Verwaltungsrecht

Äthiopischer Staatsangehöriger, Behauptete Staatsangehörigkeit: eritreisch, Volljährig, Volkszugehörigkeit: Tigrinya; ca. 1989;, illegale Ausreise (Eritrea);, Militärdienst (Eritrea) ;ca 2006, Verhaftung wegen illegalem Aufenthalt (Äthiopien);, Teil eines Familienverbundes in BRD (Partnerin / Sohn), Internationaler Schutz von Familienangehörigen;, Gesund / arbeitsfähig;, Familiäres Netzwerk vorhanden;

Aktenzeichen  M 13 K 17.41471

Datum:
21.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 17844
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 4
AsylG § 26 Abs. 5
AsylG § 26 Abs. 3
AsylG § 26 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5
Art. 3 EMRK:

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. Mai 2017 wird in Nr. 5 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots neu zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I. 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 21. Juni 2022 über die Verwaltungsstreitsache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf diese Folge ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.
II. 
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
II. 
Die Klage ist zulässig, hat jedoch in der Sache nur teilweise Erfolg.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 5. Mai 2017 ist hinsichtlich der in den Ziffern 1 bis 4 rechtmäßig und verletzt den Kläger insoweit nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
So hat der Kläger zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) – hierzu sogleich in den Ziffern und 2.
Darüber hinaus hat das Bundesamt zu Recht festgestellt, dass keine zielstaatsbezogenen nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Klägers bestehen – hierzu sogleich unter Ziffer 3.
Auch die verfügte Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig – hierzu sogleich unter Ziffer 4.
Die Klage war daher insoweit abzuweisen.
Die in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheids ausgesprochene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots hingegen ist im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung rechtswidrig – hierzu sogleich unter Ziffer 5, verletzt den Kläger in seinen Rechten und war daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1.
Der Kläger hat weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§§ 3 ff AsylG) noch von subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) aufgrund von in seiner Person selbst begründeter Umstände.
a. 
Das Gericht ist – wie bereits das Bundesamt bei Bescheiderlass – der Auffassung, dass der Kläger derzeit (zumindest auch) die äthiopische Staatsangehörigkeit besitzt.
Das Gericht verweist insoweit auf die Ausführungen des Bundesamtes in den Gründen des angefochtenen Bescheids (siehe Seite 3 Abs. 4 bis Seite 4 Abs. 3 des Bescheids) und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Gründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Lediglich ergänzend wird ausgeführt, dass auch keine Umstände vorgetragen oder anderweitig ersichtlich sind, die darauf schließen ließen, dass der Kläger seit Erlass des Bescheids seine äthiopische Staatsangehörigkeit verloren haben könnte. Insbesondere hat der Kläger die angeblich Anfang 2020 versuchte Beantragung einer eritreischen ID-Karte bei der eritreischen Auslandsvertretung in Frankfurt am Main – obwohl diesbezüglich beweisbelastet – nicht nachgewiesen.
Im Rahmen der Prüfung der §§ 3 ff AsylG sowie von § 4 AsylG war daher nachfolgend (auch) Äthiopien als Herkunftsland zu Grunde zu legen.
Angesichts der Tatsache, dass dem Kläger zumindest in Äthiopien weder eine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG (hierzu sogleich unter Ziffer b.) noch ein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 AsylG (hierzu sogleich unter Ziffer c.) droht, kann vorliegend dahinstehen, ob der Kläger derzeit neben der äthiopischen Staatsangehörigkeit auch die eritreische Staatsangehörigkeit besitzt und ihm im Falle einer Rückkehr nach Eritrea tatsächlich eine asylrechtlich relevante Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht, etwa wegen angeblich illegaler Ausreise aus Eritrea oder in Gestalt einer Zwangseinziehung zum Militärdienst.
b. 
Dem Kläger droht im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien keine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG.
(1) Zwar hat der Kläger geltend gemacht, in der Vergangenheit in Äthiopien aufgrund seines illegalen Aufenthaltsstatus ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten und in diesem Zusammenhang verhaftet und vier Tage lang inhaftiert worden zu sein.
Jedoch ist – wie oben ausgeführt – davon auszugehen, dass der Kläger äthiopischer Staatsangehöriger ist und als solcher legal nach Äthiopien einreisen und sich dort aufhalten kann.
Davon abgesehen wird der Kläger ohnehin erst in Äthiopien einreisen bzw. dorthin abgeschoben werden können, wenn der äthiopische Staat ihn als eigenen Staatsangehörigen identifiziert hat und einreisen lässt. So ist derzeit eine Einreise nach Äthiopien weitestgehend nur über den Luftweg über den Internationalen Flughafen von Addis Abeba möglich (Auswärtiges Amt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aethiopien-node/aethiopiensicherheit/209504, abgerufen am 21. Juni 2022), welcher über entsprechend hohe Sicherheitsvorkehrungen bei der Einreisekontrolle verfügt. Ein als illegal einzustufender Aufenthalt des Klägers nach einer Rückkehr nach Äthiopien und etwaige ihm hieraus erwachsende Probleme seitens der Sicherheitsbehörden sind unter diesen Voraussetzungen somit nicht zu erwarten.
(2) Sonstige Verfolgungstatbestände betreffend Äthiopien wurden nicht geltend gemacht und sind auch nicht anderweitig ersichtlich.
c. 
Dem Kläger droht im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien auch kein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten dabei nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
(1) Davon, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien infolge des geltend gemachten Vorfluchttatbestandes (Inhaftierung wegen illegalen Aufenthalts) ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr.2 AsylG (Todesstrafe / Folter / unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) droht, hat der Kläger das Gericht, wie bereits soeben im Rahmen der §§ 3 ff AsylG dargelegt, nicht überzeugen können.
(2) Auch mit Blick auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und den bewaffneten Konflikt zwischen der TPLF und der Bundesregierung im Norden des Landes im Bundesstaat Tigray (sowie in Teilen der Bundesstaaten Afar und Amhara) oder den Kämpfen zwischen äthiopischer Armee und der OLA in Teilen des Bundesstaates Oromia (insb. Provinz Wolega) ist keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers im Falle seiner Rückkehr beachtlich wahrscheinlich.
Da der Kläger größtenteils in Addis Abeba aufgewachsen ist und dort insgesamt zwölf Jahre gelebt hat, des Weiteren dort ausweislich der dem Gericht vorliegenden und zum Gegenstand dieses Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln die Sicherheitslage sowie die Erwerbsmöglichkeiten – anders als in manch anderen Landesteilen – derzeit gut ist, ist davon auszugehen, dass die Hauptstadt im Falle einer Rückkehr des Klägers nach Äthiopien seinen ersten (und primären) Anlaufpunkt bildet, welcher über den Internationalen Flughafen der Hauptstadt auch direkt, ohne Durchquerung des Kampfgebietes sicher erreicht werden kann.
2.
Ein über seinen Sohn oder dessen Mutter abgeleiteter Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes gemäß § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 bzw. Abs. 3 AsylG scheidet vorliegend aus.
Zwar wurde der Mutter des Sohnes des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Jedoch liegen vorliegend die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht vor bzw. wurden seitens des insoweit nachweispflichtigen Klägers keine entsprechenden Nachweise vorgelegt.
Ein über den Sohn des Klägers abgeleiteter Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes gemäß § 26 Abs. 3 AsylG scheidet vorliegend ebenfalls aus, da der Sohn des Klägers selbst die ihm gegenüber ausgesprochene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wiederum nur von seiner Mutter ableiten konnte und gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG eine weitere mittelbare Ableitung ausgeschlossen ist.
4.
Des Weiteren bestehen zu Gunsten des Klägers auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG, EMRK oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Da das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid allein eine Abschiebung nach Äthiopien angedroht hat, kommt es für die Feststellung von Abschiebungsverboten ausschließlich auf die Situation in Bezug auf Äthiopien an.
Insbesondere besteht vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger nicht in der Lage ist, nach einer Rückkehr nach Äthiopien sein Existenzminimum zu decken – sogleich unter a. sowie b. jeweils unter (1.)
a. 
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
(1) Eine Verletzung von Art. 3 EMRK (sowie von Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht, vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (siehe § 3c AsylG), fehlt, wenn die humanitären Gründe mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Hygiene und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12 m.v.N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41 738/10, Paposhvili/Belgien – NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/1, C. I. u.a. – NVwZ, 691, Rn. 68). Dieses Mindestmaß kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11).
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden menschenunwürdigen Verelendung setzt dabei keine „Extremgefahr“ voraus, die für die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG notwendig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, 1 B 25.18 – juris Rn. 13). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung (EuGH, Urteile v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim – JZ 2019, 999, Rn. 89 ff., und C-163/17, Jawo, InfAuslR 201 9, 236, Rn. 90 ff.) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (U.v. 21.1 .2 0 1 1, 30696/09, M.S.S. / Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, Rn. 252 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12; OVG Hamburg, U.v. 18.12.2019 – 1 Bf 132/17.A – juris, Rn. 39).
Gemessen an diesen Grundsätzen besteht nach Überzeugung des Gerichts nicht die Gefahr, dass der Kläger nach einer Rückkehr nach Äthiopien, etwa in die Hauptstadt Addis Abeba (s.o.), nicht in der Lage sein wird, sein Existenzminimum zu decken, insbesondere sich nicht ausreichend mit Nahrung und Unterkunft zu versorgen – auch unter Berücksichtigung von Umständen, die erst nach Erlass des angefochtenen Bescheids eingetreten sind, wie etwa die sich durch Heuschreckenplage, Dürrekatastrophe, Tigray-Konflikt, COVID-19-Pandemie und in diesem Zusammenhang national wie international ergriffener Pandemieschutzmaßnahmen sowie infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ergebenden Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungslage, die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in Äthiopien.
(a) Was die Versorgung mit Nahrungsmitteln betrifft, hat die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) und das World Food Programm (WFP) in ihrer aktuellen Lageprognose für die Monate Juni bis September 2022 – Stand Juni 2022 (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022) die Entwicklung der Versorgungslage für Äthiopien und dessen einzelne Landesteile wie folgt eingeschätzt:
Zur hierbei verwendeten fünfstufigen IPC/CH-Skala:
(siehe hierzu auch FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022, Seite 7)
Die FAO / das WFP teilen hierfür die Lage, was die Versorgung mit Lebensmitteln bzw. die Versorgungsunsicherheit betrifft, in fünf Stufen (sog. „Phasen“) ein.
In Stufe (Phase) 1 („None / Minimal“) sind die Haushalte noch in der Lage, sich Grundnahrungsmittel (oder hierfür erforderliche Einnahmen) zu beschaffen, ohne hierfür völlig ungewöhnliche oder nicht nachhaltige Beschaffungsstrategien anwenden zu müssen.
In Stufe (Phase) 2 („Stressed“) sind Haushalte zwar noch in der Lage, ihren absoluten Minimalbedarf an Nahrungsmittel zu decken, jedoch nicht mehr in der Lage, darüber hinaus Ausgaben für andere Produkte zu tätigen.
In Stufe (Phase) 3 („Crisis“) leiden Haushalte entweder infolge Versorgungslücken an akuter Unterernährung oder sind nur durch Abbau anderer, für den Lebensunterhalt essenzieller Güter gerade so in der Lage, ihren Minimalbedarf an Nahrungsmitteln zu decken.
In Stufe (Phase) 4 („Emergency“) haben einige Haushalte entweder große Versorgungslücken mit Lebensmitteln mit der Folge von sehr hoher akuter Mangelernährung und steigender Sterblichkeitsrate oder können große Versorgungslücken nur unter Anwendung von Notfallstrategien und Liquidation sämtlicher Vermögenswerte vermeiden.
In Stufe (Phase) 5 („Catastrophe“) leiden die Haushalte trotz Anwendung aller Notfallstrategien an extremen Versorgungslücken betreffend Nahrungsmittel oder anderen Basisgütern. Hunger, Tod, Armut und extrem-kritische Mangelernährung sind offensichtlich.
Für die Stufe (Phase) 5´+ („Famine“ = Hungersnot) ist darüber hinaus erforderlich, dass die betroffene Region ein extrem kritisches Level an akuter Mangelernährung und Sterblichkeit aufweist.
Die Lage im Bundesstaates Tigray, welcher selbst kaum über fruchtbare Böden und eigenen Ackerbau verfügt und deshalb traditionell auf Weizenimporte aus anderen Landesteilen Äthiopiens, insbesondere den fruchtbaren Agrarregionen, insbesondere in den Bundesstaaten Oromia, Amhara und Gambela, oder aus dem Ausland angewiesen ist, und welche im Zuge der Kämpfe zwischen der äthiopischen Armee und der TPLF zeitweise für Nahrungsmittelimporte oder Hilfslieferung nicht zugänglich war, wurde – trotz der derzeit ausgerufenen Waffenruhe – mit Stufe 5+ (Gefahr einer Hungersnot) bewertet (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S. 26)
Für die derzeit besonders von der anhaltenden Dürre betroffenen Landesteile im Süden Äthiopiens, sprich die Bundesstaaten Somali (an der Grenze zu Somalia) und SNNPR sowie die Provinz Borena im Bundesstaat Oromia wurde die Versorgungslage für die nächsten Monate mit Stufe 3 oder schlimmer eingeschätzt (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S. 26).
Alle weiteren Landesteile, wie etwa die Hauptstadt Addis Abeba oder die übrigen Provinzen des Bundesstaates Oromia und der Bundesstaat Amhara mit ihrem fruchtbaren Ackerland wurden als unterhalb der Phase 3 liegend prognostiziert.
Alle anderen Landesteile, insbesondere auch die Hauptstadt Addis Abeba liegen daher unterhalb der Stufe („Phase“) 3, so dass insoweit nicht einfach pauschal davon ausgegangen werden kann, dass ein Großteil der dort lebenden Haushalte sich nicht mehr ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgen können.
(b) Jedoch ist ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel auch hinsichtlich der anderen, unterhalb der Phase 3 eingestuften Landesteile zu berücksichtigen, dass infolge zahlreicher Dürren und Überschwemmungen in Äthiopien in den letzten Jahren sowie der COVID-19-Pandemie und der hiergegen landes- und weltweit ergriffenen Gegenmaßnahmen, insbesondere aber infolge der seit November 2020 im Norden Äthiopiens geführten Kämpfe zwischen äthiopischer Armee und TPLF, sowie zuletzt auch infolge des seit Ende Februar bestehenden Ukraine-Krieges und dessen Auswirkungen auf die Versorgung Ostafrikas mit Getreide und Düngemitteln, die Preise für Lebensmittel in Äthiopien massiv gestiegen sind, bis März 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 43,4% (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Blockade ukrainischer Schwarzmeerhäfen durch Russland ist ferner zu berücksichtigen, dass Äthiopien stark auf Kraftstoff-, Düngemittelsowie Weizenimporte angewiesen ist und in der Vergangenheit zwei Drittel des importierten Weizens aus Russland und der Ukraine bezog (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Vor dem Hintergrund von Importabhängigkeit und drastisch gestiegenen Weltmarktpreisen für Weizen und andere benötigte Produkte kommt erschwerend hinzu, dass die – insbesondere durch massive Militärausgaben (laut Einschätzung der Vereinten Nationen bereits bis August 2021 über eine Milliarde US-Dollar) hervorgerufene – drastische Erhöhung der Staatsverschuldung zu einem starken Verfall der äthiopischen Währung Birr sowie einen massiven Anstieg der Inflation, von 18% vor Beginn des Tigray-Konflikts bis auf 34,2% im Oktober 2021 (Future Center – How the war in Tigray is impacting Ethiopia’s economy? (futureuae.com), abgerufen am 13.12.2021), geführt hat (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Vor diesem Hintergrund ist daher davon auszugehen, dass sich die Preise für Lebensmittel weiter steigen (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Zudem hat sich – insbesondere infolge des Tigray-Konflikts und den damit verbundenen Militärausgaben sowie der sich in diesem Zusammenhang massiv verschlechterten Sicherheitslage – die allgemeine wirtschaftliche Lage im Land und auf dem Arbeitsmarkt stark verschlechtert.
Insbesondere die schon seit vielen Monaten andauernden Kämpfe zwischen äthiopischer Armee und TPLF-Kämpfern haben die gesamte äthiopische Wirtschaft landesweit schwer geschädigt, insbesondere zentrale Sektoren wie die Landwirtschaft, den Bergbau oder auch die Produktion. Das erwartete Wirtschaftswachstum wird mit unter 2% beziffert, das niedrigste seit über zwei Jahrzehnten (Future Center – How the war in Tigray is impacting Ethiopia’s economy? (futureuae.com), abgerufen am 13.12.2021).
Aufgrund der anhaltenden schlechten Sicherheitslage, nicht nur im Norden des Landes, beendeten in den letzten Monaten zudem viele ausländische Unternehmen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten, schlossen Fabriken und Manufakturen und sahen von weiteren Investitionen in Äthiopien ab (Future Center – How the war in Tigray is impacting Ethiopia’s economy? (futureuae.com), abgerufen am 13.12.2021). So schloss etwa einer der weltweit größten Kleidungsproduzenten, PVH, sein Werk in Hawassa und damit die größte Fabrik des Landes.
Rund ein Viertel der äthiopischen Bevölkerung lebt derzeit unterhalb der Armutsgrenze (BBC, Ethiopia’s economy battered by Tigray war – BBC News, 14.03.2022).
(c) In Bezug auf Addis Abeba ist neben den steigenden Nahrungsmittelkosten noch zusätzlich zu berücksichtigen, dass infolge des massiven Bevölkerungszuwachses in den vergangenen Jahren bei gleichzeitig geringer Investitionen in den Wohnungsbau die Wohnungskosten massiv gestiegen und für Geringverdiener allein kaum mehr erschwinglich sind.
So ist bereits seit Jahren ein zunehmender Zuzug der äthiopischen Landbevölkerung in die Städte, in denen sich die Hilfsorganisationen niedergelassen haben, zu verzeichnen, insbesondere in das wirtschaftliche Zentrum des Landes, Addis Abeba. Unzählige suchen dort neue Einkommensquellen oder sind schlicht auf die dortige Lebensmittelhilfe angewiesen (Fluchtgrund, https://www.fluchtgrund.de/land/aethiopien, abgerufen am 14.03.2022).
So weist Addis Abeba bereits jetzt eine Bevölkerungszahl von 5,2 Millionen Einwohnern auf (World Population Review, https://worldpopulationreview.com/world-cities/addis-ababa-population, abgerufen am 14.3.2022), wobei viele der dort lebenden Menschen nicht registriert und oftmals ohne adäquate Unterkunft dort leben, die reale Einwohnerzahl somit wohl noch höher liegen dürfte. Für die nahe Zukunft wird ein Anstieg der Einwohnerzahl auf 6,5 Millionen Einwohner prognostiziert (World Population Review, https://worldpopulationreview.com/world-cities/addis-ababa-population, abgerufen am 14.3.2022).
Angesichts des seit Jahren hohen Bevölkerungszuzugs und gleichzeitig geringer (auch staatlicher) Investitionen in den Wohnungsbau, herrscht in Addis Abeba bereits seit Jahren ein immer eklatanter werdender Mangel an Wohnraum, was entsprechend hohe Wohnungskosten zur Folge hat. Sozial- bzw. vergünstige Wohnungen sind kaum vorhanden und werden zudem oftmals unter der Hand gegen hohe Preise weitergegeben (siehe zu diesem Thema insgesamt insbesondere: CBMS – Ethiopia Poverty Profiles of Dire Dawa and Addis Abeba – 2016).
Jedoch ist dem Gericht aus den vorliegenden Erkenntnismitteln sowie aus einer Vielzahl an anderen Verfahren mit äthiopischen Staatsangehörigen bekannt, dass insbesondere ärmere Bewohner der Hauptstadt, insbesondere auch Tagelöhner oder Bettler, den steigenden Wohnungspreisen dahingehend erfolgreich begegnen, indem sie sich zu mehrköpfigen Wohngemeinschaften zusammenschließen und mit gebündelten finanziellen Mitteln Wohnraum in der Lage sind, gemeinsam Wohnraum anzumieten.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Hauptstadt weiterhin eine Vielzahl an wirtschaftlicher Betätigung ermöglicht und auch Tagelöhner und selbst Bettler derzeit grundsätzlich noch in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt dort zu sichern.
(c) Vor diesem allgemeinen Hintergrund betrachtet weist der Kläger auch keine außergewöhnlichen individuellen Umstände auf, die erwarten lassen, dass es dem Kläger – anders als vielen anderen Mittel- oder Geringverdienern in Addis Abeba – nicht gelingen wird, sein Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen.
Der größtenteils in Äthiopien (zwölf Jahre Addis Abeba; vier bis fünf Jahre Metema) aufgewachsene und sozialisierte Kläger verfügt über eine siebenjährige Schulausbildung in Äthiopien. Amharisch, die Hauptlandessprache Äthiopiens, ist seine Muttersprache.
Zudem ist es ihm bereits in der Vergangenheit in Äthiopien sowie später im Sudan über viele Jahre gelungen, durch eine Vielzahl an wirtschaftlichen Tätigkeiten in verschiedensten Bereichen und Sektoren, etwa als Händler, Bauarbeiter, Maler / Anstreicher oder in Restaurants, seinen Lebensunterhalt selbstständig zu sichern. Des Weiteren hat er in Deutschland Berufserfahrung im Gartenbau gesammelt.
Zudem spricht er neben seiner Muttersprache Amharisch sowie Tigrinya auch Englisch und Deutsch, was er im Falle einer Rückkehr ebenfalls gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt einsetzen kann, etwa in der Tourismusindustrie oder als Dolmetscher / Mitarbeiter für westliche Hilfsorganisationen oder die deutsche Auslandsvertretung.
Zudem ist der Kläger gesund und uneingeschränkt arbeitsfähig.
Auch ist die äthiopische Wirtschaft bzw. der dortige Arbeitsmarkt derzeit nicht infolge weitreichender Pandemieschutzmaßnahmen (allgemeiner oder zumindest Teil-Lockdown / Geschäftsschließungen o.Ä.) in vielen Teilen lahmgegelegt, Hotels, Gaststätten, Kinos und Clubs etc. geöffnet (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aethiopien-node/aethiopiensicherheit/209504; abgerufen am 21.06.2022).
Da sowohl seinem Sohn wie auch dessen Mutter, einer eritreischen Staatsangehörigen, in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, ist zudem davon auszugehen, dass der Kläger allein nach Äthiopien zurückkehrt und infolge dessen keinen Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seinem Sohn und gegebenenfalls seiner angeblichen Partnerin (mehr) ausgesetzt ist. Eventuell kann sogar seine angebliche Partnerin ihn von Deutschland aus finanziell unterstützen.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Kläger im Falle einer freiwilligen Rückkehr auf umfangreiche Leistungen diverser Rückkehrerprogramme zurückgreifen kann (https://www.returningformgermany.de/de/programmes; abgerufen am 18.06.2022):
Neben einer einmaligen finanziellen Starthilfe in Höhe von1.000 EUR sowie der Übernahme der Reisekosten im Rahmen des Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany (REAG) sowie des Government Assisted Repatriation Programme (GARP) sind dies u.a.:
Im Vorfeld, noch vor seiner Rückkehr nach Äthiopien: Rückkehrvorbereitende Maßnahmen (RkVM) wie etwa Coachings und Workshops in entsprechender Sprache zur Existenzgründung im Zielstaat.
Nach Ankunft in Äthiopien: Reintegrationsunterstützungen, zum einen in Form von nicht-monetären Unterstützungsleistungen wie etwa (neben der In-Empfangnahme am Flughafen u.a. auch) die Unterstützung beim Aufbau eines kleinen Unternehmens oder bei der Jobsuche sowie die Unterstützung bei der Suche nach Kontaktpersonen im Rahmen der Nolawi Services Äthiopien, sowie ggf. auch weitere finanzielle Unterstützung wie etwa die sog. 2. Starthilfe nach sechs bis acht Monaten im Rahmen des sog. StarthilfePlus-Programms.
Zudem werden im Rahmen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) für vulnerable Personen individuelle Unterstützungsleistungen durch ein Netzwerk lokaler Service Provider und Partner sowie im Rahmen der Nolawi Services Äthiopien Hilfeleistungen für Menschen in Not zur Verfügung gestellt.
Zudem verfügt der Kläger in Gestalt seiner beiden älteren Schwestern noch über ein bestehendes familiäres Netzwerk, wobei hierbei einschränkend zu berücksichtigen ist, dass diese – zumindest beim letzten Kontakt – nicht in Addis Abeba, sondern in Jigjiga (Bundesstaat Somali) sowie in Hawara (Bundesstaat SNNPR) lebten und arbeiteten.
Aufgrund der vorgenannten Faktoren (Qualifikationen / Berufserfahrung und Arbeitsfähigkeit des Klägers, Rückkehrerhilfen, keine Unterhaltslast) ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger trotz der derzeit schwierigen wirtschaftlichen Lage in Äthiopien in Addis Abeba das Existenzminimum wird sichern können.
b.
Ebenso wenig besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
(1) Liegen – wie hier – die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes wegen schlechter humanitärer Bedingungen nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung allein relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Bad.-Württ., U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris Rn. 282).
(2) Auch in Äthiopien derzeit bestehende allgemeine Gesundheitsgefahren begründen vorliegend kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Klägers. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer Ansteckung mit dem auch in Äthiopien grassierenden Sars-Cov-2-Virus und einer anschließenden COVID-19-Erkrankung.
(a) Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine (hier: Gesundheits) Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wie etwa die sämtliche Menschen in Äthiopien treffende Gefahr einer Ansteckung mit dem Sars-Cov-2-Virus und einer daran anschließenden COVID-19-Erkrankung, wird Abschiebungsschutz grundsätzlich ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
Allerdings kann ein Ausländer in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch bei Fehlen einer solchen generellen Regelung ausnahmsweise dann individuellen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund der im Zielstaat herrschenden allgemeinen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn in diesem Fall gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V. m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren.
(b) Zwar besteht auch für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien, wie für jeden anderen Menschen in Äthiopien auch, die Gefahr, sich dort mit SARS-CoV-2 anzustecken und infolge dessen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden. Jedoch ist die Gefahr hinsichtlich des Klägers nicht derart extrem, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien „sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgesetzt würde (vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 -, juris Rn. 16) und deshalb aus verfassungsrechtlichen Gründen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG entfällt.
So kann eine COVID-19-Erkrankung zwar bei schwerem Verlauf zum Tod führen oder zumindest schwere, dauerhafte bzw. lange andauernde gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Auch hängt der Grad der Gefahr, im Falle eines schweren Verlaufes zu sterben, neben individuellen Faktoren wie etwa der gesundheitlichen Disposition des Erkrankten sowie der bei Ansteckung ausgesetzten Virusmenge u.a. auch von allgemeinen Umständen wie Qualität und Kapazitäten der vor Ort vorhandenen medizinischen Behandlung (Personal / Intensivbetten / Sauerstoff etc.) sowie den vor Ort ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen ab.
Jedoch ist der Kläger jung und gesund und weist auch im Übrigen keinen Risikofaktor für einen schweren Verlauf im Falle einer Infektion auf.
(3) Individuelle Gesundheitsgefahren wurden vorliegend weder geltend gemacht noch sind diese anderweitig ersichtlich.
5.
Auch die verfügte Abschiebungsandrohung begegnet keinerlei rechtlichen Bedenken.
6.
Die in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheids ausgesprochene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots hingegen ist im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung rechtswidrig.
(1) Die Entscheidung über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist im pflichtgemäßen Ermessen zu treffen (§ 11 Abs. 3 AufenthG), das gem. § 114 Satz 1 VwGO gerichtlich überprüfbar ist.
Da für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, trifft das Bundesamt auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit seiner Befristungsentscheidung und ggf. zur Ergänzung seiner Ermessenserwägungen (vgl. BayVGH, U. v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris Rn. 67).
Bei der Ermessensausübung sind allein unter präventiven Gesichtspunkten einerseits der Zweck und das Gewicht der das Einreise- und Aufenthaltsverbots veranlassenden Verfügung oder Maßnahme und andererseits die schutzwürdigen Belange des Betroffenen zu berücksichtigen; schützenswert sind solche persönlichen Belange, die dem Ausländer eine aufenthaltsrechtlich beachtliche Rückkehrperspektive vermitteln (vgl. BVerwG, U. v. 7.9.2021 – 1 C 47/20 – juris Rn. 14). Dies ist insbesondere bei Ausländern der Fall, die im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft mit einem deutschen oder einem ausländischen langfristig aufenthaltsberechtigten Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährigem ledigen Kind leben oder eine sozial-familiäre Beziehung mit einem solchen minderjährigen Kind pflegen (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 20).
(2) Gemessen daran ist die seitens des Bundesamtes vorgenommene Befristungsentscheidung zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ermessensfehlerhaft, da das Bundesamt bislang nicht berücksichtigt, dass der Kläger mittlerweile Vater eines Sohnes geworden ist, welcher – wie auch die Mutter des Sohnes – infolge Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – über einen gesicherten formellen Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik verfügt und der Kläger bezüglich seinem Sohnes das gemeinsame Sorgerecht besitzt und auch zur Überzeugung des Gerichts dargelegt hat, dass er auch tatsächlich Kontakt zu seinem Sohn hat.
Zwar ist der Sohn des Klägers erst über zwei Jahre nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheids geboren. Jedoch ist das Bundesamt – wie oben ausgeführt – auch während des gerichtlichen Verfahrens zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit seiner Befristungsentscheidung und ggf. zur Ergänzung seiner Ermessenserwägungen verpflichtet, was jedoch vorliegend unterblieben ist.
III. 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Der Anteil des Obsiegens des Klägers hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots wiegt im Verhältnis zum Anteil seines übrigen Unterliegens vernachlässigbar gering (vgl. so auch etwa BayVGH, U. v. 8.11.2018 – 13a B 71.31960 – juris Rn. 70). Somit werden dem Kläger die Kosten des Verfahrens ganz auferlegt (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO).
Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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