Verkehrsrecht

Unterbrechung des dienstunfallrechtlich geschützten Weges durch privat veranlasstes Aussteigen

Aktenzeichen  3 ZB 15.1521

Datum:
11.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 53480
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBeamtVG Art. 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1
SGB VII § 8 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 124 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Der Weg von der Familienwohnung zur Dienststelle ist nach Art. 46 BayBeamtVG nicht schlechthin geschützt, sondern der Unfallschutz erfasst nur das wesentlich durch den Dienst gesetzte Gefahrenrisiko der Fortbewegung auf der Wegstrecke (Teilnahme am Verkehr). (redaktioneller Leitsatz)
2. Will der Beamte sein Fahrzeug verlassen, um sich das Kennzeichen des Fahrzeugs eines anderen Fahrers zu notieren, um eine aus seiner Sicht erlittene Unbill (Beleidigung und Nötigung) strafrechtlich aufarbeiten zu können, obwohl sein Weg zur Dienststelle durch das Versetzen des gegnerischen Fahrzeugs frei geworden ist, eröffnet er ausschließlich aus privaten Motiven eine neue Handlungssequenz, die sich deutlich von dem bloßen „in den Dienst Fahren“ abgrenzen lässt und nicht mehr als belanglose Unterbrechung qualifiziert werden kann. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

1 K 14.01531 2015-06-09 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Antragsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

1. Der 1952 geborene Kläger, Medizinaldirektor beim P… und zugleich Betriebsarzt für das P… …, erstrebt die Verpflichtung des Beklagten, den am 12. Dezember 2013 auf der Fahrt von seinem Wohnort in E… zu seiner Dienststelle beim P… … in N… eingetretenen Verkehrsunfall als Dienstunfall mit den Dienstunfallfolgen HWS-Distorsionstrauma, Cervikobrachialgie links, Nackenverspannungen, Thoraxprellung links, posttraumatischer ISG-Affektion links und posttraumatischen Tinnitus anzuerkennen.
Dem Unfall lag das folgende Geschehen zugrunde: Dem Kläger kam in der L… Straße in E… ein anderes Fahrzeug entgegen, wobei der Kläger der Auffassung war, dass der andere Fahrer die Einbahnstraße in der falschen Richtung befuhr und deshalb die Lichthupe betätigte. Der Kläger fuhr dann in eine Parklücke, um wegen der geringen Breite der zur Verfügung stehenden Fahrbahn ein Vorbeifahren zu ermöglichen. Als sich beide Kraftfahrzeuge auf etwa gleicher Höhe befanden, entspann sich zwischen den Fahrern eine Diskussion, wer sich verkehrsgerecht verhalten habe. Beide Fahrer kündigten schließlich an, sich das Kennzeichen des jeweils anderen Kraftfahrzeugs zu notieren. Der andere Kraftfahrer fuhr sein Kraftfahrzeug einige Meter weiter und stieg aus, wohl um sich das Kennzeichen des Klägers zu notieren. Nachdem er wieder eingestiegen war und losfuhr, fuhr er nicht vorwärts, sondern rückwärts, weil er – so seine Angaben – vergessen hatte, dass er zuvor den Rückwärtsgang eingelegt hatte. Beim Rückwärtsfahren stieß er gegen das Kraftfahrzeug (Fahrertür) des Klägers. Der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt seine Fahrertür geöffnet und war im Begriff auszusteigen. Durch den Aufprall wurde der Kläger nach seinen Angaben wieder in den Sitz geschleudert.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Der dienstunfallrechtlich geschützte Weg sei bei Eintritt des Unfallereignisses in rechtlich relevanter Weise unterbrochen worden. Die Unterbrechung sei spätestens in dem Zeitpunkt eingetreten, als sich der Kläger nach einer verbalen Auseinandersetzung mit dem späteren Unfallgegner über eine von diesem angeblich begangene Verkehrsordnungswidrigkeit angeschickt habe, aus seinem Pkw auszusteigen, um sich das Kennzeichen des gegnerischen Pkw zu notieren. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung.
2. Der auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils), § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (besondere rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten) und § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (grundsätzliche Bedeutung) gestützte Antrag bleibt ohne Erfolg.
2.1 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts i. S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen auf der Grundlage des Zulassungsvorbringens nicht. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4/03 – juris). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Gemäß Art. 46 Abs. 1 Satz 1 BayBeamtVG ist ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. Nach Art. 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBeamtVG gilt als Dienst auch das Zurücklegen des mit dem Dienst zusammenhängenden Wegs zwischen Familienwohnung und Dienststelle. Obwohl der Weg zur Dienststelle noch keinen Dienst darstellt, hat der Gesetzgeber den Wegeunfall dem Dienstunfall damit gleichgestellt. Die Gleichstellung dient der Erweiterung der Unfallfürsorge des Dienstherrn auf die Gefahren des allgemeinen Verkehrs im öffentlichen Verkehrsraum, denen sich der Beamte aussetzt, um seinen Dienst zu verrichten. Diese Gefahren stammen zwar nicht aus der Risikosphäre des Dienstherrn, sie können aber auch vom Beamten nicht beherrscht oder beeinflusst werden (vgl. BVerwG, U.v. 10.12.2013 – 2 C 7/12 – ZBR 2014, 601 – juris Rn. 6).
Der Weg von der Familienwohnung zur Dienststelle ist nicht schlechthin geschützt. Der Unfallschutz erfasst nur das wesentlich durch den Dienst gesetzte Gefahrenrisiko der Fortbewegung auf der Wegstrecke (Teilnahme am Verkehr). Der Weg ist deshalb nur geschützt, soweit er seine wesentliche Ursache im Dienst hat und andere mit dem Dienst zusammenhängende Ursachen für das Zurücklegen des Weges in den Hintergrund treten (zur vergleichbaren bundesrechtlichen Bestimmung: Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht des Bundes und der Länder, Stand: Sep. 2015, § 31 BeamtVG Rn. 176 m. w. N. und BVerwG, U.v. 9.12.2010 – 2 A 4/10 – ZBR 2011, 306 – juris Rn. 13).
Der Kläger hat sich am 12. Dezember 2013 gegen 8.00 Uhr auf dem nächsten Weg zu seiner Dienststelle in N… befunden und stand somit zunächst unter dem Schutz des Art. 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBeamtVG. Mit dem Versuch, aus seinem Fahrzeug auszusteigen, um sich das gegnerische Kennzeichen zu notieren, hat der Kläger jedoch seinen Weg nicht nur geringfügig unterbrochen und stand damit nicht weiter unter Unfallschutz. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII – die auf die vorliegende Streitigkeit übertragen werden kann (vgl. OVG Niedersachsen, U.v. 28.2.2012 – 5 LB 8/10 – ZBR 2012, 278 – juris Rn. 27 und 34) – ist eine Unterbrechung nur dann als geringfügig anzusehen, wenn sie auf einer Verrichtung beruht, die bei natürlicher Betrachtungsweise zeitlich und räumlich noch als Teil des Wegs nach oder von dem Ort der Tätigkeit in seiner Gesamtheit anzusehen ist. Das ist der Fall, wenn sie nicht zu einer erheblichen Zäsur in der Fortbewegung in Richtung des ursprünglich aufgenommenen Ziels führt, weil sie ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung „im Vorbeigehen“ oder „ganz nebenher“ erledigt werden kann (vgl. BSG, U.v. 4.7.2013 – B 2 U 3/13 R – juris Rn. 15 m. w. N.). Die Rechtsprechung versteht hierunter kurze und belanglose Unterbrechungen, bei denen der Beamte gewissermaßen auf seinem Weg in Bewegung bleibt und nur nebenher andersartig tätig wird (vgl. BSG, U.v. 31.1.1974 – 2 RU 165/72 – juris Rn. 20). Entscheidend ist, ob der Beamte eine neue objektive Handlungssequenz in Gang setzt, die sich deutlich von dem bloßen „in den Dienst fahren“ abgrenzen lässt (vgl. BSG, U.v. 4.7.2013 – B 2 U 3/13 R – juris Rn. 16 zum sozialversicherungsrechtlichen Wegeunfallschutz).
Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Handlungstendenz des Klägers davon geprägt gewesen war, durch das beabsichtigte Aussteigen aus dem Fahrzeug, dem eine verbale Auseinandersetzung mit dem späteren Unfallgegner vorausgegangen war, das Notieren des Kennzeichen des Fahrzeugs des späteren Unfallgegners zu ermöglichen, um eine Ahndung des angeblichen Verkehrsverstoßes des anderen Verkehrsteilnehmers (Befahren einer Einbahnstraße in die falsche Richtung) herbeizuführen.
2.1.1 Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht sei insoweit von einem falschen Sachverhalt ausgegangen. Er habe im verwaltungsgerichtlichen Verfahren schriftsätzlich den Ausführungen des Beklagten, wonach das Verhalten des Klägers nicht mehr der Fortbewegung, sondern der Ahndung eines vermeintlichen Verkehrsverstoßes des anderen Fahrers gedient habe, widersprochen. Er verweist auf seine Zeugenaussage im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen. Dort sei angegeben, dass die Kennzeichennotierung das vermeintlich letzte Mittel gewesen sei, um den anderen Fahrzeugführer nach mehrmaliger Aufforderung, er möge doch bitte weiter fahren und die Weiterfahrt des Klägers ermöglichen, dazu zu bewegen, dies auch endlich zu tun. Die Aussage des Klägers, dass er sich das Kennzeichen notieren werde, wenn der gegnerische Fahrzeugführer nicht weiterfahren würde, habe also der Fortbewegung und damit dem Erreichen des Dienstortes des Antragstellers gedient.
Mit seiner Rüge greift der Kläger die Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts an, ohne ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils aufzuzeigen.
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es ist dabei nicht an die Sichtweise und Sachverhaltswürdigung einer Prozesspartei gebunden. Soweit eine fehlerhafte Sachverhaltswürdigung des Erstgerichts gerügt wird, liegt der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur dann vor, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts augenscheinlich nicht zutreffen oder beispielsweise wegen gedanklicher Lücken oder Ungereimtheiten ernstlich zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 15.2 2016 – 14 ZB 14.1016 – juris Rn. 7). Derartige Fehler bei der verwaltungsgerichtlichen Überzeugungsbildung zeigt der Kläger nicht auf. Solche sind auch nicht ersichtlich. In der Ankündigung des Notierens des Kennzeichens mag zwar ein möglicher „Anreiz“ zur Fortsetzung der Fahrt gesehen werden. Zum Zeitpunkt des Unfalls war der andere Fahrer jedoch bereits zwei bis drei Meter vorgefahren, um sich seinerseits das Kennzeichen des Klägers zu notieren. Erst danach schickte sich der Kläger an, auszusteigen, um sich das Kennzeichen des Fahrzeugs des anderen Fahrers ebenfalls zu notieren. Spätestens in diesem Zeitpunkt ging es aber nicht mehr darum, den anderen Fahrer zum Weiterfahren zu bewegen. Im Übrigen diente das Notieren des Kennzeichens des anderen Fahrzeugs auch nach der Einlassung des Klägers im verwaltungsgerichtlichen Verfahren seiner eigenen Absicherung, da er im Falle eines Rechtsstreits nichts in der Hand gehabt hätte.
2.1.2 Auch mit dem Einwand, das Notieren des Kennzeichens des Fahrzeugs des anderen Fahrers habe jedenfalls eine Verrichtung dargestellt, die gleichsam im Vorbeigehen oder ganz nebenbei habe erledigt werden können und die den Dienstunfallschutz nicht entfallen lasse, kann der Kläger keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils darlegen. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass Art. 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBeamtVG aufgrund der sozialpolitisch motivierten Komponente der Gleichstellung des Wegeunfalls mit dem Dienstunfall restriktiv auszulegen ist und die besonderen Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung maßgebend sind. Dass der Kläger sein Fahrzeug verlassen wollte, war ersichtlich von dem Wunsch geprägt, sich das Kennzeichen des Fahrzeugs des anderen Fahrers zu notieren, um die aus seiner Sicht erlittene Unbill (Beleidigung und Nötigung) strafrechtlich aufarbeiten zu können. Obwohl sein Weg zur Dienststelle durch das Versetzen des gegnerischen Fahrzeugs frei geworden war, hat der Kläger ausschließlich aus privaten Motiven eine neue Handlungssequenz eröffnet, die sich deutlich von dem bloßen „in den Dienst Fahren“ abgrenzen lässt und nicht mehr als belanglose Unterbrechung qualifiziert werden kann. Er hat mit dem Versuch, aus seinem Fahrzeug auszusteigen, eine neue Gefahrensituation geschaffen, die dem Dienstherrn nicht zugerechnet werden kann.
2.2 Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Insoweit verweist der Senat auf seine Ausführungen unter 2.1.
2.3 Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Der Kläger wirft die Frage auf, „ob bei einem Unfall eines Beamten auf dem Weg zu seinem Wohnort zum Dienstort eine dienstunfallrechtlich geschützte Tätigkeit anzunehmen ist, wenn der Beamte zur Fortsetzung des Wegs darauf angewiesen ist, einem anderen Verkehrsteilnehmer damit zu drohen, dessen Fahrzeugnummer zu notieren, wenn dessen Fahrzeug die Weiterfahrt zum Dienstort blockiert“, ferner die Frage, ob „bei einer notwendigen Unterbrechung des Weges, um die Fahrzeugnummer eines gegnerischen Fahrzeugs, das die Weiterfahrt zum Dienst blockiert, von einer Unterbrechung der Fortbewegung auf dem Weg zur Dienststelle auszugehen ist, welche einer Verrichtung dient, die typischerweise „im Vorbeigehen“ oder „ganz nebenbei“ erledigt wird und bei der das Bundesverwaltungsgericht keine rechtlich relevante Unterbrechung des Wegeschutzes annimmt“. Diese Fragen stellen sich in dieser Form im vorliegenden Fall nicht in entscheidungserheblicher Weise, weil die Weiterfahrt zum Unfallzeitpunkt nicht mehr blockiert war. Zudem sind sie nur aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zu beantworten und einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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