Verwaltungsrecht

Anordnung der Abschiebung nach Italien

Aktenzeichen  W 3 K 19.30455

Datum:
29.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14403
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 13 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Ziffer 4 und die Androhung der Abschiebung nach Äthiopien in Ziffer 5 sowie Ziffer 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. November 2018 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3 zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist das Begehren der Klagepartei, die Beklagte zu verpflichten, der Klagepartei die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, und den Bescheid des Bundesamtes vom 9. November 2018 insoweit aufzuheben, als er diesem Begehren entgegensteht.
Die zulässige Klage ist lediglich zum Teil begründet. Der angegriffene Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AsylG) hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes als rechtmäßig und verletzt die Klagepartei nicht in ihren Rechten. Der Klagepartei stehen die geltend gemachten Ansprüche insoweit nicht zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Demgegenüber hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Soweit der angegriffene Bescheid dem entgegensteht, war er aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot vorliegt.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
Die Klagepartei hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK -), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung u.a. wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Schutz nach § 3 Abs. 1 AsylG wird gewährt, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Rechtsverletzungen aufgrund von Handlungen im Sinne von § 3a AsylG durch einen Akteur im Sinne von § 3c AsylG in seinem Herkunftsland drohen, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzen, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in sein Herkunftsland zurückzukehren (BVerfG, B.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502, 1000, 961/86 – NVwZ 1990, 151 f.; BVerwG, U.v. 29.11.1987 – 1 C 33.71 – BVerwGE 55, 82, 83 m.w.N.).
Die Voraussetzungen von § 3 Abs. 1 AsylG decken sich mit denen nach Art. 16a Abs. 1 GG hinsichtlich der geschützten Rechtsgüter und des politischen Charakters der Verfolgung, wobei § 3 Abs. 1 AsylG insofern einen weitergehenden Schutz bietet, als auch selbstgeschaffene subjektive Nachfluchtgründe die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen können. Ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung, Flucht und Asylantrag wird dabei nicht vorausgesetzt (vgl. BVerwG, B.v. 13.8.1990 – 9 B 100/90 – NVwZ-RR 1991, 215; BVerfG, B.v. 26.5.1993 – 2 BvR 20/93 – BayVBl 1993, 623).
Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Asylsuchende Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 16; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 14; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22 = juris Rn. 22).
Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festzustellenden Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit kommt damit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 22; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37).
Nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Antragsteller im Herkunftsland bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten durch die widerlegbare Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei der Rückkehr in das Heimatland wiederholen wird. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, B.v. 17.9.2019 – 1 B 43/19 – juris Rn. 7; U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – NVwZ 2018, 1408 = juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – NVwZ 2010, 505 = juris Rn. 94; vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377 = juris Rn. 23).
Nach diesen Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, bezogen auf die von ihm vorgetragene oppositionelle Tätigkeit in Äthiopien.
Die Klagepartei kann sich für die Annahme einer ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung aufgrund oppositioneller Tätigkeit nicht auf die von ihr dargestellten Erlebnisse in Äthiopien berufen.
Es kann offen bleiben, ob die Klagepartei vor ihrer Ausreise aus Äthiopien aufgrund der Geschehnisse, die sie bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt und im Gerichtsverfahren geschildert hat, bereits verfolgt wurde oder von Verfolgung bedroht war und ob sie deshalb die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen kann. Denn selbst wenn man dies zu ihren Gunsten annimmt, sprechen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien nunmehr stichhaltige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen (möglicherweise stattgefundenen) Verfolgung, sodass die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EG nicht greift.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in den Verfahren 8 B 18.30261, 8 B 18.30275, 8 B 17.31645, 8 B 18.30261 (Ue.v. 13.2.2019 – alle juris), 8 B 18.30274, 8 B 18.30252 (Ue.v. 12.3.2019 – beide juris) und 8 B 17.31645 (U.v. 14.3.2019 – juris) auf der Grundlage verschiedener im Rahmen dieser Verfahren eingeholter Auskünfte und Gutachten und weiterer neuester Erkenntnisquellen die politische Situation in Äthiopien neu beurteilt und hierbei die Organisationen Ginbot 7, OLF, ONLF und die ihnen nahe stehenden politischen Organisationen und exilpolitischen Organisationen in den Blick genommen.
Die politische Situation in Äthiopien hat sich für Regierungsgegner und Oppositionelle bereits seit Anfang 2018 deutlich entspannt. Nachdem der Rat der EPRDF Abiy Ahmed zum Premierminister gewählt hatte (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, SWP-Aktuell von Juni 2018, „Abiy Superstar – Reformer oder Revolutionär“ [im Folgenden: SWP-Aktuell von Juni 2018]; Ministry of Immigration and Integration, The Danish Immigration Service, Ethiopia: Political situation and treatment of opposition, September 2018, Deutsche (Teil)-Übersetzung [im Folgenden: The Danish Immigration Service] S. 11), wurde dieser am 2. April 2018 als neuer Premierminister vereidigt. Zwar kommt Abiy Ahmed aus dem Regierungsbündnis der EPRDF, ist aber der Erste in diesem Amt, der in Äthiopien der Ethnie der Oromo angehört, der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, die sich jahrzehntelang gegen wirtschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung wehrte (vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe-Länderanalyse vom 26.9.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 [im Folgenden: Schweizerische Flüchtlingshilfe] S. 5).
Seit seinem Amtsantritt hat Premierminister Abiy Ahmed eine Vielzahl tiefgreifender Reformen in Äthiopien umgesetzt. Mitte Mai 2018 wurden das Kabinett umgebildet und altgediente EPRDF-Funktionsträger abgesetzt; die Mehrheit des Kabinetts besteht nun aus Oromo. Die bisher einflussreiche TPLF (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018 [im Folgenden: AA, Ad-hoc-Bericht] S. 8), stellt nur noch zwei Minister (vgl. SWP-Aktuell von Juni 2018). Auch der bisherige Nachrichten- und Sicherheitsdienstchef und der Generalstabschef wurden ausgewechselt (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 1). Die renommierte Menschenrechtsanwältin Meaza Ashenafi wurde zur ranghöchsten Richterin des Landes ernannt (vgl. Republik Österreich, Länderinformationsblatt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, Äthiopien vom 8.1.2019 [im Folgenden: BFA Länderinformationsblatt] S. 6). Am 5. Juni 2018 wurde der am 16. Februar 2018 verhängte sechsmonatige Ausnahmezustand vorzeitig beendet. Mit dem benachbarten Eritrea wurde ein Friedensabkommen geschlossen.
Gerade auch für (frühere) Oppositionelle hat sich die Situation deutlich und mit asylrechtlicher Relevanz verbessert. Insgesamt sind ca. 32.000 teilweise aus politischen Gründen inhaftierte Personen vorzeitig entlassen worden, darunter führende Oppositionspolitiker, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (The Danish Immigration Service S. 13, vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 9 f., vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 6).
Am 20. Juli 2018 wurde zudem ein allgemeines Amnestiegesetz erlassen, nach welchem Personen, die bis zum 7. Juni 2018 wegen Verstoßes gegen bestimmte Artikel des äthiopischen Strafgesetzbuches sowie weiterer Gesetze, insbesondere wegen begangener politischer Vergehen, strafrechtlich verfolgt wurden, innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Amnestie stellen konnten (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019 [im Folgenden: AA, Stellungnahme vom 7.2.2019]; AA, Ad-hoc-Bericht S. 11; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; The Danish Immigration Service S. 14).
Weiterhin wurde am 5. Juli 2018 die Einstufung u.a. der Untergrund- und Auslands-Oppositionsgruppierungen Ginbot7, OLF und ONLF als terroristische Organisationen durch das Parlament von der Terrorliste gestrichen und die Oppositionsgruppen wurden eingeladen, nach Äthiopien zurückzukehren, um am politischen Diskurs teilzunehmen (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019; AA, Ad-hoc-Bericht S. 18 f.; The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.; VG Bayreuth, U. v. 31.10.2018 – B 7 K 17.32826 – juris Rn. 44 m.w.N.). Daraufhin sind sowohl Vertreter der OLF (Jawar Mohammed) als auch der Ginbot7 (Andargachew Tsige) aus der Diaspora nach Äthiopien zurückgekehrt (vgl. The Danish Immigration Service S. 5, 14 f.). Nach einem Treffen des Gründers und Vorsitzenden der Ginbot7 (Berhanu Nega) mit Premierminister Abiy Ahmed im Mai 2018 hat die Ginbot7 der Gewalt abgeschworen. Die ONLF verkündete am 12. August 2018 einen einseitigen Waffenstillstand (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 22). Am 7. August 2018 unterzeichneten Vertreter der äthiopischen Regierung und der OLF in Asmara (Eritrea) ein Versöhnungsabkommen. Am 15. September 2018 wurde in Addis Abeba die Rückkehr der OLF unter der Führung von Dawud Ibsa gefeiert. Die Führung der OLF kündigte an, nach einer Aussöhnung mit der Regierung fortan einen friedlichen Kampf für Reformen führen zu wollen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 17.9.2018 – Äthiopien; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 5; WELT vom 15.9.2018, „Zehntausende begrüßen Rückkehr der Oromo-Rebellen in Äthiopiens Hauptstadt“; AA, Stellungahme vom 7.2.2019).
Verbote für soziale Medien wurden aufgehoben. Verschiedene Webseiten, Blogs, Radio- und TV-Sender, die für die Bevölkerung vorher nicht zugänglich gewesen sind, wurden entsperrt, auch die beiden in der Diaspora angesiedelten TV-Sender ESAT und OMN (vgl. The Danish Immigration Service S. 12), (vgl. zur allgemeinen Lage in Äthiopien auch AA, Lagebericht Stand März 2020).
Aus dieser Erkenntnislage ergibt sich, dass Personen, die in Äthiopien oder im Ausland für die OLF, Ginbot 7 oder die ONLF bzw. für eine diesen Organisationen nahe stehende Organisation politisch tätig waren, aufgrund dieser oppositionellen Tätigkeit keine Furcht vor Verfolgung bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mehr haben müssen. Die oben dargestellte Veränderung der politischen Verhältnisse hat auch diesbezüglich zu einem grundlegenden Wandel geführt.
Der Kläger beruft sich hinsichtlich seiner oppositionellen Tätigkeit darauf, dass er an Demonstrationen teilgenommen und Oppositionelle finanziell unterstützt habe, weshalb er zwei Mal inhaftiert worden sei.
Ob dieser Vortrag der Wahrheit entspricht, kann offen bleiben; diese Vorgänge würden mit Blick auf die oben dargestellte grundlegende Änderung der politischen Lage jedenfalls nicht mehr stichhaltige Gründe für eine künftige Wiederholung einer solchen Verfolgung darstellen.
Für das Vorliegen „stichhaltiger Gründe“ im Sinne des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU, durch die die Vermutung der Wiederholung einer Vorverfolgung widerlegt wird, ist es nicht erforderlich, dass die Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung entkräften, dauerhaft beseitigt sind. In diesem Zusammenhang scheidet eine entsprechende Heranziehung des Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU im Rahmen der Prüfung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU aus, weil die Sach- und Interessenlage in beiden Fällen nicht vergleichbar ist (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 – juris Rn. 40 bis 41 mit ausführlicher Begründung; BVerwG, B.v. 17.9.2019 – 1 B 43/19 – juris LS 1 und Rn. 9 ff.; B.v. 21.10.2019 – 1 B 49/19 – juris Rn. 9). Im Übrigen hat Premierminister Abiy Ahmed sein Amt am 2. April 2018 angetreten. Bei dieser Zeitspanne von mehr als zwei Jahren kann von einem nur vorübergehenden Zustand im Sinne Art. 11 Abs. 2 RL 2011/95/EU nicht die Rede sein (BayVGH, B.v. 6.5.2020 – 23 ZB 19.34336 – a.U. Rn. 26 – n.v.)
Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass Äthiopien unter ethnischen Konflikten leidet. Dies gilt insbesondere für die Regionen Oromia, SNNPR, Somali, Benishangul Gumuz, Amhara und Tigray. Hierbei kam es zu Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Trotz des Einsatzes von staatlichen Sicherheitskräften zur Unterdrückung der Gewalt dauern die Konflikte weiterhin an. Insgesamt gibt es etwa 1,78 Millionen Binnenflüchtlinge (vgl. AA, Lagebericht Stand März 2020, Ziffer II.2.: Ca. 80% aufgrund von Konflikten, ca. 20% aufgrund von Dürre und Überschwemmung). Die politische Instabilität zeigte sich auch am 23. Juni 2019, als bei einem Putschversuch in der Region Amhara der Gouverneur und zwei seiner Mitarbeiter und in der Hauptstadt Adis Abeba der äthiopische Armee-Chef ermordet wurden (Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 9.7.2019, S. 1).
Bei diesen Konflikten handelt es sich nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle wegen ihrer politischen Überzeugung, sondern um Vorfälle in der Umbruchsphase des Landes sowie um Handlungen zur Ahndung kriminellen Unrechts oder zur Abwehr allgemeiner Gefahrensituationen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 7.2.2019 an das VG Dresden). Das Äthiopische Parlament hat am 24. Dezember 2018 ein Gesetz zur Einrichtung einer Versöhnungskommission verabschiedet, deren Hauptaufgabe es ist, der innergemeinschaftlichen Gewalt ein Ende zu setzen und Menschenrechtsverletzungen im Land zu dokumentieren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 20). Auch die Verschärfung des Konflikts zwischen Regierung und OLF rechtfertigt keine andere Bewertung. Der Regierung geht es nach der aktuellen Auskunftslage mit ihren Einsätzen vor allem darum, bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden sowie bestehende Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien zu bekämpfen. Auch insoweit handelt es sich nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 47 bis 50 m.w.N.).
Aus alledem ergibt sich, dass die Klagepartei wegen einer von ihr vorgetragenen früheren politischen Betätigung in Äthiopien bei einer Rückkehr keine Furcht vor Verfolgung (mehr) haben muss.
Der Klagepartei droht im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien auch keine politische Verfolgung wegen der von ihr vorgetragenen exilpolitischen Betätigung in Deutschland. Die Klagepartei hat nachgewiesen, dass sie aktives Mitglied bei der TBOJ ist und an diversen Veranstaltungen dieser Organisation bzw. Demonstrationen anderer exilpolitischer Organisationen in Deutschland teilgenommen hat.
Es kann allerdings aufgrund der Änderung der politischen Lage (vgl. oben) nicht mehr angenommen werden, dass äthiopische Staatsangehörige aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind (BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 46; U.v. 13.2.2019 – 8 B 17.31645 – juris Rn. 43 m.w.N.). Insbesondere gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass nur prominente Oppositionspolitiker verschont würden, unbekannte Personen, die sich exilpolitisch betätigt hätten, jedoch weiterhin von Verfolgung bedroht seien.
Der Kläger kann sich im Rahmen seines Begehrens, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, auch nicht darauf berufen, er werde wegen seiner Eigenschaft als „Buda“ verfolgt bzw. diskriminiert.
Der Kläger hat in der Anhörung vor dem Bundesamt vorgetragen, er bzw. seine gesamte Familie sei wegen der ihm zugeschriebenen Eigenschaft als Buda diskriminiert und isoliert worden. Soziale Kontakte seien ihm nicht möglich gewesen, ebenso sei ihm der Schulbesuch verweigert worden.
Allerdings ist nicht erkennbar, dass es sich hierbei um eine staatliche Verfolgung oder Diskriminierung i.S. des § 3 Abs. 1 AsylG handeln könnte. Nach den Schilderungen des Klägers geht es vielmehr um ein gesellschaftliches Phänomen, das zu einer sozialen Ablehnung des Betroffenen führt. So hat der Kläger selbst in der Anhörung vor dem Bundesamt geschildert, dass er sozial gemieden worden sei, weil man befürchtet habe, durch einen Blick des Klägers zu erkranken. Demgegenüber hat der Kläger nicht vorgetragen, dass er sich an staatliche Organisationen gewandt hätte, um hinsichtlich der vorgetragenen Diskriminierung Hilfe zu erlangen. Deshalb ist nicht zu befürchten, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Diskriminierung drohen könnte, die die erforderliche Intensität erreichen und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzen würde und zudem staatliche Institutionen nicht in der Lage wären, ihn davor zu schützen.
Dies gilt umso mehr, als der Kläger selbst vorgetragen hat, eine Diskriminierung finde nur dort statt, wo er im Zusammenhang mit der ihm zugeschriebenen Eigenschaft als Buda bekannt sei.
Soweit im Gerichtsverfahren vorgetragen worden ist, der Kläger sei im Zusammenhang mit der ihm zugeschriebenen Eigenschaft als Buda als Nachkomme äthiopischer Juden aufgrund seines Glaubens und damit landesweit diskriminiert, wobei der äthiopische Staat diese Diskriminierung ignoriere, ist festzustellen, dass für diese Behauptung nicht einmal ansatzweise etwas Greifbares spricht. Der Kläger hat nie behauptet, Nachkomme äthiopischer Juden zu sein. Diesbezüglich hat er nichts Konkretes glaubhaft gemacht. Vielmehr hat er bei der Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, er sei Moslem und er habe schon als Kind mehr über den moslemischen Glauben erfahren wollen. Zudem hat er angegeben, dass seine Familie Land besitze. Nach dem Vortrag der Klägerbevollmächtigten war aber äthiopischen Juden der Besitz von Land untersagt. Damit ist nicht einmal ansatzweise erkennbar, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien als Nachkomme äthiopischer Juden wegen seines Glaubens verfolgt oder diskriminiert werden könnte.
Damit steht der Klagepartei kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.
Die Klagepartei hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Dass der Klagepartei bei ihrer Rückkehr die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), macht sie selbst nicht geltend. Ebenso wenig kann angesichts der oben genannten grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien angenommen werden, dass der Klagepartei in Äthiopien Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen. Unabhängig hiervon ist auch unter Berücksichtigung von in Äthiopien herrschenden harten Haftbedingungen nicht erkennbar, dass bei der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe einem Inhaftierten eine menschenrechtswidrige Behandlung droht (BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 57 m.w.N.). Auch ist nicht erkennbar, dass in Äthiopien ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG herrschen könnte, der zu einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klagepartei infolge willkürlicher Gewalt führen könnte. Zwar werden in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben (vgl. oben). Es gibt nach der aktuellen Erkenntnislage aber in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände (vgl. im Einzelnen BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 60 bis 61 m.w.N.). Damit besteht kein Anspruch der Klagepartei auf Zuerkennung subsidiären Schutzes.
Allerdings hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK insbesondere aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen in Äthiopien.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Diese Vorschrift verweist auf die EMRK, soweit sich aus dieser zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse ergeben. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Während für die Tatbestandsalternativen Folter und unmenschliche Behandlung ein einer staatlichen Institution zurechenbares vorsätzliches Handeln erforderlich ist, gilt dies nicht bei der Alternative der erniedrigenden Behandlung. Deshalb können unter diese Tatbestandsalternative auch schlechte humanitäre Verhältnisse fallen. Diese sind relevant, wenn sie auf staatlichem oder auf staatlichen Institutionen zurechenbarem Handeln beruhen, so dass der Zivilbevölkerung kein ausreichender Schutz geboten werden soll oder kann (VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 164 bis 169). Aber auch wenn es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen als erniedrigende Behandlung i.S. des Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein. Diese müssen jedoch ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Das kann der Fall sein, wenn der Flüchtling im Herkunftsland seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielland der Abschiebung nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris LS 1 und Rn. 8; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23 und 25). Hierbei bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, wobei z.B. auch Krankheiten eine Rolle spielen können, soweit sie Auswirkungen auf die Frage habe, ob der Flüchtling seinen existentiellen Lebensunterhalt sichern kann.
Für die Gefahr einer erniedrigenden Behandlung müssen ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt ist; diese muss also aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher („real risk“) und darf nicht nur hypothetisch sein (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6). Dabei ist ein gewisser Grad an Mutmaßungen dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent; es kann nicht ein eindeutiger, über alle Zweifel erhobener Beweis verlangt werden (BVerwG; B.v. 13.2.2019 – a.a.O.). Es gilt also der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 187 bis 191).
Vorliegend ergibt sich, dass der Kläger unter Beachtung der oben dargestellten Grundlagen die Voraussetzungen einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt.
Allerdings hat der Kläger nicht nachvollziehbar dargelegt, dass er bei einer Rückkehr nach Äthiopien der Folter oder einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sein könnte. Wie oben dargelegt, droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien aufgrund des Wandels der politischen Verhältnisse keinerlei Verfolgung (mehr) wegen politischer oder exilpolitischer Tätigkeit. Auch hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Eigenschaft als Buda ist nicht erkennbar, dass ihm staatlicherseits derartige Maßnahmen drohen könnten.
Allerdings droht dem Kläger bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende Behandlung aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse in Äthiopien.
Äthiopien gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Es besteht ein hoher Bedarf an humanitärer Versorgung. Sozialleistungen sind nicht existent, Rückkehrer können nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen. Es gibt keine kostenlose medizinische Grundversorgung; dennoch ist die Behandlung akuter Erkrankungen oder Verletzungen durch eine medizinische Basisversorgung gewährleistet. Chronische Krankheiten können mit Einschränkungen behandelt werden (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 64 m.w.N.; AA, Lagebericht Stand März 2020).
In Bezug auf die Frage, ob ein Flüchtling bei der Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können wird, sind zudem die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie und die Auswirkungen der Heuschreckenplage zu beachten. Diesbezüglich stellt sich die Situation im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. AsylG) wie folgt dar:
Gemäß der Johns-Hopkins-Universität sind in Äthiopien 831 Personen (Stand: 28.5.2020) an COVID-19 erkrankt, wobei von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss.
Am 8. April 2020 wurde zunächst für fünf Monate der Ausnahmezustand ausgerufen. Die landesweit geltenden Restriktionen umfassen das Verbot größerer Veranstaltungen (ab vier Personen), die Schließung aller Schulen (seit 16.3.2020), Restaurants und Clubs sowie die Besetzung von (auch privaten) Fahrzeugen nur bis zur Hälfte ihrer Kapazität, einhergehend mit der Verdoppelung des Fahrpreises für Busse und Taxis (AA, Äthiopien: Reise- und Sicherheitshinweise, Stand: 27.5.2020).
Ein Lockdown ist demgegenüber in Äthiopien nicht angeordnet worden. Die Tagelöhner, die darauf angewiesen sind, jeden Tag Arbeit zu finden, um sich abends etwas zu Essen zu kaufen, gehen weiter zur Arbeit. Auch Wochenmärkte werden weiterhin betrieben (Berliner Zeitung vom 9.4.2020, in Äthiopien gibt es 435 Beatmungsgeräte – und 105 Millionen Menschen).
Allerdings sind aufgrund des Ausnahmezustandes die Kirchen, vor denen die ärmsten Menschen regelmäßig betteln, geschlossen. Die Menschen schränken ihre Kontakte ein, so dass es für Arbeitsuchende schwieriger ist, Aufträge zu bekommen. Dies trifft insbesondere alleinerziehende Mütter, deren Einkommenssituation sich durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie deutlich verschlechtert hat (Menschen für Menschen vom 29.4.2020, Corona-Überlebenspakete für Kinder in Äthiopien).
Gemäß den Ausführungen in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (vom 27.4.2020, Am Ende kann nur Gott uns helfen) sind Zusammenkünfte von mehr als vier Personen seit der Ausrufung des nationalen Notstandes untersagt. Eine Ausgangssperre ist bislang nicht verhängt worden. Allerdings hat Äthiopien die Landesgrenzen weitgehend zu schließen versucht. Zwar sind Bars und Nachtclubs geschlossen, vieles hat jedoch geöffnet. Straßenverkäufer und kleine Kioske sind nach wie vor da und sowohl für die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln als auch für das Überleben der Betreiber-Familien von entscheidender Bedeutung. Auch Supermärkte haben weiter geöffnet. Wo in ländlichen Gegenden lokale Märkte geschlossen sind, verkaufen die Menschen ihre landwirtschaftlichen Güter von den Türen der Bauernhöfe aus. Preiserhöhungen unter Ausnutzung der Situation werden bestraft. Gleichzeitig mehren sich Berichte über verstärkte Kleinkriminalität.
Hinsichtlich der Heuschreckenplage ist festzustellen, dass in Äthiopien große Heuschreckenschwärme vorhanden sind, die ganze Felder und Weideflächen kahlfressen. Im Juni 2019 machten sich die Tiere von Oman ausgehend auf den Weg in Richtung Horn von Afrika. In Äthiopien fanden sie dank außergewöhnlicher Regenfälle im Oktober und November 2019 günstige Bedingungen für die Vermehrung vor. Die Welthungerhilfe verteilt derzeit in Äthiopien gemeinsam mit den Partnern des NGO-Bündnisses Alliance 2015 Bargeld, dies zum Schutz vor Ernteverlusten und um steigende Preise infolge der Krise bei Lebensmitteln und Viehfutter abzufedern. Zudem plant die Welthungerhilfe den Aufbau von Capacity-Building (z.B. Entwicklung von Frühwarnsystemen). In der Afar-Region plant die Welthungerhilfe weitere ernährungssichernde Maßnahmen. Dies macht deutlich, dass Äthiopien derzeit nicht so stark von der Heuschreckenplage betroffen ist, dass eine akute Hungersituation eingetreten wäre (vgl. Welthungerhilfe, Projekt-Update vom 12.5.2020, Heuschreckenplage in Ost-Afrika).
Aus diesen Unterlagen ergibt sich, dass derzeit die Transportmöglichkeiten in Äthiopien stark eingeschränkt sind, so dass Rückkehrer in Äthiopien aufgrund der aktuellen Transportprobleme innerhalb Äthiopiens daran gehindert sind, ihre Herkunftsregionen fern von Addis Abeba zu erreichen. Deshalb sind sie darauf angewiesen, in Addis Abeba zu verbleiben.
Weiterhin ergibt sich aus den dargestellten Unterlagen eine gewisse Einschränkung des sozialen Lebens; zwar ist davon auszugehen, dass dennoch alleinstehende gesunde Erwachsene oder verheiratete Paare ohne Kinder weiterhin in der Lage sein werden, ihren existentiellen Lebensunterhalt zu bestreiten (vgl. VG Würzburg, U.v. 29.5.2020 – W 3 K 19.31490 – juris). Demgegenüber muss davon ausgegangen werden, dass Personen, auch Paare, mit kleinen Kindern aufgrund der Einschränkungen und insbesondere der Kontaktverbote (wie oben angeführt sind Zusammenkünfte von mehr als vier Personen nicht zulässig) in einer ohnehin prinzipiell schwierigen Situation ohne staatliche Unterstützung nicht in der Lage sein werden, ein der Familie angemessenes notdürftiges Obdach und eine Arbeit zu finden, die die nötigen Geldmittel für die Erfüllung existentiell erforderlicher Bedürfnisse generieren kann. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass derzeit alle Schulen geschlossen sind und damit die Familien selbst umfassend für die notwendige Betreuung ihrer Kinder sorgen müssen und damit weniger Möglichkeiten haben, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Auf dieser Grundlage droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende Behandlung i.S. des § 60 Abs. 5 AufenthG.
Beim Kläger handelt es sich um einen 25-jährigen gesunden Mann. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder, welche am … … 2017 und … … 2018 geboren sind. Auf dieser Grundlage muss unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK davon ausgegangen werden, dass der Kläger gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern nach Äthiopien zurückkehren würde. Er hat angegeben, dass seine Großfamilie im Bezirk Jimma lebt. Jimma ist etwa 350 km von Addis Abeba entfernt. Weiterhin hat der Kläger angegeben, dass sein Onkel, der ihn nach seinem 15. Lebensjahr aufgenommen hat, in Alamgenan lebt. Alamgenan ist nach den Angaben des Klägers etwa 40 km entfernt von Addis Abeba gelegen, nach einer Internetrecherche etwa 20 km. Weitere Verwandtschaft in Addis Abeba ist nicht vorhanden.
Aufgrund der oben dargestellten Transportprobleme muss davon ausgegangen werden, dass es für den Kläger und seine Familie nicht möglich sein wird, nach einer Rückkehr nach Addis Abeba von dort zu seiner Großfamilie in Jimma zu gelangen.
Weiterhin ist davon auszugehen, dass er wohl in der Lage sein dürfte, mit seiner Familie von Addis Abeba aus die 20 km-Entfernung nach Alamgenan zu überwinden und zu seinem Onkel zu gelangen. Allerdings gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass der Kläger aufgrund der ihm zugeschriebenen Eigenschaft als Buda bei seinem Onkel keinerlei weitere Unterstützung erfahren wird. Der Kläger hat für das Gericht nachvollziehbar dargelegt, dass er aufgrund dieser ihm zugeschriebenen Eigenschaft von Menschen, denen diese Eigenschaft bekannt ist, ausgegrenzt wird. Er hat weiterhin glaubhaft dargelegt, dass die Zuschreibung dieser Eigenschaft auch in Alamgenan bekannt ist und deswegen der dort wohnhafte Onkel nicht mehr dazu bereit ist, den Kläger aufzunehmen. Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Addis Abeba gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern keinerlei familiäre Unterstützung erhalten wird.
Gemäß den obigen Ausführung wird der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, für sich und seine Familie den existentiellen Lebensunterhalt zu sichern und aus eigener Kraft ein Obdach zu finden und eine existenzsichernde Arbeit, die mit der hinreichenden Zuverlässigkeit zu einem die Familie absichernden Einkommen führt.
Aus diesem Grund hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Damit ist die Prüfung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entbehrlich (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 f).
Damit war die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei dem Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt; Ziffer 4 des Bescheides des Bundesamtes vom 9. November 2018 war aufzuheben. Die unter Ziffer 5 des Bescheides ausgesprochene Abschiebungsandrohung nach Äthiopien war ebenso wie die unter Ziffer 6 vorgenommene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes aufzuheben, weil diese Maßnahmen aufgrund des bestehenden Abschiebungsverbotes rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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