Verkehrsrecht

Sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung einer Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  11 CS 17.223

Datum:
18.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV FeV § 11 Abs. 8 S. 1, § 13 S. 1 Nr. 2 b, § 14, § 46 Abs. 3
StVG StVG § 28 Abs. 3, § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, Abs. 6 S. 1, Abs. 7 S. 1, Abs. 8 S. 1, § 65 Abs. 3 Nr. 2
VwGO VwGO § 146 Abs. 4 S. 3
StVG StVG § 3 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Eine ordnungsgemäße Beschwerdebegründung liegt nur vor, wenn sich aus den fristgerecht dargelegten Gesichtspunkten die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses und die Notwendigkeit seiner Aufhebung ergeben. Ausgehend von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts muss der Beschwerdeführer aufzeigen, in welchen Punkten und weshalb sie aus seiner Sicht nicht tragfähig ist. Das setzt voraus, dass er den Streitstoff prüft, sichtet und rechtlich durchdringt und sich mit den Gründen des angefochtenen Beschlusses befasst (vorliegend bejaht in einem Fall, in welchem erstinstanzlich gar keine Auseinandersetzung mit Tilgungsvorschriften erfolgt ist). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 26 S 16.4697 2016-12-20 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 20. Dezember 2016 wird in Nr. I aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Nrn. 1 und 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 16. September 2016 wiederhergestellt.
II.
Die Antragsgegnerin trägt unter Abänderung der Nr. II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts die Kosten in beiden Rechtszügen.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1 und C1E (mit Unterklassen).
Mit Schreiben vom 7. August 2015 übermittelte das Kraftfahrt-Bundesamt der Antragsgegnerin einen Auszug aus dem Fahreignungsregister. Daraus geht hervor, dass der Antragsteller verschiedene Ordnungswidrigkeiten begangen hat.
Tatdatum
Ordnungswidrigkeit
Entscheidung
Rechtskraft
Tilgung
14.3.2011
Geschwindigkeitsüberschreitung
24.3.2011
12.4.2011
12.2.2016
7.9.2011
Rotlichtverstoß
13.10.2011
1.11.2011
12.2.2016
26.11.2012
Alkohol
17.12.2012
3.1.2013
12.2.2016
4.2.2013
Vorfahrt missachtet
7.5.2013
25.5.2013
12.2.2016
1.12.2013
Geschwindigkeitsüberschreitung
24.1.2014
12.2.2014
12.2.2016
20.2.2015
Alkohol
3.3.2015
22.7.2015
22.7.2020
Mit Schreiben vom 15. Februar 2016 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller auf, innerhalb von drei Monaten ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, da er wiederholt unter Alkoholeinfluss am Straßenverkehr teilgenommen habe (§ 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV).
Da der Antragsteller kein Gutachten beibrachte, entzog ihm die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 16. September 2016 die Fahrerlaubnis aller Klassen, ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die unverzügliche Abgabe des Führerscheins und die sofortige Vollziehung an. Der Antragsteller habe das zu Recht angeordnete Gutachten nicht beigebracht. Die Fahrerlaubnis sei daher nach § 11 Abs. 8 FeV zu entziehen. Der Antragsteller hat seinen Führerschein am 27. September 2016 abgegeben.
Über die gegen den Bescheid vom 16. September 2016 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht München noch nicht entschieden (Az. M 26 K 16.4696). Den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. Dezember 2016 abgelehnt. Der Bescheid sei rechtmäßig. Die Frist von drei Monaten zur Vorlage eines Gutachtens sei angemessen. Es sei Sache des Antragstellers, einen Dolmetscher zu beauftragen, wenn er die deutsche Sprache nicht hinreichend verstehe.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt. Er macht geltend, er nehme seit einem Jahr keinen Alkohol mehr zu sich. Der Konsum liege lange zurück und sei gering gewesen. Er sei geeignet zur Teilnahme am Straßenverkehr. Die Feststellungen der Antragsgegnerin beruhten auf Vermutungen, für die es keine Tatsachengrundlage gebe. Der Sachverhalt sei nicht ordnungsgemäß festgestellt worden. Die Verhältnismäßigkeit sei nicht gewahrt. Mit Schriftsatz vom 26. April 2017 führte er noch aus, die Zuwiderhandlungen seien nicht mehr verwertbar nach § 29 StVG. Es fehle daher an den Voraussetzungen für eine Gutachtensanordnung.
Die Antragsgegnerin macht geltend, die Beschwerde sei unzulässig, da die Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht beachtet seien. Der Schriftsatz vom 26. April 2017, der erstmals das Problem der Verwertbarkeit der Ordnungswidrigkeiten anspreche, sei nicht innerhalb der Begründungsfrist eingereicht worden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Gutachtensanordnung und der Bescheid sind rechtswidrig, da die Ordnungswidrigkeit vom 26. November 2012 zum Zeitpunkt der Gutachtensanforderung am 15. Februar 2016 nicht mehr verwertbar war.
1. Die Beschwerde genügt gerade noch den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Nach dieser Vorschrift muss die Beschwerdebegründung einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen.
Eine ordnungsgemäße Beschwerdebegründung liegt nur vor, wenn sich aus den fristgerecht dargelegten Gesichtspunkten die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses und die Notwendigkeit seiner Aufhebung ergeben (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 146 Rn. 41). Ausgehend von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts muss der Beschwerdeführer aufzeigen, in welchen Punkten und weshalb sie aus seiner Sicht nicht tragfähig ist. Das setzt voraus, dass er den Streitstoff prüft, sichtet und rechtlich durchdringt und sich mit den Gründen des angefochtenen Beschlusses befasst. An der nötigen inhaltlichen Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung fehlt es, wenn der Beschwerdeführer lediglich sein Vorbringen aus erster Instanz wiederholt oder sich mit pauschalen, formelhaften Rügen begnügt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 146 Rn. 22). Vielmehr müssen die die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragenden Rechtssätze oder die dafür erheblichen Tatsachenfeststellungen mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt werden (VGH BW, B.v. 1.7.2002 – 11 S 1293/02 – NVwZ 2002, 1388).
Im vorliegenden Fall ist diesen Anforderungen entsprochen. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Frist zur Gutachtensvorlage hinreichend bestimmt gewesen sei und es Sache des Antragstellers sei, sich um einen Dolmetscher zu kümmern. Die Tilgungsvorschriften hat es nicht erörtert. Eine Auseinandersetzung mit dem Beschluss war daher hinsichtlich der Frage der Verwertbarkeit der Ordnungswidrigkeiten nicht veranlasst. Demgegenüber hat der Antragsteller schon mit seiner fristgerechten Beschwerdebegründung vom 10. Februar 2017 vorgetragen, der Konsum liege lange zurück und sei gering gewesen. Ebenfalls hat er darauf hingewiesen, dass es für die Feststellungen der Antragsgegnerin keine Tatsachengrundlage gebe und der Sachverhalt nicht ordnungsgemäß festgestellt worden sei. Diesen Vortrag konnte er mit Schriftsatz vom 26. April 2017 noch ergänzen und auf die Vorschrift des § 29 StVG verweisen.
2. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl S. 310), zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Mai 2016 (BGBl I S. 1217), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl S. 1980), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2015 (BGBl I S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV, wer das Führen von Kraftfahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann (Alkoholmissbrauch im fahrerlaubnisrechtlichen Sinn). Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV bestehen Zweifel an der Fahrgeeignetheit, wenn wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss begangen wurden. Die Fahrerlaubnisbehörde muss dann die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anordnen. Bringt der Betreffende das Gutachten nicht fristgerecht bei, kann nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf seine Ungeeignetheit geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist aber nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78).
Im vorliegenden Fall ist die Gutachtensanordnung rechtswidrig, da zum Zeitpunkt ihres Ergehens am 15. Februar 2016 die Ordnungswidrigkeit vom 26. November 2012 schon getilgt war und damit nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG (§ 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a.F.) nicht mehr zum Nachteil des Antragstellers verwertet werden durfte. Nach § 65 Abs. 3 Nr. 2 StVG sind Entscheidungen, die nach § 28 Abs. 3 StVG in der bis Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung im Verkehrszentralregister gespeichert worden sind, bis zum Ablauf des 30. April 2019 nach den Bestimmungen des § 29 in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung zu tilgen. Nach § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a.F. sind Entscheidungen wegen einer Ordnungswidrigkeit nach zwei Jahren zu tilgen. Nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a.F. wird die Tilgung einer Eintragung gehemmt, solange noch andere Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 StVG a.F. eingetragen sind. Hier haben die Eintragungen der weiteren Ordnungswidrigkeiten vom 4. Februar 2014 und vom 1. Dezember 2014 die Tilgung der Zuwiderhandlung vom 26. November 2012 nach zwei Jahren zwar gehemmt. Allerdings ist die Tilgungsfrist für alle vor der Rechtsumstellung zum 1. Mai 2014 begangenen Ordnungswidrigkeiten am 12. Februar 2016 abgelaufen, da am 12. Februar 2014 die letzte dieser Zuwiderhandlungen rechtskräftig geahndet worden ist. Die weitere Ordnungswidrigkeit vom 20. Februar 2015 ruft nach dem seit 1. Mai 2014 geltenden Recht keine Tilgungshemmung mehr hervor. Das Kraftfahrt-Bundesamt hat das Tilgungsdatum 12. Februar 2016 auch zutreffend berechnet und in die Auskunft aufgenommen.
3. Der Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, Anh. § 164 Rn. 14).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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