Verwaltungsrecht

Anforderungen an die Feststellung des erfolglosen Abschlusses eines Asylverfahrens im Drittstaat

Aktenzeichen  M 23 S 16.33947

Datum:
3.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 26a, § 36 Abs. 3, Abs. 4, § 71a

 

Leitsatz

1 § 71a AsylG setzt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus. Das Bundesamt muss Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags in dem anderen Mitgliedsstaat haben, bloße Mutmaßungen genügen nicht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Dem Bundesamt obliegt die Sachaufklärungspflicht. Antragsteller sind in der Regel nicht in der Lage, über den Verfahrensablauf im Drittstaat ausreichend Auskunft geben zu können. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für … vom 27. Oktober 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die vom Bundesamt für … (im Folgenden: Bundesamt) angedrohte Abschiebung nach Pakistan.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge pakistanischer Staatsangehöriger, pashtunischer Volkszugehörigkeit und ist sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben im März 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am21. April 2015 bei dem Bundesamt einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 21. April 2015 zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gab der Antragsteller an, dass ihm in Bulgarien und Ungarn Fingerabdrücke abgenommen worden seien; einen Asylantrag habe er dort nicht gestellt. Am 25. August 2016 erfolgte die Anhörung des Antragstellers gemäß § 25 AsylG. Hinsichtlich der Angaben des Antragstellers wird auf die Niederschrift zur Anhörung verwiesen.
In der vorgelegten Behördenakte befinden sich Nachweise über einen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 sowohl für Ungarn als auch für Bulgarien.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 27. Oktober 2016, zugestellt am 2. November 2016, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziff. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2 des Bescheids). Der Antragsteller wurde unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziff. 3 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4 des Bescheids).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei dem Antrag des Antragstellers um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG handle. Der Antragsteller habe in Ungarn und Bulgarien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt; es lägen entsprechende Eurodac-Treffer vor. Er habe nicht konkret dargelegt, wie diese Asylverfahren ausgegangen seien. Sofern das Verfahren im Mitgliedstaat noch offen sei oder keine Erkenntnisse über den Verfahrensstand vorlägen, sei von einer sonstigen Erledigung ohne Schutzgewährung auszugehen. Wiederaufgreifensgründe lägen nicht vor. Es habe sich weder die Sach-, noch die Rechtslage geändert. Auch konkrete individuelle Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG seien in Bezug auf das Heimatland nicht vorgetragen oder ersichtlich. Ergänzend wird auf die Begründung im Bescheid verwiesen.
Der Antragsteller erhob am 4. November 2016 zur Niederschrift Klage und beantragten den Bescheid aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ihm subsidiären Schutz zu gewähren und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Verfahren M 23 K 16. 33945).
Zudem beantragt er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Am 7. November 2016 legte das Bundesamt die Behördenakten elektronisch vor; eine Antragstellung unterblieb.
Mit Schreiben vom 30. November 2016 bestellten sich die Bevollmächtigten für beide Verfahren. Zur Begründung führten sie insbesondere aus, dass keine positiven Erkenntnisse über den Ausgang eines möglichen Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat vorlägen; bloße Mutmaßungen würden nicht genügen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren (M 23 K 16.33945) sowie auf die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.
Der Antrag ist zulässig, soweit damit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 75 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 AsylG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids erreicht werden soll. Die Antragstellung erfolgte auch fristgerechnet innerhalb der Wochenfrist des § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß §§ 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Dies ist hier im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) der Fall.
Es bestehen ernstliche Zweifel, ob die von der Antragsgegnerin gewählte Vorgehensweise, den von dem Antragsteller im Bundesgebiet gestellten Antrag als unzulässigen Zweitantrag zu bewerten, rechtmäßig ist.
Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen.
§ 71a AsylG setzt damit den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 24ff – bestätigt durch BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris, Pressemitteilung des BVerwG Nr. 104/2016 v. 14.12.2016). Hierbei muss – entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Antragsgegnerin – der vorangegangene negative Ausgang eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Eine solche Prüfung beinhaltet unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat (vgl. VG Regensburg, B.v.12.10.2016 – RN 7 S. 16.32477 – unveröffentlicht; VG Schleswig-Holstein, B.v. 7.9.2016 – 1 B 54/16 – juris Rn. 7 ff; VG Schwerin, U.v. 8.7.2016 – 15 A 190/15 – juris Rn. 18; VG Wiesbaden, B.v. 20.6.2016 – 5 L 511/16.WI.A – juris Rn. 20, BeckOK AuslR/Schönenbroicher, AsylG, § 71a Rn. 1f).
Der Antragsteller bestreitet eine Asylantragstellung in einem Drittstaat. In den vorgelegten Behördenakten sind zwar Eurodac-Treffer der Kategorie 1 für Ungarn und Bulgarien dokumentiert, offen bleibt jedoch, ob dort ein Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung und abschließender Sachentscheidung (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris) durchgeführt wurde. Die fehlende Aufklärung geht zu Lasten der Antragsgegnerin (vgl. BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 41). Die Antragsgegnerin ist ihrer Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Der Vorhalt der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller nicht dargelegt hat, wie das Asylverfahren im Mitgliedstaat ausgegangen ist, verkehrt diese Aufklärungspflichten; darüber hinaus ist der Antragsteller in der Regel nicht in der Lage über den Verfahrensablauf ausreichend Auskunft geben zu können (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22).
Ein erfolgloser Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist somit nicht nachgewiesen, so dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen. Darüber hinaus bestehen erhebliche Bedenken, ob das Asylverfahren in Ungarn nicht systemische Mängel aufweist (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 15.11.16 – 8 LB 92/15 – juris), die eine Berufung auf ein dortiges Asylverfahren bereits aus diesem Grund ausschließen.
Dem Antrag war daher unter der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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