Verwaltungsrecht

Annahme einer Widerholungsgefahr trotz erfolgreicher Entzugstherapie

Aktenzeichen  AN 5 K 20.02398

Datum:
23.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13302
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
6 Abs. 1, Abs. 3 Freizüg/EU

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte in der mündlichen Verhandlung vom 23. Mai 2022 trotz des Ausbleibens des Klägers verhandeln und entscheiden, da der Kläger im Rahmen der Ladung auf die Möglichkeit hingewiesen worden ist.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 8. Oktober 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die in Ziff. 1 verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist rechtmäßig. Ebenso wenig sind das in Ziff. 2 des Bescheids auf fünf Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die in Ziff. 3 verfügten ausländerrechtlichen Annexmaßnahmen zu beanstanden.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Begründung des angegriffenen Verwaltungsakts Bezug genommen und von einer weiteren Begründung abgesehen (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend ist das Folgende auszuführen:
I. Zum hier für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 91 ff.; BayVGH, U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – VGH n.F. 64, 263, juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Ls 2.) liegen die Voraussetzungen für die von der Beklagten verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt beim Kläger vor.
1. Ohne die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU im Einzelnen zu prüfen, nimmt das Gericht mit der Beklagten zugunsten des Klägers an, dass er aufgrund seiner bulgarischen Staatsangehörigkeit grundsätzlich ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ist.
Jedoch nimmt die Beklagte zutreffend an, dass der Kläger den erhöhten Schutz des § 6 Abs. 4 oder Abs. 5 FreizügG/EU nicht genießt: Gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nach Erwerb des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht) nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Inhaber eines Daueraufenthaltsrechts sind nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben. Im Übrigen statuiert § 6 Abs. 5 FreizügG/EU eine besondere Schutzhürde für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten; insoweit ist eine Verlustfeststellung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit möglich.
Hier hat der Kläger kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben. Der Kläger hielt sich zu keinem Zeitpunkt ununterbrochen für die Dauer von fünf Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf:
Der Kläger war erstmals ab 1. Januar 2011 melderechtlich in der Bundesrepublik erfasst. Ab diesem Zeitpunkt war sein Aufenthalt bis 29. April 2011 melderechtlich dokumentiert. Sodann ist sein Aufenthalt wieder ab dem 19. September 2011 in … melderechtlich erfasst. Ab dem Tag der Abmeldung von Amts wegen am 2. August 2013 bis zur erneuten Anmeldung in … am 16. Januar 2015 ist der Aufenthalt des Klägers unklar. Zwischen dem 16. Januar 2015 und der erneuten Abmeldung von Amts wegen nach unbekannt am 3. Mai 2016 war der Kläger wieder in … gemeldet. Am 19. Mai 2017 beging der Kläger in … die Tat nach § 265a StGB, so dass unabhängig von der zu dieser Zeit fehlenden amtlichen Meldung wieder ein Aufenthalt in der BRD angenommen werden kann. Am 28. Juni 2017 meldete sich der Kläger bei der Beklagten amtlich an, wobei er erklärte, von Bulgarien zuzuziehen. Am 9. Januar 2018 wurde er von der Beklagten von Amts wegen nach Unbekannt abgemeldet. Ab dem 23. Februar bis zum 27. Dezember 2018 befand sich der Kläger in Untersuchungs- bzw. Strafhaft. Zwischen 28. Dezember 2018 und 12. September 2021 befand sich der Kläger im Bezirkskrankenhaus … Im Gerichtsverfahren hat der Kläger zu den Aufenthaltszeiten in der Bundesrepublik nichts vorgetragen. Im Verwaltungsverfahren erklärte er nur, jedenfalls ab dem 16. Januar 2015 in der Bundesrepublik aufhältig gewesen zu sein. 2017 sei er zwar kurzzeitig in die Niederlande und Bulgarien ausgereist. Es habe sich aber nur um Kurzaufenthalte gehandelt. Substantiiert wurde der Vortrag nicht, insbesondere wurden keine Belege vorgelegt.
Im Ergebnis ist schon kein ununterbrochener Aufenthalt von fünf Jahren feststellbar. Zwar war der Kläger ab 1. Januar 2011 in der Bundesrepublik gemeldet. Der anschließende Zeitraum von 29. April 2011 bis 19. September 2011 war auch geringer als sechs Monate, kann mithin als Abwesenheit i.S.v. § 4 Abs. 6 Nr. 1 FreizügG/EU qualifiziert werden. Auch ist es nicht richtig, wenn die Beklagte für die Berechnung der Aufenthaltszeit i.S.d. erst Zeiten ab dem 19. September 2011 anrechnen will, da sich der Kläger an diesem Tag als „Arbeitssuchender“ angemeldet hat und daraufhin von der Stadt … eine Freizügigkeitsbescheinigung erhielt. Die mit der Novellierung durch das Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschriften v. 21.1.2013 (BGBl. I 86) abgeschaffte Bescheinigung über das Freizügigkeitsrecht nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. hatte rein deklaratorische Bedeutung – sie war folglich für das Entstehen des Rechts aus § 2 Abs. 2 FreizügG/EU nicht konstitutiv (BeckOK AuslR/Kurzidem, 32. Ed. 1.1.2021, FreizügG/EU § 5 Rn. 2). Indes endete mit den beiden Abmeldungen von Amts wegen nach Unbekannt und der sich anschließenden Dauer von jeweils über sechs Monaten jeweils ein zuvor begonnener Aufenthaltszeitraum. Mithin konnte der letzte Fünf-Jahres-Zeitraum frühestens am 19. Mai 2017 beginnen – dem Tag der Straftat nach § 265a StGB in … Die Zeit zwischen der Abmeldung von Amts wegen am 9. Januar 2018 und der Aufnahme in die U-Haft kann wiederum als unbeachtliche Unterbrechung von weniger als sechs Monaten angesehen werden. Jedoch unterbricht die Aufnahme des Klägers in die Untersuchungshaft am 23. Februar 2018 die am 19. Mai 2017 begonnene Fünf-Jahres-Spanne. Eine Untersuchungshaft, die – wie vorliegend – in eine Strafhaft mündet, verdeutlicht, dass ein Betroffener die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet, so dass derartige Zeiten grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts unterbrechen (vgl. BayVGH,, B.v. 12.12.2019 – 10 ZB 19.2195 – juris Rn. 8 m.w.N.; B.v. 21. 1.2020 – 10 ZB 19.2250 -, Rn. 6, juris). Die sich an die Untersuchungs- und Strafhaft anschließende Zeit bis zur mündlichen Verhandlung beträgt jedenfalls weniger als fünf Jahre.
Angesichts dieser Aufenthaltszeiten respektive der erheblichen Unterbrechungen greift im Fall des Klägers erst Recht nicht die Privilegierung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU.
a) Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung ist somit § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Danach kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit festgestellt werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen der Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen berücksichtigt werden und diese nur insoweit, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU. Bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung sind nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
b) Für die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erforderlich und ausschlaggebend sind nach den dargestellten Grundsätzen die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Freizügigkeitsberechtigten und die insoweit anzustellende aktuelle Gefährdungsprognose. Dabei steht es den Ausländerbehörden und Gerichten nicht frei, von einem früheren Verhalten ohne weiteres auf eine aktuelle Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu schließen.
Auf der anderen Seite besagt das Erfordernis der gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht, dass eine gegenwärtige „Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende, unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird. Hierbei ist eine individuelle Würdigung der Umstände des Einzelfalles erforderlich (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 26). Unter anderem ist zu prüfen, ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftat mehr begehen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 26).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungen und Verlustfeststellungen und deren gerichtlicher Prüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris, Rn. 18). Dabei sind Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Allerdings kommt ihnen tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu (vgl. BVerfG, B.v. 1.März 2000 – 2 BvR 2120/99 -, Rn. 16 m.w.N.; B.v. 27. August 2010 – 2 BvR 130/10 -, Rn. 36: „tatsächliches Gewicht“ und „wesentliche Bedeutung“).
Ebenso wenig sind die Verwaltungsgerichte an Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung gebunden. Hier ist zu berücksichtigen, dass sich diese inhaltlich an den materiellen strafrechtlichen Voraussetzungen einer Aussetzungsentscheidung (vgl. etwa BVerwG BeckRS 2013, 435 Rn. 18) orientiert. Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen (BeckOK MigR/Katzer, 11. Ed. 15.4.2022, AufenthG § 53 Rn. 22). Demgegenüber endet die ausländerrechtliche Prognoseentscheidung nicht mit der Bewährungszeit; sie ist insofern längerfristig ausgerichtet.
Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris, Rn. 33). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18; BayVGH, B.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31).
Im Rahmen der Gefahrenprognose können insbesondere auch Umstände herangezogen werden, die nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt haben. Dies steht nicht im Widerspruch zu Art. 45 Abs. 2 und 3 AEUV und in deren nationalen Umsetzung in § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU soll nur verdeutlichen, dass nicht jede frühere strafrechtliche Verurteilung zum Anlass für eine Aufenthaltsbeendigung genommen werden kann (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 104 f.), besagt jedoch nicht, dass ein persönliches Verhalten, das nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, bei der Gefährdungsprognose keine Berücksichtigung finden darf (BayVGH, B.v. 11. Oktober 2021 – 10 ZB 21.2298 -, Rn. 9, juris; B.v. 22.10.2012 – 10 ZB 12.1655 – juris Rn. 6).
Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose, insbesondere mit Blick auf den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, das heißt eigenständigen Begründung (zuletzt: BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 -, juris): Solche Gründe können zum Beispiel gegeben sein, wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt (vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021, aaO; u.a. mit Verweis auf: BVerfG, B.v. 1. März 2000 – 2 BvR 2120/99 -, Rn. 16 m.w.N.; B.v. 19. Oktober 2016 – 2 BvR 1943/16 -, Rn. 22, 24). Dabei ist der gegenüber der strafgerichtlichen oder strafvollstreckungsrechtlichen Beurteilung regelmäßig späteren Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts Rechnung zu tragen (BVerfG, B.v. 6.12.2021, aaO m.w.N). Hingegen ist es nicht ausreichend etwa bei Betäubungsmittelstraftaten in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr zu schließen. Vielmehr sind der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und Therapie (BVerfG, B.v. 6.12.2021, aaO; u.a. mit Verweis auf BVerfG, B.v. 19. Oktober 2016 – 2 BvR 1943/16 -, Rn. 19).
aa) Gemessen an diesen Grundsätzen geht die Kammer davon aus, dass nach dem persönlichen Verhalten des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Die Gefahrenprognose wird konkret durch das Verhalten des Klägers im Bundesgebiet getragen. Der Kläger war ab 1. Januar 2011 bis heute immer wieder in Deutschland amtlich gemeldet. Dabei ist der genaue Aufenthalt unklar; nach den oben geschilderten Umständen ist anzunehmen, dass sich der Kläger zwischenzeitlich mehrfach für Zeiträume von mehr als sechs Monaten nicht mehr im Bundesgebiet aufhielt. Trotz des demnach eher kurzen Aufenthalts wurde er vier Mal strafrechtlich verurteilt. Dabei handelte es sich bei den Verurteilungen vom 22. Januar 2014 (§ 142 StGB) und vom 14. März 2018 (§ 265a StGB) im weiteren Sinn um Straftaten gegen fremdes Vermögen. Den Verurteilungen vom 15. März 2016 (§ 113 StGB) sowie vom 20. Dezember 2018 (§§ 223, 224, 316, 53 StGB) lagen wiederum im weiteren Sinn Taten gegen die körperliche Unversehrtheit zugrunde. Die Verurteilungen erfolgten demnach in regelmäßigem Abstand; jeweils vorangegangene Verurteilungen hinterließen beim Kläger offenbar keinen bleibenden Eindruck. Die einzigen bekannten familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet haben diesen nicht davon abgehalten, regelmäßig straffällig zu werden. Weiter kann der Kläger keinerlei berufliche oder sonstige wirtschaftliche Integration vorweisen. Ferner blickt der Kläger trotz seines eher jungen Alters auf eine längere Suchtgeschichte zurück; nach seiner Einlassung vor dem Landgericht … konsumiert er seit seinem 16. Lebensjahr regelmäßig Alkohol.
Im Urteil vom 20. – rechtskräftig seit 28. Dezember – 2018 verurteilte das Landgericht … den Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung und fahrlässiger Trunkenheit im Straßenverkehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sieben Monaten (* …*); zugleich ordnete es seine Unterbringung i.S.v. § 64 StGB an. Insoweit bejahte es sachverständig beraten einen Hang des Klägers, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen.
Der Verurteilung lag das Folgende zu Grunde: Der Kläger bewegte am 19. Januar 2018 in den frühen Morgenstunden in … im öffentlichen Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug, obwohl er zu diesem Zeitpunkt wegen Alkoholgenusses fahruntüchtig war; eine etwa eine Stunde nach der Fahrt entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,8 ‰. Am
5. Februar 2018 traf der Kläger in … in den Abendstunden gemeinsam mit zwei Begleitern auf den ihm unbekannten Geschädigten. Die Gruppe um den Kläger pöbelte den Geschädigten ohne jede Veranlassung an, schob ihn gegen eine Hauswand und sprühte ihm Haarspray ins Gesicht. Sodann floh der Geschädigte, wurde aber kurz darauf von der Gruppe um den Kläger gestellt. Im weiteren Verlauf schlug zunächst nur der Kläger mit der Faust auf den Geschädigten ein, ehe es ihm die anderen Gruppenmitglieder gleichtaten. Der Geschädigte stolperte, fiel und kniete zuletzt auf Beinen und Händen am Boden. Nun traten der Kläger und seine Begleiter auf ihn ein – wobei mindestens drei Tritte gegen den Kopf geführt wurden. Die Gruppe um den Kläger ließ sich selbst dann nicht von den Tritten und Schlägen abbringen, als der Geschädigte bewusstlos wurde oder als eine Unbeteiligte mit der Alarmierung der Polizei drohte. Erst als sich der Geschädigte wieder bewegte und aufzustehen versuchte, ließ die Gruppe von ihm ab. Infolge der Gewalteinwirkung nässte sich der Geschädigte ein, erlitt diverse Schürf- und Platzwunden und Hämatome im Kopfbereich sowie Schürfwunden im Bereich der oberen Extremitäten; an einer Stelle der Stirn ist dem Geschädigten eine dauerhafte Pigmentstörung verblieben. Im Übrigen war er drei Wochen arbeitsunfähig krank.
Im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigte das Landgericht … zugunsten des Klägers insbesondere dessen alkoholbedingte Enthemmung bei beiden abgeurteilten Taten sowie sein Geständnis im Hinblick auf die Fahrt unter Alkoholeinfluss am 19. Januar 2018. Zu seinen Lasten stellte das Landgericht insbesondere ein, dass der Kläger strafrechtlich vorbelastet war und dass der Geschädigte der Tat vom 5. Februar 2018 erheblich verletzt wurde.
Die Kammer geht vorliegend davon aus, dass der Kläger bei einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet auch gegenwärtig mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wieder straffällig wird. Es sind auch weiterhin gravierende Straftaten, insbesondere Delikte gegen das Vermögen oder die körperliche Unversehrtheit zu erwarten. Dazu führt die langfristig angelegte ausländerrechtliche Gefahrenprognose im Einzelfall sowie der nötige Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter.
Dieser Auffassung ist die Kammer in Kenntnis der Tatsache, dass die Suchterkrankung des Klägers während seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt therapiert wurde und er die Therapie erfolgreich beendet hat.
Das Landgericht … stellte im Urteil vom 20. Dezember 2018 sachverständig beraten fest, dass der Kläger den Hang hat, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen. Der Kläger habe aufgrund dieses Hanges die Anlasstaten der Verlustfeststellung vom 19. Januar 2018 und 5. Februar 2018 begangen. Es bestehe im Zeitpunkt der Hauptverhandlung die Gefahr, dass er infolge seines Hanges auch zukünftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde. Darüber hinaus stellte das Landgericht … fest, dass der Kläger eine Vielzahl weiterer psychotroper Substanzen noch unterhalb der Schwelle zur Sucht konsumiert.
Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung kann bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Angesichts der erheblichen Rückfallquoten während einer andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie kann allein aus der begonnenen Therapie noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden (BayVGH, B.v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Rn. 7; B. v. 13.5.2015 – 10 C 14.2795 – juris Rn. 4; B.v. 21.2.2014 – 10 ZB 13.1861 – juris Rn. 6).
Andererseits kann dem erfolgreichen Absolvieren einer Entzugstherapie nach den obigen Ausführungen kein Automatismus dahingehend entnommen werden, dass von einem solchen Absolventen keine gegenwärtige Gefährdung für die öffentliche Ordnung mehr ausgeht (dazu: BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – Rn. 19, juris).
Insoweit ist aber festzustellen, dass der Sachverständige im Rahmen der Begutachtung vom 13. Juli 2021 für die Frage der Bewährungsaussetzung von Rückfällen des Klägers mit synthetischen Cannabinoiden in der Zeit der Unterbringung berichtet. Weiter erörterte der rechtspsychologische Sachverständige in diesem Gutachten, dass sich für den Kläger nicht nur Anhaltspunkte für günstige, sondern auch für ungünstige Prognosen fänden. Problematisch sei etwa der soziale Empfangsraum, weil der Kläger in … über keine tragfähigen sozialen Kontakte verfüge. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Kläger während der laufenden Therapie unter Erfolgsdruck und ständiger einhegender Beobachtung stand. Er konnte sich gerade nicht außerhalb der Entziehungsanstalt über einen langen Zeitraum bewähren.
Vor diesem Hintergrund sowie anhand der gegenüber der Aussetzungsentscheidung des Landgerichts … vom 11. August 2021 (Az.: …*) breiteren Tatsachengrundlage zeigt sich, dass weder die nach der individuellen Suchtgeschichte des Klägers immanente Rückfallgefahr, noch die damit verbundene Gefährdung der öffentlichen Ordnung i.S.v. § 6 Abs. 3 FreizügG/EU gebannt sind. In Rechnung zu stellen ist dabei, dass der Kläger verdächtig ist, am 19. September 2021 eine Straftat nach § 265a StGB begangen zu haben. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nach seiner Entlassung aus der Entziehungsanstalt noch nicht einmal eine Woche auf freiem Fuß. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kläger wegen des Verdachts dieser Straftat i.S.v. § 131a StPO zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben ist. Wie ausgeführt führt die Tatsache, dass insoweit (noch) keine Verurteilung ergangen ist, nicht dazu, dass die Ausschreibung nicht berücksichtigt werden könnte. Vielmehr kann schon der Verdacht ein Indiz für die ordnungsrechtlich orientierte Gefahrenprognose sein, die keine Bestrafung darstellt. Zudem weist die Ausschreibung in Kombination mit der Tatsache, dass der Kläger nicht zur mündlichen Verhandlung am 23. Mai 2022 erschienen ist, darauf hin, dass er an der Meldeadresse nicht anzutreffen und unbekannten Aufenthalts ist. Im Ergebnis bestehen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger mit seiner Entlassung aus der Entziehungsanstalt in alte Verhaltensmuster verfallen ist. Es ist zu erwarten, dass er das unstete Leben fortsetzen will, das zu den bekannten abgeurteilten Taten geführt hat – insbesondere der durch das Landgericht- … am 20. Dezember 2018 verurteilten gefährlichen Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung.
bb) Diese tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung berührt auch ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass in der Regel eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C – 348/09 – juris Rn. 33 f.; BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 11). Dieser Maßstab verweist – anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht – nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 24; BayVGH, U.v. 25.3.2021 – 19 ZB 19.950 – juris Rn. 11). Wie ausgeführt legt das Verhalten des Klägers eine hinreichend hohe Rückfallgefahr nahe. Bei den dadurch berührten Rechtsgütern fremden Vermögens, aber auch Leben und Gesundheit handelt es sich um bedeutsame Rechtsgüter, deren Schutz ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt (so auch: VG München, U.v. 12.10.2021 – M 4 K 19.2323 -, Rn. 54, juris).
c) Die Beklagte hat das ihr eingeräumte Ermessen beim Erlass der Verlustfeststellung auch pflichtgemäß ausgeübt. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 27). Es ist insoweit der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienlebens zu Gunsten des Unionsbürgers zu beachten. Hierbei ist gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO nur insoweit überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
Die Beklagte hat insoweit ermessensfehlerfrei festgestellt, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers an der uneingeschränkten Ausübung seines Freizügigkeitsrechts überwiegt. Sie hat zutreffend die Art und Schwere der von dem Kläger begangenen Straftat berücksichtigt. Zudem hat sie eingestellt, dass der Kläger nicht auf eine längere kontinuierliche Aufenthaltshistorie zurückblicken könne. Sie hat auch berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet Verwandte haben will. Sie hat die Integrationstiefe des Klägers in der Bundesrepublik beachtet – wobei sie diese wegen fehlender Deutschkenntnisse und nur sporadischer beruflicher Tätigkeit als eher gering einschätzte.
Nach alledem hat die Beklagte in rechtlich nicht zu beanstandender Weise im Ermessenswege das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Klägers höher gewichtet als dessen Interesse an einer uneingeschränkten Ausübung seines Freizügigkeitsrechts.
2. Ist die Verlustfeststellung rechtmäßig, so begegnet auch die in Ziff. 2 verfügte ausländerrechtlichen Annexmaßnahme nach §§ 58, 59 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken.
3. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die in Ziff. 3 des gegenständlichen Bescheids verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Dauer von fünf Jahren.
Rechtsgrundlage ist insoweit § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Dabei ist jeweils auf die aktuelle Tatsachenlage im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung abzustellen (EuGH, U.v. 17.6.1997 – C-65/95, C-111/95 – Rn. 39 ff.). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 23). Die Beklagte kommt unter Berücksichtigung aller für und gegen den Kläger sprechenden bekannten Umstände zum Ergebnis, die Wirkung der Verlustfeststellung auf die Dauer von fünf Jahren zu befristen. Diese Frist erscheint auch der Kammer im Hinblick auf die von dem Kläger ausgehenden Gefahren angemessen, insbesondere verhältnismäßig.
II. War die Klage demnach vollumfänglich abzuweisen, ergibt sich die Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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