtsmedizinischen Gutachters Prof. Dr. P. in den Gutachten vom 29.09.2014 (vgl. insbesondere Seiten 13, 14 und 40, Bl. 203/204 und 230 d. A.), vom 29.05.2015 (Seite 14, Bl. 281 d. A.) und bei der Anhörung am 20.10.2015 (Protokoll Seiten 9, 10, Bl. 311/312 d. A.) überein, dass diese vom Landgericht festgestellten Anhaltspunkte zwar möglicherweise auf eine sich entwickelnde Suizidalität hinweisen könnten, dies aber nicht ausreicht, um hieraus auf einen Zustand der Suizidalität zu schließen, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass psychiatrische Konsiliaruntersuchungen im Krankenhaus S. am 19.08.2011 und am 30.08.2011, also 12 Tage bzw. etwa 3 Wochen nach dem Vorfall, keine Anhaltspunkte einer etwaigen Suizidalität ergaben, eine solche für die konsiliarisch tätigen Psychiater vielmehr auszuschließen war. Der Sachverständige sah daher keine belastbaren Anhaltspunkte für eine bestehende Suizidalität. Auf den Einwand des Privatgutachters der Beklagten, dass dabei das ADHS des Klägers nicht berücksichtigt worden sei, das statistisch zu einem erhöhten Risiko für Suizidversuche um das 2,5-fache führen würde, hat er zu Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Wahrscheinlichkeitsbetrachtung eine individuale erhöhte Suizidalität beim Sohn des Klägers nicht belegen könne. Die statistisch höhere Wahrscheinlichkeit sei jedenfalls nicht hinreichend belastbar, um hieraus auf einen Suizidversuch in einem konkreten Fall zu schließen.
Der Senat teilt diese Bewertung. Nachgewiesen ist letztlich nur, dass den Sohn des Klägers einige Stunden vor dem Geschehen jugendübliche und letztlich belanglose Streitigkeiten mit seinem Vater beschäftigten, er die Nacht zuvor bei Festivitäten „durchgemacht“ und dabei auch zumindest geringe Mengen Alkohol zu sich genommen hatte, er sich am Morgen nicht besonders rational und teils seltsam benahm und für ihn rein statistisch gesehen aufgrund seines ADHS ein erhöhtes Suizidalitätsrisiko vorlag. Konkrete Hinweise auf Suizidalität oder auch nur für eine besondere psychische Labilität im Zeitraum vor und nach dem 07.08.2011 wurden weder durch Zeugenaussagen noch ansonsten belegt – insbesondere nicht bei gezielten psychiatrischen Untersuchungen nur kurze Zeit später.
Der Senat hält es auf dieser Grundlage – in Zusammenschau mit dem Unfallablauf – lediglich für möglich, dass der Sohn des Klägers den Zusammenstoß mit dem Zug in einem Spontanentschluss zu einem Suizid und damit gewollt und zielgerichtet – freiwillig – herbeigeführt hat, er ist aber keinesfalls mit hinreichender Sicherheit davon überzeugt, dass es so war; er hält es nicht einmal für überwiegend wahrscheinlich.
Der Vollständigkeit halber wird ergänzend darauf hingewiesen, dass die in den Ermittlungsakten als Vermutung des Klägers erwähnte und vor allem vom Privatgutachter angesprochene denkbare Variante einer Mutprobe durch Überlaufen des Gleises kurz vor einem herannahenden Zug zum Einen – mangels konkreter Anhaltspunkte oder Zeugen dafür – zwar wenig naheliegend erscheint, allerdings auch denkbar wäre, dass sich der Geschädigte damit in seinem übernächtigten Zustand nur selbst etwas beweisen wollte. Zum Anderen würde ein solcher Geschehensablauf aber aus rechtlichen Gründen nicht zur Annahme einer Freiwilligkeit der Gesundheitsbeschädigung führen. Denn dann läge zwar eine sehr riskante Verhaltensweise vor, allerdings eine, bei der der Betreffende typischerweise darauf vertraut, dass er „heil davonkommt“, sich also das eingegangene Risiko gerade nicht verwirklicht. Bei einer derartigen Mutprobe könnte also gerade nicht davon ausgegangen werden, dass es billigend in Kauf genommen wurde, tatsächlich vom Zug erfasst zu werden und dabei schwerste Verletzungen oder sogar den Tod zu erleiden.
2. Die Beklagte ist auch nicht – wie (nur) erstinstanzlich hilfsweise eingewandt – leistungsfrei gemäß Ziffer 5.1.1 V. AUB 2006, wonach kein Versicherungsschutz besteht für Unfälle durch Geistes- oder Bewusstseinsstörung, auch soweit diese auf Trunkenheit beruhen. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten kommt hier eine Wahlfeststellung nicht in Betracht, da nicht alternativ lediglich zwei Geschehensabläufe ernsthaft in Betracht kommen, einerseits Suizidabsicht, andererseits Unfall durch Geistes- oder Bewusstseinsstörung. Der Begriff meint eine krankheitsbedingte oder auf Alkohol und Drogen oder Ähnliches zurückzuführende Störung der Aufnahme- oder Reaktionsfähigkeit, so dass der Geschädigte den Anforderungen der konkreten Gefahrenlage nicht mehr gewachsen ist. Natürliche Störungen wie Übermüdung oder Schlaftrunkenheit reichen nicht aus, wenn sie nicht auf Alkoholeinfluss, Medikamenten oder auf krankhaften Anlagen beruhen. Beweispflichtig ist der Versicherer, hier also die Beklagte (vgl. Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl., Rn. 3, 5 ff. zu Ziffer 5 AUB 2010). Diese hat vorliegend einen solchen Beweis nicht ansatzweise geführt. Der Kläger hat lediglich einen geringen Alkoholkonsum seines Sohnes vor dem Vorfall eingeräumt, mehr haben auch die Zeugenaussagen nicht belegt. So hat der Zeuge Z. bekundet, dass er bei dem Gespräch in der Früh schon festgestellt habe, dass der Geschädigte etwas getrunken habe, er ihn aber nicht als betrunken bezeichnen würde. Der Zeuge Rieger meinte, es nicht mehr genau zu wissen, er meine, der Geschädigte sei zu der Zeit, als er ihn begleitete, „wohl eher betrunken“ gewesen. Den medizinischen Unterlagen (insbesondere Bericht des Klinikums Schwabing vom 20.09.2011, Anlage K 17) ist zu dieser Frage nichts zu entnehmen. Eine Alkoholisierung in einem bestimmten und erheblichen Ausmaß ist damit weder gesichert noch lässt sie sich aus den Umständen schließen. Die teils seltsam anmutenden Verhaltensweisen des Geschädigten in der Nacht und am Morgen vor dem Unfall können ebenso gut auf allgemeine Übermüdung zurückzuführen sein. Der Unfallablauf selbst lässt ebenfalls keinen sicheren Rückschluss darauf zu, dass er – falls es kein Suizidversuch war – sich nur durch eine Geistes- oder Bewusstseinsstörung erklären ließe.
Die Unfallstelle war, wie oben bereits ausgeführt, zwar grundsätzlich übersichtlich und einsehbar. Der Geschädigte kam aber hinter einem Trafohäuschen hervor auf das Gleisbett zugelaufen, also von einer Stelle, an der er gerade keinen freien Blick auf den sich annähernden Zug hatte. Wann genau der Zeuge L. das von ihm bekundete Warnsignal abgegeben hat, konnte in der Beweisaufnahme nicht geklärt werden – die Annahme, dass er dies tatsächlich tat, beruht darüber hinaus allein auf seiner Aussage dazu. Möglicherweise fand dies erst statt, als es für den Geschädigten für ein Abstoppen bereits zu spät war und dieser lieber die Flucht nach vorn versuchte – die ihm nur knapp nicht mehr gelang. Das Übersehen des herannahenden Zuges oder eine Fehleinschätzung von dessen Geschwindigkeit sind angesichts der Umstände auch ohne Bewusstseinsstörung im Sinne der Klausel, nämlich durch Unachtsamkeit oder solche gepaart mit natürlicher Übermüdung erklärbar. Schließlich steht als weitere, nicht rein theoretische Geschehensalternative auch noch ein Überqueren der Gleise knapp vor dem Zug als Mutprobe im Raum, die eine versicherte Variante darstellen würde, vgl. unter Ziffer 1. am Ende.
Nach alledem ist weder der Ausschlusstatbestand bewiesen noch der Nachweis geführt, dass der Unfall nur durch Geschehensabläufe zustande gekommen sein kann, die zur Leistungsfreiheit des Versicherers führen.
3. Die mit dem Leistungsantrag (Ziffern I. und II. des Antrags des Klägers in der Berufung) eingeklagten Ansprüche des Klägers sind der Höhe nach weitgehend begründet.
a) Der Kläger hat wie in der Klageschrift und der Berufungsbegründung berechnet Anspruch auf eine Invaliditätsleistung von 221.000,00 € gemäß Ziffer 2.1.2.2.1 Gliedertaxe für Verlust des Beines über der Mitte des Oberschenkels 70% gemäß Anhang zu AUB „Ziffer B. 400 Prozent“: 200% der Versicherungssumme von 110.500,00 €.
Die Beklagte hat hiergegen keine Einwendungen erhoben.
b) Der Kläger hat weiter wie in der Klageschrift und der Berufungsbegründung berechnet Anspruch auf Krankenhaustagegeld für insgesamt 174 Tage in Höhe von insgesamt 11.557,50 €.
Diesem Anspruch ist die Beklagte nur mit dem Einwand entgegengetreten, dass für die Zeit vom 07.08. bis 26.09.2011 keine Bescheinigung über einen stationären Krankenhausaufenthalt vorgelegt sei. Daraufhin hat der Kläger Arztbericht vom 26.09.2011 über den stationären Aufenthalt im betroffenen Zeitraum (Anlage K 14) zu den Akten gereicht.
c) Ein Anspruch auf Zinsen für diese Positionen steht dem Kläger erst ab 08.02.2012 zu, nicht schon ab 23.11.2011. Denn nach den zum Schriftverkehr vorgelegten Anlagen hatte der Kläger erstmals mit Schreiben vom 07.02.2012 (Anlage K 5) diese Positionen beziffert von der Beklagten eingefordert, nicht bereits zuvor mit Schreiben vom 07.10.2011 (Anlage K 4), mit dem lediglich Ansprüche dem Grunde nach erhoben wurden. Auf das Schreiben vom 07.02.2012 hat die Beklagte mit Schreiben vom 08.02.2012 eine Leistungserbringung endgültig und bestimmt abgelehnt, so dass ab da Verzug gemäß § 286 Abs. 3 Nr. 2 BGB anzunehmen ist.
d) Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten kann der Kläger nicht beanspruchen. Denn die anwaltschaftliche Vertretung des Klägers wurde – wie die Beklagte berechtigt eingewandt hat – bereits mit Schreiben vom 07.10.2011 (Anlage K 4) der Beklagten angezeigt, als sich diese noch nicht in Verzug befand. Es fehlt daher an der Kausalität des Verzugs für die Entstehung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Ausweislich des Schreibens wurden die Prozessbevollmächtigten beauftragt, da der Geschädigte bzw. dessen Eltern bei der Abwicklung dieses traumatischen Ereignisses unterstützt werden wollten.
e) Dagegen steht dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auf 99,96 € Attestkosten (Anlage K 6) nebst Prozesszinsen (§ 291 BGB) hieraus zu, und zwar gemäß Ziff. 9.1 Victoria AUB 2006, wonach ärztliche Gebühren, die zur Begründung des Leistungsanspruchs entstehen, übernommen werden. Das Attest (Anlage K 3) bestätigt stationäre Krankenhauszeiten und nimmt zum Invaliditätsgrad – wenn auch unter der unzutreffenden Bezeichnung als Minderung der Erwerbsfähigkeit – Stellung. Der abgerechnete Betrag erscheint zwar hoch, aber nicht so hoch, dass ihn der der Kläger aus seiner Sicht für nicht angemessen hätte ansehen müssen.
4. Die Berufung bezüglich des Feststellungsantrags (Ziffer III. des Antrags des Klägers in der Berufung) ist hingegen unbegründet, da dieser unzulässig ist. Der Kläger hat nicht dargetan, dass er – zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung – das gemäß § 256 ZPO erforderliche rechtliche Interesse an der begehrten Feststellung hat. Zur Begründung dieses Interesses hat der Kläger vorgetragen, dass sich Verschlechterungen im Gesundheitszustand des Sohnes des Klägers ergeben könnten, die dann zu weiteren Ansprüchen aus dem Versicherungsvertrag führen könnten, insbesondere könnten weitere Krankenhausaufenthalte erforderlich werden oder die MDE (gemeint offensichtlich Invaliditätsgrad) sich erhöhen, wenn eine Revisionsamputation erforderlich würde.
Da inzwischen weit mehr als 3 Jahre seit dem Unfall vom 07.08.2011 vergangen sind, sind derartige weitere Ansprüche nicht ersichtlich. Krankenhaustagegeld wird nach Ziffer 2.6.2 V. AUB 2006 längstens für drei Jahre, vom Unfalltag an gerechnet, bezahlt; eine Neubemessung des Invaliditätsgrades ist gemäß Ziffer 9.4 Victoria AUB 2006 ebenfalls längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall möglich.
Ergänzender Vortrag hierzu ist durch den Kläger trotz gerichtlichen Hinweises mit Verfügung vom 10.08.2015 nicht erfolgt.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 Abs. 2 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf §§ 3 ZPO, 47, 48 GKG und entspricht der erstinstanzlichen Festsetzung.


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