Verwaltungsrecht

1 C 28/20

Aktenzeichen  1 C 28/20

Datum:
30.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:300321U1C28.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch langjährige Behandlung als deutscher Staatsangehöriger nach § 3 Abs. 2 Satz 1 StAG erstreckt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG kraft Gesetzes auf Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem Begünstigten ableiten, ohne dass es darauf ankommt, ob diese ihrerseits die Behandlung des Begünstigten als deutscher Staatsangehöriger zu vertreten haben.
2. Der Erstreckungserwerb der Abkömmlinge nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG wirkt auf den Zeitpunkt ihrer Geburt zurück. Sein Fortbestand hängt nicht davon ab, dass der Abkömmling in dem Zeitraum, auf den sich die Rückwirkung bezieht, keinen staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlusttatbestand erfüllt hat.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 24. März 2020, Az: 19 A 169/19, Beschlussvorgehend VG Köln, 21. November 2018, Az: 10 K 11698/16, Urteil

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. März 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren die Feststellung, dass sie deutsche Staatsangehörige sind, und die Ausstellung von Staatsangehörigkeitsausweisen.
2
Der im April … in M./Brasilien ehelich geborene Kläger und seine nichteheliche Tochter, die im September 2011 in C./Brasilien geborene Klägerin, sind (jedenfalls) brasilianische Staatsangehörige. Beide sind in einer ununterbrochenen väterlichen Linie Nachfahren des im August 1832 in …/preußische Provinz Sachsen geborenen H. F. M., der 1853 nach B./Brasilien ausgewandert war (Ururgroßvater des Klägers). Der Kläger hat nach eigenen Angaben von 2000 bis 2001 in Brasilien Militärdienst geleistet.
3
Am 3. April 2003 stellte das Bundesverwaltungsamt dem Kläger und seinem Vater, dem 1947 in Brasilien geborenen T. V. M., bis zum 2. April 2013 gültige Staatsangehörigkeitsausweise aus. Dabei nahm es an, der Kläger und sein Vater hätten die deutsche Staatsangehörigkeit jeweils mit ihrer ehelichen Geburt durch Abstammung väterlicherseits erworben.
4
Aus Anlass eines Staatsangehörigkeitsfeststellungsverfahrens der Schwester des Vaters des Klägers vermerkte das Bundesverwaltungsamt am 18. August 2009 in der Akte des Klägers, der Staatsangehörigkeitsausweis sei rechtswidrig ausgestellt worden. Diesem Vermerk lag eine Änderung seiner Rechtsauffassung zum Fortbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit bei Nachfahren deutscher Einwanderer in Brasilien zugrunde. Sie beruhte auf der Feststellung des Berufungsgerichts in einem anderen Verfahren, wonach die im 19. Jahrhundert nach Brasilien ausgewanderten deutschen Reichsangehörigen während der Geltung des StAG 1870 nur in sehr geringem Umfang von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, einen Staatsangehörigkeitsverlust durch Eintragung in das Matrikelbuch eines Reichskonsulats in Brasilien abzuwenden (OVG Münster, Beschluss vom 9. Januar 2008 – 12 A 1842/06 – juris Rn. 6).
5
Im Dezember 2011 beantragte die Klägerin, vertreten durch den Kläger und ihre Mutter, beim Bundesverwaltungsamt die Ausstellung eines Staatsangehörigkeitsausweises. Das Bundesverwaltungsamt verstand diesen Antrag zugleich auch als Antrag des Klägers in eigenem Namen. Es teilte dem Generalkonsulat … im April 2012 per E-Mail mit, dass es die Ausstellung der Staatsangehörigkeitsausweise an den Kläger und seinen Vater im Jahr 2003 seit dem Jahr 2009 als rechtswidrig ansehe, und bat, “für die genannten Personen zunächst keine weiteren Pässe auszustellen”. Bei einem erneuten Antrag sei zu prüfen, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ersitzung erworben hätten.
6
Mit Bescheid vom 23. Januar 2015, dem Kläger ausgehändigt im Honorarkonsulat C./Brasilien am 14. März 2015, stellte das Bundesverwaltungsamt in Bezug auf beide Kläger fest, dass sie nicht deutsche Staatsangehörige seien.
7
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies das Bundesverwaltungsamt zurück. Es führte aus, der 1853 ausgewanderte Ururgroßvater des Klägers habe seine Eigenschaft als Preuße nach § 15 Abs. 3 i.V.m. § 23 des Gesetzes vom 31. Dezember 1842 über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan sowie über den Eintritt in fremde Staatsdienste durch zehnjährigen Aufenthalt im Ausland verloren. Eine dadurch etwa eintretende Staatenlosigkeit habe dieses Gesetz in Kauf genommen. Selbst wenn der Ururgroßvater aber bei Gründung des deutschen Reiches 1871 noch im Besitz der preußischen Untertaneneigenschaft gewesen wäre, wäre ein Verlust sowohl bei diesem als auch bei dem 1877 geborenen Urgroßvater jedenfalls im Jahr 1881 nach § 21 StAG 1870 durch zehnjährigen legitimationslosen Auslandsaufenthalt eingetreten. Ein Matrikelschein, mit dem der Verlust habe abgewendet werden können, sei nicht vorgelegt worden; ebenso fehle es an anderweitigen aussagekräftigen Indizien dafür, dass die die Staatsangehörigkeit erhaltenden Maßnahmen tatsächlich ergriffen worden seien.
8
Mit Urteil vom 21. November 2018 wies das Verwaltungsgericht Köln die dagegen erhobene Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt erworben, weil ihre Vorfahren väterlicherseits, von denen sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit ableiteten, bereits keine deutsche Staatsangehörigkeit (mehr) besessen hätten. Die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit auch nicht durch Ersitzung erworben. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass der Vater des Klägers nach Ablauf seines bis 2. April 2013 gültig gewesenen Staatsangehörigkeitsausweises weiterhin als deutscher Staatsangehöriger behandelt worden sei.
9
Im Berufungsverfahren haben die Kläger unter Vorlage entsprechender Kopien erstmals vorgetragen, dem Vater des Klägers (T. V. M.) sei noch im August 2014 vom Generalkonsulat … ein bis August 2024 gültiger neuer Reisepass ausgestellt worden. Auch die Kläger hätten im Juni 2017 vom Generalkonsulat … Reisepässe erhalten, gültig bis Juni 2027 (Kläger) bzw. bis Juni 2023 (Klägerin). Sie haben zudem eine im Juli 2014 vom Standesamt I in Berlin ausgestellte Geburtsurkunde der Klägerin in Kopie eingereicht.
10
Das Oberverwaltungsgericht hat durch Beschluss vom 24. März 2020 die (Negativ-)Feststellung, dass die Kläger nicht deutsche Staatsangehörige seien, aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Klägern Staatsangehörigkeitsausweise auszustellen. Die Kläger hätten die deutsche Staatsangehörigkeit am 4. April 2015 nach § 3 Abs. 2 Satz 1 und 4 StAG dadurch erworben, dass das Bundesverwaltungsamt und das Generalkonsulat … den Vater des Klägers, der zuvor ausschließlich brasilianischer Staatsangehöriger gewesen sei, seit dem 3. April 2003 – und damit zwölf Jahre lang – durchgängig als deutschen Staatsangehörigen behandelt hätten. Ihm sei im April 2003 ein Staatsangehörigkeitsausweis und im August 2014 ein Reisepass ausgestellt worden. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei die amtliche Behandlung des Vaters des Klägers als deutscher Staatsangehöriger nicht vor dem 4. April 2015 dadurch beendet worden, dass das Generalkonsulat dem Kläger am 14. März 2015 im Honorarkonsulat C./Brasilien den ausschließlich an ihn selbst und die Klägerin gerichteten, hier streitgegenständlichen Bescheid vom 23. Januar 2015 habe aushändigen lassen. Es sei schon nicht feststellbar, dass der Vater zwischen der Aushändigung an den Kläger am 14. März 2015 und dem Ablauf des Zwölf-Jahres-Zeitraums am 3. April 2015 überhaupt Kenntnis vom Inhalt des Bescheides erlangt habe. Der Vater des Klägers habe diese Behandlung als deutscher Staatsangehöriger in der Zeit von April 2003 bis April 2015 nicht zu vertreten. Eine etwaige Obliegenheitsverletzung des Klägers sei seinem Vater als staatsangehörigkeitsrechtlich eigenständig handlungsfähiger Person nicht zuzurechnen. Der damit rückwirkend eingetretene Staatsangehörigkeitserwerb des Vaters des Klägers erstrecke sich nach § 3 Abs. 2 Satz 4 StAG auch auf die Kläger als Abkömmlinge, die seither ihre Staatsangehörigkeit von dem Vater ableiteten. Dem Wortlaut und dem Zweck des Satzes 4 ließen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der dort geregelte Erstreckungserwerb des Abkömmlings ebenso wie der Vertrauensschutzerwerb des Stammberechtigten nach Satz 1 von dem ausschließlich dort erwähnten negativen Tatbestandsmerkmal des Nichtvertretenmüssens abhänge. Ebenso wenig stehe es dem gesetzlichen Erstreckungserwerb entgegen, wenn der Kläger in der Zeit bis zum 4. April 2015 – etwa mit dem Eintritt in die Streitkräfte eines ausländischen Staates – Verlusttatbestände verwirklicht hätte, mit der Folge, dass eine mit Geburt erworbene deutsche Staatsangehörigkeit bei hypothetisch-rückschauender Betrachtung vor dem 4. April 2015 verloren gegangen wäre.
11
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 3 StAG. Die Auslegung dieser Vorschrift durch das Berufungsgericht unterlaufe das Gesetzesziel, Ersitzungstatbestände auf Gutglaubensfälle zu beschränken. Es fehle beim Vater des Klägers bereits an einer zwölfjährigen durchgängigen Behandlung als deutscher Staatsangehöriger. Der ihm erteilte Staatsangehörigkeitsausweis habe weder bindende noch über den 2. April 2013 hinausreichende Wirkung gehabt. Erst am 10. August 2014 sei dem Vater ein deutscher Reisepass ausgestellt worden. Selbst wenn aber beim Vater des Klägers von einer Ersitzung der deutschen Staatsangehörigkeit infolge einer durchgehenden “Deutschenbehandlung” auszugehen wäre, habe einer Erstreckung dieses Erwerbs auf die Kläger jedenfalls deren böser Glaube entgegengestanden. Dass dies den Erstreckungserwerb nicht hindere, entspreche weder der Intention des Gesetzgebers noch sei diese Auslegung aufgrund des Wortlauts der Norm geboten.
12
Die Kläger verteidigen den angegriffenen Beschluss.
13
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und schließt sich der Rechtsauffassung der Beklagten an.


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