Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot bzgl. Afghanistan bejaht

Aktenzeichen  M 15 K 21.30258

Datum:
12.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 11708
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 73c Abs. 2
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Der Widerruf des gewährten Abschiebungsschutzes setzt nicht nur voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot (hier: § 60 Abs. 7 AufenthG) entfallen sind, sondern auch, dass nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (hier: § 60 Abs. 5 AufenthG) zu gewähren ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einem jungen, gesunden arbeitsfähigen Mann, der in seinem Herkunftsland weder über Vermögen noch über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt und infolge seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland seit seinem Kleinkindalter die Landessprachen Afghanistans nur rudimentär beherrscht, ist nicht davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom … Januar 2021 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet, da der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Dieser hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weiterhin Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Es kann letztendlich dahingestellt bleiben, ob die Beklagte zu Recht davon ausging, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht mehr vorliegen und daher die entsprechende Feststellung nach § 73c Abs. 2 AsylG widerrufen hat. Denn beim national begründeten Abschiebungsverbot handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.), so dass der Widerruf des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids nicht unabhängig von der Feststellung in Nr. 2 dieses Bescheides, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, beurteilt werden kann. Der Widerruf des gewährten Abschiebungsschutzes setzt nicht nur voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot (hier: § 60 Abs. 7 AufenthG) entfallen sind, sondern auch, dass nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (hier: § 60 Abs. 5 AufenthG) zu gewähren ist (BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24/10 – juris Rn. 9; OVG NRW, U.v. 3.3.2016 – 13 A 1828/09.A – juris Rn. 36; VG München, B.v. 23.10.2020 – M 18 S 20.32512 – juris Rn. 35). Aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan, gerade auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie, ist im vorliegenden Fall anzunehmen, dass der Kläger dort sein Existenzminimum nicht erzielen können wird und damit die (hohen) Anforderungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hier erreicht sind:
2. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25). Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechtecharta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – Rn. 21 ff.; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111 f. m.w.N.). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 21; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff. m.w.N; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 43 m.w.N).
3. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. z.B. OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 90 v. 4.2.2021, Strategic situation report: Covid 19, No. 89 v. 21.1.2021; Operational Situation Report v. 14.1.2021; BAMF, Briefing Notes v. 22.2.2021; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan in der Fassung vom 14. Januar 2021; EASO, Country Guidance, Dezember 2020; IOM, Information on the socio-economic situation in the light of COVID 19 v. 23.9.2020; IFC, Acute Food Insecurity Analysis August 2020 – March 2021, 8.11.2020, allg. abrufbar unter www.reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-ipc-acute-food-insecurity-analysis-august-2020-march-2021-issued) geht das Gericht davon aus, dass im Fall des Klägers ein besonderer Ausnahmefall im oben genannten Sinn zu bejahen ist:
Der Kläger lebt seit seinem zweiten Lebensjahr und damit seit über 20 Jahren mit seiner Familie in der Bundesrepublik Deutschland, so dass er mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen in Afghanistan nicht vertraut ist. Nach seinen glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung hat er keine, auch keine entfernten, Verwandten in seinem Heimatland und auch keine Freunde oder Bekannte, die ihm durch Kontakte und Beziehungen den Zugang zum Wohnungs- oder Arbeitsmarkt erleichtern könnten. Hinzu kommt, dass er nur rudimentär eine der Landessprachen Afghanistans spricht (zum Erfordernis der Verständnismöglichkeit vgl. z.B. BayVGH, B.v. 11.1.2012 – 13a ZB 20.32513 – UA Rn. 7; 5.1.2021 – 13a ZB 20.30103 – UA Rn. 5; U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 23), wie er vor Gericht plausibel erklären konnte. Da der Kläger somit in seinem Herkunftsland weder über Vermögen noch über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt (vgl. VGH BW, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris), ist nicht davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Dies gilt umso mehr, als sich die eh schon schlechte wirtschaftliche Situation in Afghanistan aufgrund der Corona-Pandemie in den letzten Monaten drastisch verschärft hat und der afghanische Arbeitsmarkt extrem angespannt ist. Auf die oben genannten Erkenntnismittel und die Ausführungen des VGH Baden-Württemberg (U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17- juris) zur aktuellen humanitären und wirtschaftlichen Situation in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie wird insoweit Bezug genommen. Nach alledem ist nicht davon auszugehen, dass sich der Kläger auf dem afghanischen Arbeitsmarkt gegen andere Mitbewerber durchzusetzen vermag. Selbst mit einer gewissen (geringfügigen) finanziellen Unterstützung seiner in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Familie kann nicht angenommen werden, dass er sein Existenzminimum in Afghanistan erlangen kann, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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