Verwaltungsrecht

Androhung der Entlassung von der Schule

Aktenzeichen  M 3 K 15.3764

Datum:
27.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVerf BayVerf. Art. 131
BayEUG BayEUG Art. 58 Abs. 1 S. 3, Art. 86 Abs. 2 S. 1 Nr. 8

 

Leitsatz

1. Im Hinblick darauf, dass die Androhung der Entlassung eine der schwerwiegendsten Ordnungsmaßnahmen darstellt, die die Schule selbst verhängen kann, hat sich die Entscheidung, ob diese oder eine weniger einschneidende Ordnungsmaßnahme ausgesprochen wird, daran zu orientieren, ob ein Verhalten des Schülers im Hinblick auf die unbeeinträchtigte Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule oder wegen des Schutzes Dritter nicht mehr hingenommen werden kann und dem Schüler in dieser Deutlichkeit und Konsequenz vor Augen geführt werden muss, dass sein Verhalten nicht geduldet werden kann. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Gerichte haben den gegen eine verfügte Entlassung aus der Schule erhobenen Einwendungen nachzugehen und die pädagogische Bewertung der Schule auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen, wobei sie insbesondere zu kontrollieren haben, ob die Androhung der Entlassung gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstößt. Der gerichtlichen Überprüfung unterliegt es ferner, ob die Schule frei von sachfremden Erwägungen entschieden hat und ob sie ihre Entscheidungen auf Tatsachen und Feststellungen gestützt hat, die einer sachlichen Überprüfung standhalten (wie BayVGH BeckRS 1993, 06031). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die Wahl der Ordnungsmaßnahme unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit kommt es vor allem darauf an, ob und in welchem Maße die Erfüllung des Anstaltszwecks gestört oder gefährdet und die Erziehungsverantwortung der Schule beeinträchtigt wurde, wie sie in Art. 131 BV, Art. 1, Art. 2 BayEUG niedergelegt ist (wie BayVGH BeckRS 1993, 06031). (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Lehrerkonferenz bzw. der Disziplinarausschuss als deren Unterausschuss hat darauf zu achten, dass die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung aus der Schule zur Schwere des zu ahndenden oder zu unterbindenden Verhaltens eines Schülers nicht außer Verhältnis steht. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 17. April 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. August 2015 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet.
Der Bescheid des …Gymnasiums München vom 17. April 2015 und der Widerspruchsbescheid vom 5. August 2015 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Durchgreifende formelle Fehler im Rahmen des Disziplinarverfahrens sind nicht ersichtlich. Gemäß Art. 58 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 BayEUG in der im Schuljahr 2014/2015 maßgebliche Fassung (im Folgenden BayEUG a.F.) fiel die Entscheidung in die Zuständigkeit des – insoweit die Aufgaben der Lehrerkonferenz wahrnehmenden – Disziplinarausschusses der Schule. Den vorgelegten Unterlagen ist zu entnehmen, dass er – wie vorgeschrieben – gemäß § 9 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 der Schulordnung für die Gymnasien in Bayern (GSO) vom 23. Januar 2007 (GVBl S. 68), zuletzt geändert am 1. Juli 2016 (GVBl S. 193), mit der vollen Zahl seiner neun Mitglieder entschieden und mit einer Gegenstimme die Androhung der Entlassung beschlossen hat.
Der Kläger wurde auch ordnungsgemäß im Verfahren bezüglich der verhängten Ordnungsmaßnahmen beteiligt. Ihm und seinen Eltern wurde vor Erlass des Bescheids mit Schreiben vom 23. März 2015 Gelegenheit zur persönlichen Äußerung auch vor dem Disziplinarausschuss bezüglich des vorgeworfenen Fehlverhaltens gegeben (Art. 86 Abs. 9 Satz 2 BayEUG a.F.). Die Eltern des Klägers wurden auch persönlich vor dem Disziplinarausschuss angehört. Zudem wurde der Kläger auf die ihm gemäß Art. 86 Abs. 9 Satz 3, Abs. 10 Satz 1 BayEUG a.F. eröffnete Möglichkeit, eine Lehrkraft seines Vertrauens einzuschalten, sowie den Elternbeirat beizuziehen, hingewiesen.
In materieller Hinsicht ist die Entscheidung des Disziplinarausschusses wegen unvollständiger Berücksichtigung des zugrundeliegenden Sachverhalts und wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rechtswidrig.
Die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung von der Schule, die ihre Rechtsgrundlage (im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung) in Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 BayEUG a. F. findet, darf nach Art. 86 Abs. 7 BayEUG a.F. nur verhängt werden, wenn ein Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgabe der Schule oder die Rechte anderer gefährdet hat.
Im Hinblick darauf, dass die Androhung der Entlassung eine der schwerwiegendsten Ordnungsmaßnahmen darstellt, die die Schule selbst verhängen kann, hat sich die Entscheidung, ob diese oder eine weniger einschneidende Ordnungsmaßnahme ausgesprochen wird, daran zu orientieren, ob ein Verhalten des Schülers im Hinblick auf die unbeeinträchtigte Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule oder wegen des Schutzes Dritter nicht mehr hingenommen werden kann und dem Schüler in dieser Deutlichkeit und Konsequenz vor Augen geführt werden muss, dass sein Verhalten nicht geduldet werden kann. Diese Beurteilung entzieht sich einer vollständigen Erfassung nach rein rechtlichen Kriterien und bedingt sachnotwendig einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren pädagogischen Wertungsspielraum. Trotz dieser Grenzen der gerichtlichen Kontrolle haben die Gerichte aber den gegen die Entlassung erhobenen Einwendungen nachzugehen und die pädagogische Bewertung der Schule auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Sie haben insbesondere zu kontrollieren, ob die Androhung der Entlassung gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstößt. Der gerichtlichen Überprüfung unterliegt es ferner, ob die Schule frei von sachfremden Erwägungen entschieden hat und ob sie ihre Entscheidungen auf Tatsachen und Feststellungen gestützt hat, die einer sachlichen Überprüfung standhalten (vgl. BayVGH, B. v. 2.9.1993 – 7 CS 93.1736 -, BayVBl 1994, 346).
Für die Wahl der Ordnungsmaßnahme unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit kommt es vor allem darauf an, ob und in welchem Maße die Erfüllung des Anstaltszwecks gestört oder gefährdet und die Erziehungsverantwortung der Schule beeinträchtigt wurde, wie sie in Art. 131 BV, Art. 1, 2 BayEUG a.F. niedergelegt ist (vgl. BayVGH v. 2.9.1993 a.a.O.). Die Wahl der Ordnungsmaßnahme erweist sich damit als eine pädagogische Ermessensentscheidung. Hierbei hat die Lehrerkonferenz bzw. der Disziplinarausschuss als deren Unterausschuss darauf zu achten, dass die Ordnungsmaßnahme der Androhung der Entlassung zur Schwere des zu ahndenden oder zu unterbindenden Verhaltens eines Schülers nicht außer Verhältnis steht. Die Androhung der Entlassung greift empfindlich in die Rechtsstellung des betroffenen Schülers ein und ist mit nicht unerheblichen Nachteilen für ihn verbunden.
Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen erweist sich die von der Schule getroffene Ordnungsmaßnahme als rechtswidrig Es ist den Akten und den Schilderungen der Beteiligten nicht nachvollziehbar zu entnehmen, dass beim Kläger dieses ihm im Bescheid vom 17. April vorgeworfene Fehlverhalten vorgelegen hat. Darin wurde ihm im Wesentlichen vorgeworfen, durch sein Verhalten eine Fortsetzung des Unterrichts unmöglich gemacht zu haben, seine Weigerung eine massive Störung des Schulbetriebs dargestellt habe, er sich den grundlegendsten Anstandsregeln verweigert und er sich klar geäußerten Aufforderungen vor aller Augen widersetzt habe.
Zwar ergibt sich aus der Schilderung der Lehrerin in der mündlichen Verhandlung, dass der Kläger in nicht unerheblicher Weise den Unterricht gestört hat und sich sowohl der Aufforderung der Lehrerin, in die Auszeit zu gehen, als auch der nochmaligen gleichlautenden Aufforderung durch den herbeigerufenen Schulleiter widersetzt hat. Das Gericht verkennt nicht, dass insoweit ein erhebliches Fehlverhalten des Klägers vorlag, dieses allein rechtfertigt jedoch noch nicht eine so schwerwiegende Maßnahme wie die Androhung der Entlassung, insbesondere wenn der Schüler vorher lediglich einen Verweis erhalten hatte, nachdem der zweite verhängte Verweis nach dem unbestrittenen Vortrag des Klägers dessen Eltern erst in der Sitzung des Disziplinarausschusses übergeben wurde.
Dahingestellt bleiben kann bei der Beurteilung des Fehlverhaltens des Klägers die Frage, ob es sich bei der Aufforderung, in die Auszeit zu gehen, also den Unterricht zu verlassen, um eine rechtmäßige Maßnahme handelt, oder ob darin eine verdeckte Ordnungsmaßnahme (des zeitweiligen Ausschlusses vom Unterricht) vorliegt, die nicht vom Katalog des Art. 86 Abs. 1 BayEUG a.F. gedeckt ist. Unabhängig von dieser Frage hat ein Schüler grundsätzlich den Anweisungen von Lehrkräften Folge zu leisten (Art. 56 Abs. 4 BayEUG a.F.).
Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob die Schule bei Erlass der Ordnungsmaßnahme das Verhalten des Klägers richtig beurteilt hat, insbesondere, ob sich der Kläger tatsächlich bewusst und vorsätzlich den Anweisungen der Lehrkräfte widersetzt hat. Diese Zweifel ergeben sich insbesondere daraus, dass in der im Protokoll der Disziplinarausschusssitzung angesprochenen und diesem als Anlage 2 beigefügten Pausenbeobachtung vom … 2015 zu entnehmen ist, dass der Kläger unter dem Druck – in diesem Fall von Mitschülern – auf dem Boden und dann auf der Bank hockte, immer mehr in sich zusammensank, seinen Kopf in den Händen verbarg und es nicht mehr fertigbrachte, aufzublicken. Diese Reaktion des Klägers entspricht genau der Schilderung des Schulleiters in der Sitzung des Disziplinarausschusses, wonach der Kläger nach der Aufforderung, mit dem Schulleiter nach draußen zu gehen, weiterhin mit gesenktem, in den Händen verborgenem Gesicht sitzen geblieben sei. Es liegt deshalb nahe, dass sich der Kläger unter dem Druck des Schulleiters in der gleichen hilflosen Situation sah wie unter dem Druck der Mitschüler und in der gleichen hilflosen Art reagierte, dass sein Verhalten somit nicht eine bewusste Konfrontation darstellte, sondern letztlich Ausdruck seiner Überforderung war. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass er das Verfahren des „In-die-Auszeit-geschickt-werdens“ bereits gekannt habe. Denn die konkrete Situation vom … 2015 unterschied sich gerade dadurch, dass der Schulleiter zur Unterstützung der Lehrkraft hinzukam. Bei der Beurteilung eines gezeigten Verhaltens ist auf die konkrete Person des Schülers abzustellen, nicht auf die Frage, wie sich zehnjährige Schüler in aller Regel verhalten. Dass die fortgesetzte Weigerung des Klägers, „in die Auszeit zu gehen“, tatsächlich auf einer bewussten und gewollten Oppositions- und Verweigerungshaltung beruhte, ist daher nicht eindeutig belegt..
Darüber hinaus ist auch nicht erkennbar, dass der Kläger durch sein Verhalten eine Fortsetzung des Unterrichts unmöglich gemacht hat. Dieser ist wohl erst aufgrund des Holens des Schulleiters unterbrochen worden und konnte nach der Aussage der Lehrerin in der mündlichen Verhandlung fortgesetzt werden, nachdem der Schulleiter das Zimmer verlassen hatte.
Neben den Zweifeln an der richtigen Beurteilung der Motivation des klägerischen Fehlverhaltens ist auch fraglich, ob sich der Disziplinarausschuss bei seiner Entscheidung über den tatsächlichen Umfang seiner Entscheidungsmöglichkeiten im Klaren war. Denn ausweislich des Protokolls wurde in der Sitzung des Disziplinarausschusses die Aussage getroffen, wenn man das Verhalten des Klägers als Störung eines geordneten Schulbetriebs bewerte, kämen unter Zugrundelegung von Art. 86 Abs. 7 BayEUG a.F. die Entlassung oder die Androhung der Entlassung als Ordnungsmaßnahme in diesem Fall in Frage. Diese Einschätzung hat der Schulleiter auch in der mündlichen Verhandlung wiederholt.
Art. 86 Abs. 7 BayEUG a.F. besagt jedoch lediglich, dass Ordnungsmaßnahmen nach Abs. 2 Satz 1 Nrn. 6 bis 10 nur zulässig sind, wenn die Schülerin oder der Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgabe der Schule oder die Rechte anderer gefährdet hat. Danach ist keinesfalls ausgeschlossen, dass je nach Beurteilung des Einzelfalles auch andere Ordnungsmaßnahmen in diesen Fällen verhängt werden können, auch wenn diese nicht im gesamten Umfang des Katalogs des Art. 86 Abs. 2 Satz 1 BayEUG a.F. zur Verfügung standen.
Aus den dargestellten Gründen war der Klage daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für notwendig zu erklären, da es dem Kläger und seinen Eltern nach deren persönlichen Verhältnissen nicht zugemutet werden konnte, das. Vorverfahren allein zu betreiben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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