Verwaltungsrecht

Afghanistan, Machtübernahme durch die Taliban, Mitwirkungspflichten im Asylverfahren, Unverzügliche Adressmitteilung, Teilklagerücknahme, Abschiebungsverbot (bejaht).

Aktenzeichen  M 25 K 17.43608

Datum:
6.7.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18671
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 10 Abs. 1
AsylG § 10 Abs. 2
VwZG § 8
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I.Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. März 2017 wird in den Nummern 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II.Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 3/4 und die Beklagte 1/4.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.   

Gründe

I. Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
II. Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes), ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
III. Die zulässige Klage ist hinsichtlich des nationalen Abschiebungsverbotes des § 60 Abs. 5 AufenthG begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid nach Afghanistan sowie das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot erweisen sich insoweit als rechtswidrig und sind damit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Klage ist zulässig. Der Kläger hat die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Hs. 2 AsylG von zwei Wochen mangels Anwendbarkeit der Zustellungsfiktion aus § 10 Abs. 2 Satz 4 Asyl nicht versäumt. Der Beginn der Klagefrist wurde erst nachträglich ausgelöst, als die Ausländerbehörde dem Kläger am 29. Mai 2017 nachträglich den Bescheid aushändigte, wodurch der Zustellungsmangel gemäß § 8 VwZG geheilt wurde. Über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war daher nicht mehr zu entscheiden.
1.1. Den ausweislich der Postzustellungsurkunde am 18. März 2017 gescheiterten Zustellungsversuch des Bescheids an die der Beklagten ursprünglich mitgeteilten Adresse in P* … musste der Kläger nicht gemäß § 10 Abs. 2 AsylG gegen sich gelten lassen.
1.1.1. Nach dieser Vorschrift muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle auf Grund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Kann die Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden, so gilt sie dennoch mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt (§ 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG). Diese Zustellungsfiktion kann jedoch nur eintreten, wenn für das Fehlschlagen der Übersendung eine Verletzung der Mitwirkungspflichten des Asylbewerbers, insbesondere die Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung eines Adresswechsels nach § 10 Abs. 1 AsylG, ursächlich war. Dabei fehlt es jedoch an der Ursächlichkeit, wenn die Frist für die Anschriftenmitteilung noch nicht abgelaufen ist (vgl. VG Düsseldorf U.v. 16.1.2006 – 25 K 6796/04 – BeckRS 2006, 22231; Bruns in NK-AuslR, 2. Auflage 2016, § 10 Rn. 29). Für die Anwendung der Vorschrift ist daher kein Raum, wenn den Asylbewerber hinsichtlich seiner Mitwirkungspflichten – insbesondere vor dem Hintergrund der Beschleunigung des Verfahrens – keine Pflichtverletzung trifft.
1.1.2. Daran gemessen ist die Fiktion hier nicht einschlägig, da der Kläger jedenfalls zum Zeitpunkt der Aufgabe des Bescheids zur Post seine Mitwirkungspflichten im Asylverfahren (noch) nicht verletzt hat. Ob der Kläger insoweit ausreichend über seine Mitwirkungspflichten im Asylverfahren belehrt wurde, kann das Gericht daher dahinstehen lassen.
Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt eine „unverzügliche“ Anzeige eines Wechsels der Anschrift i.S.d. § 10 Abs. 1 Hs. 2 AsylG vor, wenn der Ausländer den Anschriftenwechsel bei den im Gesetz genannten Stellen binnen zwei Wochen, gerechnet ab dem tatsächlichen Umzugstag, angezeigt hat (BVerwG U.v. 14.12.2021 – 1 C 40/20 – NvwZ 2022, 799).
Der Kläger zog laut seinen eigenen unbestrittenen Angaben am 9. März 2017 in die Einrichtung nach G* … Gemäß dem Aktenvermerk wurde der Bescheid am 17. März 2017 zur Post gegeben. Die Zustellung des Bescheids am 18. März 2017 an der Adresse in P* … blieb erfolglos. Demnach hat der Kläger zum Zeitpunkt der Aufgabe des Bescheids zur Post und des gescheiterten Zustellungsversuchs acht bzw. neun Tage nach Umzug (noch) nicht seine aus § 10 Abs. 1 AsylG resultierende Pflicht verletzt, seinen Adresswechsel der Beklagten unverzüglich, das heißt innerhalb von zwei Wochen, zu melden. Vor diesem Hintergrund konnte die gescheiterte Zustellung auch nicht auf einer Verletzung der Mitwirkungspflichten des Klägers beruhen. Die Tatsache, dass der Kläger die Adressmeldung innerhalb der verbleibenden Frist nicht mehr nachholte begründet zwar einen Verstoß gegen seine Mitwirkungspflichten. Dieser Verstoß war aber nicht mehr ursächlich für die bereits erfolgte, gescheiterte Zustellung des Bescheids (vgl. dazu diese Frage offenlassend BVerwG U.v. 1.12.2021 – 1 C 40/20 – NVwZ 2022, 799 m.w.N.).
1.2. Eine Heilung der fehlerhaften Zustellung des Bescheids erfolgte indes am 29. Mai 2017 durch die Aushändigung einer Kopie des Bescheids an den Kläger durch einen Mitarbeiter des Bundesamts (§ 8 VwZG). Mit Eingang der Klage bei Gericht am 9. Juni 2017 wahrte der Kläger somit auch unabhängig von einer etwaigen unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrungdie gemäß § 74 AsylG zweiwöchige Klagefrist ab nachträglichem Zugang des Bescheids.
2. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans sind erfüllt.
2.1 Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S.685; Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Umfasst wird davon auch das hier allein noch streitgegenständliche Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.v. Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, U.v.4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 11). Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden ergeben (BVerwG, U.v.31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12).
Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Diese Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51; BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111f.).
Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 43). In zeitlicher Hinsicht kommt es dabei auf die absehbare Zeit nach der Rückkehr an. Es ist nicht erforderlich, dass das Existenzminimum des Klägers in seinem Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Maßstab für die Gefahrenprognose ist vielmehr, ob der Kläger nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährten Rückkehrhilfen, in der Lage ist, die oben genannten elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022).
2.2. Hiervon ausgehend droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und angesichts der derzeitigen Verhältnisse in Afghanistan nicht imstande sein wird, seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene auf legalem Weg zu sichern.
Die wirtschaftliche und damit einhergehende humanitäre Situation in Afghanistan ist aktuell und auf unabsehbare Zeit, vor allem für Rückkehrer, besorgniserregend.
Die wirtschaftliche und humanitäre Lage der Bevölkerung in Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban in besorgniserregendem Maß schlecht. Dennoch war in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in der Zeit vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 davon auszugehen, dass trotz der Covid-19-Pandemie für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige angesichts der damaligen Auskunftslage im Allgemeinen weiterhin nicht von einer Gefahrenlage auszugehen war, die ohne Weiteres zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde; ein junger und gesunder Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen sei trotz der Covid-19-Pandemie weiterhin in der Lage, in Afghanistan das Existenzminimum zu erwirtschaften. Dies gelte auch für arbeitsfähige Männer ohne nennenswertes Vermögen und ohne stützendes Netzwerk in Afghanistan. Auch auf einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland komme es nicht an, es sei vielmehr ausreichend, dass eine Verständigung in einer der Landessprachen möglich ist. (BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris Rn. 47; B.v. 5.1.2021 – 13a ZB 20.30103 – mit Verweis auf U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 23). Zwar zähle Afghanistan zu einem der ärmsten Länder der Welt und sei auch von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie schwer getroffen. Neben einem für die zweite Jahreshälfte 2021 erwarteten Preisrückgang durch die neue Ernte und staatlichen Programme zur Verteilung von Paketen würden humanitäre Nothilfen in beträchtlichem Ausmaß erwartet. Überdies könne auf umfangreiche Rückkehrhilfen zurückgegriffen werden, mit deren Hilfe ein Rückkehrer sein Leben jedenfalls über ein Jahr lang in Afghanistan finanzieren könne. Dazu kämen noch erhebliche Sachleistungen zur Unterstützung der Reintegration im Heimatland, wie medizinische Unterstützung, Migrationsberatung und Rehintegrationsangebote, die bei der Jobsuche, bei beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen, der Existenzgründung und sozialen Fragen – unter anderem zu Wohnung, Schule und Gesundheitsversorgung – unterstützten. Es sei danach davon auszugehen, dass ein volljähriger alleinstehender und arbeitsfähiger afghanischer Rückkehrer den Zeitraum, in dem sein Existenzminimum allein durch Rückkehrhilfen in Form von Geldleistungen sichergestellt sei, erfolgreich nutzen könne, um sich eine neue Existenzgrundlage und gegebenenfalls auch ein neues soziales Unterstützungsnetzwerken Afghanistan – gerade in Kabul – zu schaffen und insbesondere die Erschwernisse der aktuellen Covid-19-Pandemie zu überwinden.
Diese Verhältnisse können jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr zugrunde gelegt werden. Soweit in den gerade genannten Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Rückkehrhilfen bei der Beurteilung der Bestreitung des Existenzminimums in Afghanistan miteinbezogen werden, ist zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG) zu berücksichtigen, dass in der Folge der Machtübernahme durch die Taliban die Rückkehrhilfen ab dem 17. August 2021 bis auf Weiteres „eingefroren“ wurden (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).
Der erkennende Einzelrichter ist unter Berücksichtigung der vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (vgl. etwa EASO Afghanistan County focus, County of Origin, Information Report, January 2022; EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021; Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021; BAMF, Briefing Notes; UNHCR, Positions on return to Afghanistan, August 2021; UNHCR Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022 und Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021; UN-OCHA, Strategic situation reports; Afghanistan analysts network, Report v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin) sowie der genannten Grundsätze davon überzeugt, dass der Kläger den hohen Anforderungen, denen er im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan im gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt ausgesetzt wäre, nicht gewachsen und damit ein besonderer Ausnahmefall im Sinne der oben genannten Rechtsprechung zu bejahen ist. Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Mit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban über nahezu das gesamt Land, zuletzt durch die Einnahme der Stadt Kabul am 15. August 2021, und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. etwa Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022 und Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021 und Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 4), was Folgen für die humanitären Verhältnisse und hier vor allem entscheidend für die Situation von Rückkehrern, insbesondere aus westlichen Staaten, hat.
Afghanistan ist mit einem weitreichenden wirtschaftlichen Kollaps und einer humanitären Krise von noch nie dagewesenem Ausmaß konfrontiert (UNHCR, Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022, S. 1). Auch wenn die Regierung der Taliban einige kleine Schritte zur Bewältigung der Krise unternommen und teilweise die Arbeit mit NRG und UN-Organisationen aufgenommen hat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022, s. 156), ist mehr als die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von akuter Nahrungsunsicherheit betroffen und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen prognostiziert, dass die afghanischen Wirtschaft innerhalb eines Jahres nach der Machtübernahme der Taliban um 20% schrumpfen wird und hat davor gewarnt, dass 97% der afghanischen Bevölkerung bis Mitte des Jahres 2022 unter die Armutsgrenze fallen könnten (UNHCR, Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022, S. 1, WFP Afghanistan, Situation Report, 24.2.2022). Betroffen sind dabei alle 34 Provinzen und die Bevölkerung in städtischen Gebieten ist ähnlich betroffen wie in den ländlichen (WFP Afghanistan, Situation Report, 2.12.2021 und 10.2.2022 und 24.2.2022).
Bereits die durch die Machtübernahme der Taliban ausgelöste politische Instabilität und der Nachfragedruck bei Fremdwährungen führten zu einem deutlichen Anstieg des Wechselkurses und der Afghani fiel auf ein neues Rekordtief. Die ohnehin schon hohen Preise für Lebensmittel, Benzin und Holz hatten sich seit Mitte August bereits verdoppelt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 4.10.2021 und 18.10.2021) und sind, obwohl die Afghanische Zentralbank den starken Fall des Werts des Afghani am 13. Dezember 2021 nach einem Sturz um fast 12% am Vortag aufhalten konnte, erneut stark gestiegen (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 20.12.2021). Auch wenn Anfang Februar 2022 ein Absinken der Preise für Getreide, Mehl, Speiseöl, Reis und Zucker zu verzeichnen ist, sind diese doch noch signifikant höher als im Juni 2021 (WFP, vam food security analysis, 07.02.2022). Das Einkommen der „einfachen Arbeiterhaushalte“ ist dagegen coronabedingt wegen eingeschränkter Erwerbsmöglichkeiten um rund 19% und anschließend aufgrund der durch die Machtübernahme ausgelösten Instabilität weiter gesunken und, auch wenn derzeit ein Gegentrend zu verzeichnen ist, auf extrem niedrigen Stand (vgl. UN-OCHA, Strategic situation report: Covid 19, No. 92, 11.3.2021, S. 3 und WFP, vam food security analysis, 30.11.2021 und 07.02.2022). Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig waren, haben ihre Einkommensquellen verloren (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 5 und zu alledem EASO Afghanistan County focus, County of Origin, Information Report, January 2022).
Auch wenn dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt sind, in denen Rückkehrende aus Europa nachweislich aufgrund ihres dortigen Aufenthalts Opfer von Gewalttaten wurden, wurden sie doch nach den vorliegenden Erkenntnissen bereits vor der Machtübernahme der Taliban von der afghanischen Gesellschaft teilweise misstrauisch wahrgenommen und es haftete ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familie oftmals der Makel des Scheiterns an. Es war im Falle eines langen Aufenthalts im Ausland wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt war, wodurch die Reintegration stark erschwert werden konnte. Die größte Schwierigkeit stellte für einen Großteil der Rückkehrer der Mangel an Arbeitsplätzen dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhing (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan v. 15.7.2021, S. 24 und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022, S. 178f).
Auch für die Zeit seit der Machtübernahme durch die Taliban gibt es nur begrenzte Informationen, was als „verwestlicht“ angesehene Personen zu erwarten haben (vgl. EASO, country guidance, Afghanistan, common analysis and guidance note, November 2021, S. 85). Es ist jedoch davon auszugehen, dass Rückkehrende aufgrund der mit dem in (vormaligen) gewaltsamen Konflikt verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen familiären und sozialen Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, Seite 14 und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022, S. 179).
Insgesamt hat Afghanistan mit einer steigenden Inflation, einer geschwächten Währung, steigender Arbeitslosigkeit, einer Liquiditätskrise und Verknappung essentieller Güter zu kämpfen (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 6; BAMF, Briefing Notes v. 27.12.21). Zwar wurde im Rahmen der Konferenz in Oslo von den Vereinten Nationen das Transitional Engagement Framework aus der Taufe gehoben und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen verteilt Getreidesamen an über eine Million Bauern, um den Konsequenzen der Dürre in 2021 entgegenzuwirken (BAMF, Briefing Notes, 31.1.2022, S. 3). Allerdings benötigt laut Bundesamt das Transitional Engagement Framework noch 3,6 Milliarden US-Dollar, um 22 Millionen Menschen das Überleben zu sichern und für 2022 die Bereiche Bildung und Gesundheitssystem bezahlen zu können und die Taliban missbrauchen laut einer Meldung vom 25. Januar 2022 Hilfslieferungen, um Mitglieder ihres „Food for Work“-Programms auszuzahlen. Es ist also angesichts der derzeit desaströsen Lage weder absehbar, inwieweit die bisherige Hilfe ausreichen wird noch inwieweit die internationalen Hilfsorganisationen, deren Mitarbeiter in der Vergangenheit bevorzugt Ziel von Gewalt gerade der Taliban waren, auf absehbare Zeit in der humanitären Krise tatsächlich Unterstützung leisten können (vgl. BAMF, Briefing Notes, 27.12.2021, Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 5; VG München, U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335 – UA Rn. 29).
Binnenvertriebene und Rückkehrer sind von der humanitären Krise mit am stärksten betroffen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat aufgrund der volatilen Lage die Staaten aufgefordert, die Rückführung afghanischer Flüchtlinge so lange zu stoppen, bis sich die Sicherheitslage und die Menschenrechtsbedingungen dahin verbessert haben, dass eine sichere und menschenwürdige Rückkehr möglich ist (UNHCR, Position on returns to Afghanistan, August 2021).
Derzeit kann schon aus tatsächlichen Gründen keine Abschiebung aus Deutschland erfolgen, die Rückführungen aus Deutschland und anderen EU-Staaten sind gegenwärtig ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 14). Auch die dringend erforderlichen internationalen und nationalen Hilfsleistungen zur Rückkehr und Reintegration werden auf unabsehbare Zeit ausbleiben. So musste die Internationale Organisation für Migration (IOM) aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021; Afghanistan – Länderinformationen (returningfromgermany.de) und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022, S. 179). Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan und der weitreichenden humanitären Notlage im Land fordert UNHCR die Staaten auch weiterhin dazu auf, zwangsweise Rückführungen auszusetzen (UNHCR, Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, Februar 2022, S. 8).
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf die individuellen Umstände des Klägers. Selbst wenn es ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gelingen sollte, dort noch Familienangehörige zu erreichen und diese ihn aufnähmen, ist angesichts der desolaten Wirtschaftslage in Afghanistan zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. HS AsylG) nicht davon auszugehen, dass sie auch bereit und vor allem imstande sind, den Kläger zu unterstützen. Vielmehr würde von ihm als erwachsenem Mann erwartet, dass er maßgeblich zur Versorgung der Familie beiträgt und nicht, dass er auf deren Kosten lebt (vgl. VG München, U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335 – UA Rn. 46). Es ist derzeit im Ergebnis davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan niemanden hat, der ihn hinreichend (finanziell) unterstützen kann oder durch Kontakte und Beziehungen den Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt erleichtern könnte.
Auch wenn der Kläger aber ein familiäres oder auch nur soziales Netzwerk auffinden sollte, spricht derzeit wenig dafür, dass er eine bezahlte Arbeit finden wird. Der Kläger befindet sich seit über sechs Jahren in Deutschland, so dass davon auszugehen ist, dass ihm die entsprechenden Regeln, Sozial- und Verhaltenskodizes im Umgang vor Ort nicht oder jedenfalls nicht mehr in einer Weise vertraut sind, als dass er dem ihm – nun als Rückkehrer aus dem Westen – entgegengebrachten Misstrauen und den Vorurteilen durch die Bevölkerung, gegebenenfalls auch vonseiten der weiteren Familie und insbesondere potentieller Arbeitgeber etwas entgegenzusetzen hätte (vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, 11.6.2021, S. 390ff und EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021, S. 85). Nach den Erkenntnissen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind einer Umfrage zufolge 65% der Befragten arbeitslos und nur 23% der Befragten durchgehend beschäftigt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, 24.1.2022, S. 2). Es sei zwar den aktuellen Erkenntnissen zufolge die Arbeit von Tagelöhnern gleichgeblieben, allerdings sei es schwerer Arbeit zu finden, auch wenn im Februar 2022 die Nachfrage nach Arbeit leicht von 2,2 Tagen im Januar auf 2.3 Tage pro Woche für gelernte Arbeitskräfte und von 1,9 auf 2,2 Tage für ungelernte Arbeitskräfte gestiegen ist (Weltbank, Afghanistan economic monitor, 14.3.2022, S. 1). Das United Nations Development Program erwarte, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln werde, während die Löhne Jahr für Jahr um 8 bis 10% sinken werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022, A. 165). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger eine bezahlte Arbeit und sei es auch nur als Tagelöhner finden wird.
Er kann, wie bereits ausgeführt, auch nicht auf Rückkehrhilfen zurückgreifen, die neben finanziellen Hilfen für einen begrenzten Zeitraum selbst eine Unterkunft bereitstellen oder bei der Suche behilflich sind, da diese aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan seit dem 17. August 2021 ausgesetzt sind (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).
Unter Zugrundelegung dieser Umstände sprechen nach Auffassung des erkennenden Einzelrichters stichhaltige Gründe dafür, dass der Kläger seinen existenziellen Lebensunterhalt mit beachtlicher Sicherheit nicht an seinem ursprünglichen Heimatort und erst recht nicht an einem anderen Ort in Afghanistan wird sicherstellen können, so dass die Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu bejahen sind.
Ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
3. Da der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben war, sind auch die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nummer 5 und 6 des Bescheids aufzuheben (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
IV. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO und soweit die Klage zurückgenommen wurde aus § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung und in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60.08 – juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
V. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.
Soweit das Verfahren eingestellt wurde, ist die Entscheidung unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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