Verwaltungsrecht

Abschiebungsschutz aufgrund von Erkrankung

Aktenzeichen  M 10 S 16.31553

Datum:
12.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 30 Abs. 1, § 36 Abs. 3 S. 1, Abs. 4, § 50 Abs.7, § 75 Abs.1
GG GG Art. 6, Art. 16a Abs. 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, S. 2, S. 3

 

Leitsatz

Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (hier gegen die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet) auch die Einschätzung des Bundesamtes, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen, zum Gegenstand der Prüfung zu machen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts vom 9. März 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens

Gründe

I.
Hinsichtlich des Sachverhalts nimmt das Gericht zunächst Bezug auf die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Bescheids des Bundesamts vom 9. März 2016, denen es folgt, § 77 Abs. 2 AsylG. Der Bescheid wurde mit PZU an die Rückführungseinrichtung in … adressiert, da die Regierung … dem Bundesamt einen Abdruck einer Zuweisungsentscheidung vom 2. Februar 2016 mit dieser neuen Adresse übersandt hatte. In den Verfahrensakten befindet sich ein weiterer Abdruck der Zuweisung vom 2. Februar 2016, der aber mit „Storno“ gekennzeichnet ist.
Die Antragsteller haben am 28. Juni 2016 Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben (Az. M 10 K 16.31552). Gleichzeitig wurde sinngemäß beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, die Antragsteller hätten den Bescheid des BAMF erst diese Woche in Kopie vom Kreisverwaltungsreferat erhalten. Sie hätten nie in …, sondern immer in … gewohnt und beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Laut einem beigefügten Gutachten des Klinikums … vom 24. Juni 2016, Dr. med. …, Oberärztin Diabetologie, müsse die Antragstellerin zu 4) wegen einer seltenen Erkrankung am Wolcott-Rallison-Syndrom mit schwerer exokriner Pankreasinsuffizienz bei einer Rückkehr in den Kosovo befürchten, keine lebensnotwendige weitere fachärztliche Behandlung mehr zu erhalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig. Mangels wirksamer Bekanntgabe des an eine … Anschrift adressierten Bescheids ist die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG zunächst nicht angelaufen. Die Antragsteller haben nie dort gewohnt, sie waren auch nicht verpflichtet, dort zu wohnen. Die zunächst getroffene Umverteilungsentscheidung der Regierung … vom 2. Februar 2016 ist, soweit ersichtlich, den Antragstellern nicht nach § 50 Abs. 7 AsylG zugestellt und damit nicht wirksam geworden. Gegenüber dem Bundesamt wurde die wegen der neuen Adresse zunächst informatorisch übersandte Entscheidung wieder zurückgenommen durch Übersendung eines Abdrucks mit der Anmerkung „Storno“. Dabei wurde übersehen, die vom Bundesamt bereits geänderte Anschrift zurückzusetzen. Damit erfolgte keine wirksame Zustellung und Bekanntgabe des ablehnenden Bescheids des Bundesamts vom 9. März 2016 unter einer … Anschrift.
2. Der Antrag ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen (vgl. Art. 16a Abs. 4 GG, § 36 Abs. 4 AsylG).
Gemäß Art. 16a GG, § 36 Abs. 4 AsylG kann das Verwaltungsgericht auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die Aussetzung der Abschiebung anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Im Rahmen der Entscheidung über einen solchen Antrag ist im Hinblick auf den durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz auch zu prüfen, ob das Bundesamt zu Recht davon ausgegangen ist, dass der geltend gemachte Anspruch auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG offensichtlich nicht besteht – wobei eine nur summarische Prüfung nicht ausreicht – und ob diese Ablehnung weiterhin Bestand haben kann (BVerfG, B. v. 2.5.1984 – 2 BvR 1413/83 – BVerfGE 67, 43 ff.). Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag dann, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter (Art. 16a GG) und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylG). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegen ernstliche Zweifel i. S. v. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.). Dies ist nach ständiger Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen, und bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung sich die Abweisung geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, B. v. 5.2.1993 – 2 BvR 1294/92 – InfAuslR 1993, 196).
Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Einschätzung des Bundesamts, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Dies ist zwar der gesetzlichen Regelung des § 36 AsylG nicht ausdrücklich zu entnehmen, jedoch gebieten die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) die diesbezügliche Berücksichtigung auch im Verfahren nach § 36 AsylG (vgl. zur Rechtslage nach – dem Abschiebungsverbot gemäß § 60 AufentG entsprechenden – § 51 Ausländergesetz 1990: BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166/221).
Vorliegend bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung ernstliche Zweifel, soweit Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint wurden.
Eine Erkrankung kann einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur begründen, wenn die erhebliche konkrete Gefahr besteht, dass sich die lebensbedrohliche oder schwerwiegende Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat wesentlich verschlechtert, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B. v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – DVBl 1996,108).
Nach der bisherigen Rechtsprechung ist eine Gefahr infolge einer bestehenden oder zu befürchtenden Erkrankung dann „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichende Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, U. v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn im Heimatland des Ausländers die notwendige Behandlung oder Medikation seiner Erkrankung zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. etwa BVerwG, U. v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris Rn. 9).
Mit der seit dem 17. März 2016 geltenden gesetzlichen Regelung hat der Gesetzgeber – der bisherigen Rechtsprechung im Wesentlichen folgend – klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).
Das Gericht entnimmt jedoch der vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme eine mögliche derartige wesentliche Gesundheitsgefährdung bis hin zu akuter Lebensgefahr. Der vorgelegten Stellungnahme von Dr. med. … ist zu entnehmen, dass die Antragstellerin zu 4) am Wolcott-Rallison-Syndrom mit schwerer exokriner Pankreasinsuffizienz und insulinabhängigem Diabetes mellitus leidet. Es kann zu Leberfunktionsstörungen mit der Gefahr von Organversagen kommen; so habe bereits ein akutes Leberversagen behandelt werden müssen. Benötigt werde eine lebenslange Insulinsubstitution und Pankreasfermente. Der Verlauf sei derzeit nicht abschätzbar. Zudem sei neuerdings eine Hüftdysplasie mit Hüftgelenksluxation diagnostiziert worden, die eine Operation mit Umstellungsosteotomie erfordere. Derzeit könne ein Eingriff aber wegen des sehr hohen Narkoserisikos nicht erfolgen. Das Kind sei nicht reisefähig und bedürfe regelmäßiger fachärztlicher Betreuung.
Unter Abwägung der unterschiedlichen Belange ist zur Verhinderung einer möglichen wesentlichen Gesundheitsgefährdung bei der 4-jährigen Antragstellerin zu 4) zunächst die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Hiervon werden wegen Art. 6 GG auch die anderen Antragsteller umfasst. Im Hauptsacheverfahren ist weiter aufzuklären, wie weitgehend diese Gesundheitsgefährdung reicht und ob ggf. eine Behandlung auch im Heimatland möglich ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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