Verwaltungsrecht

Anforderungen an die Amtsermittlung bei einem Zweitantrag

Aktenzeichen  M 21 S 17.43254

Datum:
23.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 26a, § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 36 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 S. 1, § 71a Abs. 1, Abs. 4
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1 § 71a AsylG setzt voraus, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat (ebenso VG München  BeckRS 2017, 102497; VG Schleswig BeckRS 2016, 52164; VG Schwerin BeckRS 2016, 49930; VG Wiesbaden  BeckRS 2016, 48782). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Verweis auf die Angaben des Antragstellers bezüglich eines erfolglosen Ausgangs eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat genügt für die Anwendung des § 71a AsylG nicht, da der Antragsteller idR nicht in der Lage ist, über den Verfahrensablauf ausreichend Auskunft geben zu können (BayVGH BeckRS 2016, 41335). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Mai 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der nicht ausgewiesene Antragsteller ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger. Er reiste am 14. März 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 3. April 2013 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei einer Befragung zur Vorbereitung der Anhörung erklärte der Antragsteller gegenüber dem Bundesamt, er habe in Italien bereits Asyl bzw. die Anerkennung als Flüchtling beantragt. Er habe eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen bekommen. Die Entscheidung stehe noch aus.
Auf ein Übernahmeersuchen des Bundesamtes reagierte der Mitgliedstaat Italien trotz mehrfacher Versuche nicht.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 27. Februar 2014 wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet. In den Gründen des Bescheides heißt es, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Italien auf Grund des dort bereits gestellten Asylantrags gem. Art. 20 Abs. 1 lit. c Dublin II VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei.
Hiergegen erhob der Antragsteller Klage und beantragte die Anordnung deren aufschiebender Wirkung (M 16 K 14.50036 und M 16 S. 14.50037).
Der Antrag wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 22. Mai 2014 abgelehnt. Mit Urteil des Gerichts vom 21. Oktober 2015 wurde der Bescheid des Bundesamtes vom 27. Februar 2014 schließlich aufgehoben. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei aufgrund des zwischenzeitlichen Ablaufs der Überstellungsfrist und des hierdurch bedingten Zuständigkeitsübergangs rechtswidrig geworden.
Der Antragsteller wurde schließlich am 7. März 2017 vor dem Bundesamt persönlich angehört. Auf Nachfrage zum Ergebnis seines in Italien gestellten Asylantrages erklärte er, er habe ein permesso di soggiorno gehabt, das ein Jahr gültig gewesen sei. Er habe Italien verlassen müssen und habe einen Brief, dass er nicht dorthin zurückdürfe. Auf eine erneute schriftliche Befragung nach der Anhörung, erklärte der Antragsteller am 8. Mai 2017 durch seinen Bevollmächtigten, sein Antrag auf internationalen Schutz im Mitgliedstaat sei abgelehnt worden, ihm sei jedoch humanitärer Schutz gewährt worden.
Das Bundesamt lehnte den Antrag des Antragstellers schließlich mit Bescheid vom 23. Mai 2017 als unzulässig ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung nach Nigeria wurde angedroht. Schließlich wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des AufenthG auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es handele sich bei dem erneuten Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland um einen Zweitantrag im Sinne des § 71 a AsylG, da der Antragsteller bereits in einem sicheren Drittstaat gemäß § 26 a AsylG ein Asylverfahren erfolglos betrieben habe. Durch Vorlage des permesso di soggiorno habe der Antragsteller dargelegt, dass das Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz in Italien erfolglos abgeschlossen worden sei. Das Personaldokument (permesso di soggiorno: „motivi umanitari“) sei für die Feststellung des Abschlusses des Asylverfahrens in Italien schon alleine hinreichend aussagekräftig. Der Antragsteller habe keine neuen Asylgründe vorgetragen. Eine Änderung der Sach- oder Rechtslage sei nicht ersichtlich.
Hiergegen erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten am 31. Mai 2017 Klage (M 21 K 17.43252), mit der er (sinngemäß) beantragt, den Bescheid des Bundesamts vom 23. Mai 2017 aufzuheben und festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
Zugleich beantragt er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung trägt er vor, er stehe kurz vor der Eheschließung mit der Mutter seines erstgeborenen Kindes, die zudem erneut schwanger sei.
Die Antragsgegnerin hat mit Schreiben vom 26. Juli 2017 die Behördenakten vorgelegt. Eine Äußerung erfolgte weder zum Klagenoch zum Eilverfahren.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowohl in diesem als auch im Klageverfahren sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.
Der Antrag ist zulässig, soweit damit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 75 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 AsylG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids erreicht werden soll. Die Antragstellung erfolgte auch fristgerechnet innerhalb der Wochenfrist des § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß §§ 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Dies ist hier im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) der Fall.
Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen. Andernfalls ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
§ 71a AsylG setzt damit den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 22ff; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 24ff). Hierbei muss – entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Antragsgegnerin – der vorangegangene negative Ausgang eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Eine solche Prüfung beinhaltet unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat (vgl. VG München, B. v. 30.1.2017 – M 23 S. 16.34550 – juris; B.v. 27.12.2016 – M 23 S. 16.33585 – juris; VG Schleswig-Holstein, B.v. 7.9.2016 – 1 B 54/16 – juris Rn. 7 ff; VG Schwerin, U.v. 8.7.2016 – 15 A 190/15 – juris Rn. 18; VG Wiesbaden, B.v. 20.6.2016 – 5 L 511/16.WI.A – juris Rn. 20, BeckOK AuslR/Schönenbroicher, AsylG, § 71a Rn. 1f).
Der Antragsteller hat zwar zuletzt angegeben, dass sein Asylantrag in Italien abgelehnt worden sei und in der vorgelegten Behördenakte ist ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 für Italien dokumentiert. Auch findet sich in der Akte des Bundesamtes eine Kopie des permesso di soggiorno, aus der sich ergibt, dass dem Antragsteller humanitärer Schutz in Italien gewährt worden ist. Darüber hinaus liegen Erkenntnisse jedoch nicht vor bzw. sind zumindest in der vorgelegten Behördenakte nicht dokumentiert.
Lediglich der Verweis auf die Angaben des Antragstellers bezüglich eines erfolglosen Ausgangs eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat genügt für die Anwendung des § 71a AsylG nicht. Der Antragsteller ist auch in der Regel nicht in der Lage, über den Verfahrensablauf ausreichend Auskunft geben zu können (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22). Die Antragsgegnerin ist damit ihrer Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Selbst bei unterstelltem Asylantrag bleibt offen, ob in Italien ein Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung und abschließender Sachentscheidung (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris) durchgeführt wurde und ob gegebenenfalls die Möglichkeit der Wiederaufnahme insbesondere hinsichtlich möglicher neuer Beweismittel besteht. Die fehlende Aufklärung geht zu Lasten der Antragsgegnerin (vgl. BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 41).
Hieran vermag auch das vorgelegte permesso di soggiorno nichts zu ändern. Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugeben, dass eine solche Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen keine Gewährung internationalen Schutzes darstellt, sondern allein auf (nationalem) italienischem Recht beruht und in der Regel gerade dann erteilt wird, wenn die italienischen Behörden davon ausgehen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Leitfaden Italien, Aktualisierte Fassung Oktober 2014, S. 22, abrufbar unter http://www.b…de/SharedDocs/Anlagen/DE/ Downloads/Infothek/ Asyl/leitfaden-italien.pdf? blob=publicationFile).
Allerdings sagt dies noch nichts darüber, ob die Ablehnung des Asylverfahrens in Italien rechtskräftig geworden ist, ob in Italien ein Asylverfahren auch mit inhaltlicher Prüfung (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris) durchgeführt wurde und ob gegebenenfalls die Möglichkeit der Wiederaufnahme insbesondere hinsichtlich möglicher neuer Beweismittel besteht. Insoweit wird die Antragsgegnerin nicht umhin kommen, im Wege ihrer Amtsermittlungspflicht zu versuchen, unmittelbar Auskunft von den italienischen Behörden sowie einen Abdruck des ablehnenden Bescheides zu erhalten. Allein die Mutmaßung, die Gewährung humanitären Schutzes belege bereits die rechtskräftige Ablehnung eines Asylantrags aufgrund inhaltlicher Prüfung ist nicht ausreichend.
Ein erfolgloser Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist somit nicht nachgewiesen, so dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen.
Dem Antrag ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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