Verkehrsrecht

Verkehrsunfall im Kreuzungsbereich: Haftungsverteilung bei unaufklärbarem Rotlichtverstoß

Aktenzeichen  10 U 1886/16

Datum:
30.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 18617
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1
StVO § 37 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
ZPO § 286 Abs. 1

 

Leitsatz

Kommt es im Kreuzungsbereich zur Kollision zweier Fahrzeuge und bleibt unaufklärbar, ob der Verkehrsunfall durch einen Rotlichtverstoß des einen oder des anderen Fahrzeugführers verursacht worden ist, rechtfertigt dies eine Haftungsverteilung von 50:50 (Einzelfallentscheidung). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

19 O 15039/15 2016-04-04 Urt LGMUENCHENI LG München I

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers vom 29.04.2016 gegen das Endurteil des LG München I vom 04.04.2016 durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 II 1 ZPO wegen offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht zurückzuweisen.
Weder eine grundsätzliche Bedeutung der Sache noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Senats aufgrund mündlicher Verhandlung (§ 522 II 1 Nr. 1-3 ZPO); eine solche ist auch nicht aus sonstigen Gründen geboten (§ 522 II 1 Nr. 4 ZPO).
2. Es wird hiermit Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Entscheidung
binnen
einem Monat nach Zustellung dieses Beschlusses
gegeben (§ 522 II 2 ZPO).
Der Hinweis nach § 522 II 2 ZPO dient nicht der Verlängerung der gesetzlichen Berufungsbegründungsfrist (OLG Koblenz NJOZ 2007, 698); neuer Sachvortrag ist nur in den Grenzen der §§ 530, 531 I11 ZPO zulässig (BGHZ 163, 124), wobei die Voraussetzungen des § 531 l! 1 ZPO glaubhaft zu machen sind (§ 531 II 2 ZPO).
3. Nach Sachlage empfiehlt es sich, zur Vermeidung unnötiger weiterer Kosten die Rücknahme der Berufung binnen dieser Frist zu prüfen (im Falle einer Rücknahme ermäßigt sich gem. Nr. 1222 Satz 2 KV-GKG die Gebühr für das Verfahren im Allgemeinen von 4,0 auf 2,0).
4. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 4.864,24 € festzusetzen.

Gründe

I. Eine mündliche Verhandlung ist nicht gem. § 522 I! 1 Nr. 4 ZPO geboten.
Eine „existentielle Bedeutung“ des Rechtsstreits für den Berufungsführer aufgrund der Natur des Rechtsstreits ist vorliegend nicht gegeben: Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Schmerzensgeld sowie Schadensersatzansprüche wegen Sach-und Vermögensschäden im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall.
Eine „existentielle Bedeutung“ des Rechtsstreits ist auch nicht wegen der Höhe des in Streit befindlichen Betrages gegeben, da schon der Berufungsstreitwert unter dem Betrag liegt, für welchen eine Anfechtbarkeit nach § 522 III ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO gegeben ist, woraus zu folgern ist, dass der Rechtsstreit keine die Existenz des Berufungsführers berührende Bedeutung hat.
II. Die Berufung ist auch offensichtlich unbegründet (§ 522 II 1 Nr. 1 ZPO).
1. Eine offensichtliche Unbegründetheit ist gegeben, wenn für jeden Sachkundigen ohne längere Nachprüfung erkennbar ist, dass die vorgebrachten Berufungsgründe (solche sind nur eine Rechtsverletzung [§513 I Var. 1 i. Verb. m. § 546 ZPO], eine unrichtige Tatsachenfeststellung [§ 513 l Var. 2 i. Verb. m. § 529 I Nr. 1 ZPO] oder das Vorbringen neuer berücksichtigungsfähiger Angriffs- und Verteidigungsmittel [§ 513 l Var. 2 i. Verb. m. §§ 529 I Nr. 2, 531 II ZPO]) das angefochtene Urteil nicht zu Fall bringen können (vgl. BVerfG NJW 2002, 814 [815]). Offensichtlichkeit setzt aber nicht voraus, dass die Aussichtslosigkeit gewissermaßen auf der Hand liegt, also nur dann bejaht werden dürfte, wenn die Unbegründetheit der Berufung anhand von paratem Wissen festgestellt werden kann (BVerfG EuGRZ 1984, 442 f.); sie kann vielmehr auch das Ergebnis vorgängiger gründlicher Prüfung sein (vgl. BVerfGE 82, 316 [319 f.]).
2. Dem Senat ist es nicht verwehrt, auf der Grundlage der erstinstanzlichen tatsächlichen Feststellungen ergänzende, das angefochtene Urteil weiter rechtfertigende oder berichtigende Erwägungen anzustellen (OLG Stuttgart VRS 122 [2012] 340; OLG Düsseldorf v. 10.4.2012 – 2 U 3/10 [juris]; OLG Köln v. 2O.4.2012 – 5 U 139/11 [juris]; KG RdE2013, 95; OLG Koblenz. VersR 2013, 708; OLG Hamm VersR 2013, 604).
3. Dies zugrunde gelegt, nimmt der Senat zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die angefochtene Entscheidung des LG München I Bezug, in der zu allen relevanten Punkten zutreffend Stellung genommen worden ist.
Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen ist zu bemerken:
Es ist nicht zu beanstanden, dass sich das Landgericht nach umfangreicher Beweisaufnahme keine Oberzeugung i. S. d. § 286 ZPO bilden konnte, welche der beiden am Unfall beteiligten Pkw-Fahrerinnen trotz für sie geltenden Rotlichts in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, den Unfall daher als ungeklärt erachtet und angesichts der gleichwertigen Betriebsgefahren beider am Unfall beteiligter Pkw eine Haftungsverteilung von 50 : 50 vorgenommen hat, mit dem Ergebnis einer entsprechenden teilweisen Klageabweisung.
Der Senat ist nämlich nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil – entgegen der Ansicht des Berufungsführers -durchgreifende Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung nicht vorliegen.
Solche Anhaltspunkte wären ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk-und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche (vgl. z. B. BGH VersR 2005, 945). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a. a. O.; Senat, a. a. O.).
Letztlich setzt der Kläger seine Beweiswürdigung der Aussagen gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts, ohne überzeugend Fehler im oben genannten Sinn aufzuzeigen.
Im Einzelnen:
a) Das Erstgericht hat zutreffend das Beweismaß des § 286 I 1 ZPO zugrunde gelegt und die insoweit geltenden Regeln beachtet. Nach § 286 l 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 338 [339]; BGH NJW 1998, 2969 [2971]; BAGE 85, 140; Senat NZV 2006, 261; Urt. v. 28.7.2006 – 10 U 1684/06 (juris Rz. 20); v. 11.6.2010 – 10 U 2282/10 [juris Rz. 4] sowie NJW 2011, 396 [397]; v. 6.7.2012 – 10 U 3111/11 [juris Rz. 16]; NJW-RR 2014, 601; KG NJW-RR 2010, 1113) – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256], st. Rspr., insbesondere BGH NJW 1992, 39 [40], NJW 1998, 2969 [2971]; 2008, 2845; NJW-RR 2008, 1380; NJW 2014, 71 [72] und zuletzt VersR 2014, 632 f.; BAGE 85, 140; OLG Frankfurt a. M. zfs 2008, 264 [265]; Senat in st. Rspr., u. a. VersR 2004, 124 [Revision vom BGH durch Beschl. v. 1.4.2003 – VI ZR 156/02 nicht angenommen]; NZV 2006, 261; NJW 2011, 396 [397]; SP 2012, 111; LG Leipzig NZV 2012, 329 [331]).
Zwar wäre es – insoweit ist dem Berufungsführer zuzustimmen – verfehlt, wenn ein Gericht sich immer nur dann eine Überzeugung i. S. d. § 286 ZPO bilden dürfte, wenn alle anderen Varianten auszuschließen sind. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass das Erstgericht von einem solch übermäßig engen Maßstab ausgegangen ist. Zwar findet sich in den Urteilsgründen die Formulierung: „Es ist letztlich nicht auszuschließen, dass die Zeugin Hausmann noch bei Rotlicht startete und die Beklagte zu 1) ihrerseits bei Grünlicht einfuhr…“ (vgl. S. 7 des EU = Bl. 53 d. A.). Allerdings hat das Erstgericht sodann, festgestellt, „ebenso“ sei es „möglich, dass die Beklagte zu 1) sich zunächst der Grünlicht zeigenden Ampel näherte, diese jedoch noch vor ihrem Eintreffen auf Rotlicht umschaltete und es dann zur Kollision mit der bei Grünlicht startenden Zeugin Hausmann kam“ (vgl. wieder S. 7 des EU = Bl. 53 d. A.). Die verwendete Formulierung mag ungeschickt gewesen sein („letztlich nicht auszuschließen“ versus „im gleichen Maße möglich“). Dass das Erstgericht hierbei jedoch die Anforderungen an die Beweiswürdigung im Rahmen des § 286 ZPO missachtet hätte, ist indes nicht ersichtlich.
b) Dem Berufungsführer ist weiter zuzustimmen, dass sich bereits aus den Urteilsgründen selbst eine Tendenz bei der Glaubhaftigkeitsbewertung des Erstgerichts zugunsten der Zeuginnen Gabriele Hausmann und Katharina Hausmann und zulasten der Beklagten zu 1) ergibt. Gleichwohl stellt es keinen Widerspruch dar, wenn ein Gericht solche Umstände aufzeigt und sich dann trotzdem noch nicht die gem. § 286 ZPO erforderliche Überzeugung bilden kann. Denn gem. § 286 I 1 ZPO hat das Gericht nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden; an gesetzliche Beweisregeln ist es gem. § 286 II ZPO in der Regel nicht gebunden. Es muss auch bei mehreren bestätigenden Zeugenaussagen den Beweis nicht unbedingt als geführt ansehen (vgl. auch Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 286 Rdnr. 13).
Am Rande sei noch angemerkt, dass beiden o.g. klägerischen Zeuginnen, die Ehefrau und der Tochter des Klägers, nicht als unbeteiligt zu bewerten sind. Ein umso größeres Gewicht hätte eigentlich der Aussage des augenscheinlich unbeteiligten Zeugen Singh zukommen müssen, wäre dieser Zeuge nicht als unglaubwürdig einzustufen gewesen, wie es das Erstgericht aus nachvollziehbaren und vom Berufungsführer auch nicht beanstandeten Gründen getan hat.
c) Weiter ist dem Berufungsführer zuzugeben, dass die Darstellung der Beklagten zu 1) hinsichtlich der Frage, ob die unmittelbar an der streitgegenständlichen Kreuzung befindliche Ampel für sie zunächst „rot“ oder gleich „grün“ zeigte, zunächst widersprüchlich klingt. Dieser vermeintliche Widerspruch wird jedoch aufgelöst, wenn man – über die Zusammenfassung in den Gründen des Ersturteils hinaus (vgl. dort S. 5 = Bl. 51 .A.) – die Aussage des Beklagten zu 1), so wie sie im Protokoll der erstinstanzlichen Sitzung vom 23.11.2015 (vgl. dort S. 3 = Bl. 25 d. A.) dokumentiert ist, vollständig betrachtet: In der Tat hat die Beklagte zu 1) in jener Sitzung zunächst erklärt: „Ich hatte an den drei zurückliegenden Ampeln bereits Rotlicht und stand wiederum bei Rotlicht, diesmal als erstes Fahrzeug an der Ampel. Nachdem die Ampel auf Grünlicht umschaltete, fuhr ich ganz normal los. Dann kam plötzlich von links rein Auto.“ Wenig später stellte die Beklagte zu 1), wenn auch erst auf Vorhalt des Klägervertreters, Folgendes klar: „Ich habe, wenn ich vorhin erklärte, ich sei das erste Fahrzeug bei Rotlicht gewesen, die dem Unfall vorangegangene Ampel gemeint. An der streitgegenständlichen Ampel, um die es bei dem Unfall geht, war bereits Grünlicht, als ich mich näherte, und ich fuhr bei Grünlicht in den fließenden Verkehr im Kreuzungsbereich ein.“
Alleine die ursprüngliche unklare Formulierung der Beklagten zu 1) kann in der Gesamtschau nicht den entscheidenden Ausschlag geben, wonach deswegen das Erstgericht von der Nichtglaubhaftigkeit der Angaben der Beklagten zu 1) hätte ausgehen müssen.
d) Auch soweit sich das Erstgericht eine Überzeugung dahingehend gebildet hat, es sei nicht davon auszugehen, dass die beiden o.g. klägerischen Zeuginnen die für sie geltende Linksabbiegerampel (dort nach wie vor „rot“) mit der Geradeausampel (dort ggf. Umspringen auf „grün“) verwechselt haben, stellt es keinen Widerspruch dar, wenn das Landgericht gleichwohl zu dem Ergebnis kommt, es sei „ebenso“ möglich, dass die Zeugin Gabriele Hausmann bei Rotlicht startete, wie dass die Beklagte zu 1) trotz bereits für sie geltenden Rotlichts noch die Kreuzung überquerte. Was die vom Berufungsführer in diesem Zusammenhang zitierte Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts betrifft, ist der Sachverhalt mit dem hier streitgegenständlichen bereits insofern nicht vergleichbar, als dort die Wahrscheinlichkeit erörtert wurde, mit der davon auszugehen ist, dass jemand bei „grün“ anhält und bei „rot“ weiter fährt. Diese Variante steht hier indes nicht wirklich zur Diskussion.
III. Da, wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, auch die Voraussetzungen des § 522 II 1 Nr. 2 und 3 ZPO vorliegen, beabsichtigt der Senat, die Berufung gem. § 522 II 1 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.


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