Verwaltungsrecht

Anordnung eines Sicherheits-/Präventivgewahrsams nach § 17 PAG (konzertiertes Abseilen an Autobahnbrücken während der IAA)

Aktenzeichen  306 XIV 215/21 (B)

Datum:
7.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 28869
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Erding
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
PAG Art. 17 Nr. 2, Art. 18 Abs. 1, Abs. 3, Art. 96 Abs. 1
FamFG § 415, § 416, § 422 Abs. 2
KostO § 128c Abs. 1, Abs. 3
StGB § 315b Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5

 

Leitsatz

1. Die Freiheitsentziehung ist gem. Art. 17 Nr. 2 PAG zulässig. Sie ist unerlässlich, um die unmittelbar bevorstehende Begehung bzw. Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Sind die Aktionen professionell vorbereitet und durchgeführt worden, ist angesichts der noch einige Tage andauernden IAA und der bei der Betroffenen sichergestellten Kletterutensilien mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es während der IAA zu gleichgelagerten Aktionen und damit zu Straftaten kommen soll. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
3. Aufgrund des massiven Verstoßes der Betroffenen ist mit an hoher Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Betroffene bis zum Ende der IAA auch weitere ähnliche Verstöße begehen wird, um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen und es hierdurch zu erheblichen Sicherheitsstörungen kommen wird. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
4. Es ist sicherzustellen, dass die Betroffene keine weitere Gefährdung des Straßenverkehrs begehen kann. Es handelt sich auch um Ordnungswidrigkeiten bzw. Straftaten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit. Durch die Handlung der Betroffenen sowie koordinierter vergleichbarer Handlungen weiterer Betroffener wurde der Straßenverkehr in München auf mehreren Autobahnen im Berufsverkehr zum Stillstand gebracht. Weiter geht durch das riskante Abseilen von einer Autobahnbrücke im laufenden Verkehr eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben aus. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Ingewahrsamnahme des Betroffenen durch die KPI Erding am 07.09.2021 ist zulässig.
2. Die höchstzulässige Dauer der Freiheitsentziehung wird bis 12.09.2021, 18:00 Uhr bestimmt.
3. Die Betroffene hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
4. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

Gründe

I.
Am 07.09.2021 gegen 08:18 Uhr befestigte sich die Betroffene mittels Klettergurt an dem Geländer einer Autobahnbrücke an der BAB A94, Poing, Angelbrechting, B2.straße und seilte sich anschließend ab. Die Betroffene wollte auf diese Weise ihren Protest gegen die Internationale Automobilausstellung (IAA) zum Ausdruck bringen, die vom 07.09.2021 bis zum 12.09.2021 in München stattfindet.
Der Verkehr auf der Autobahn musste gestoppt und die BAB A94 gesperrt werden.
Das Verhalten der Betroffenen stellt die Verwirklichung einer Straftat dar.
Nach Angaben der ermittelnden Polizeibeamten fanden ähnliche Aktionen, bei denen Personen sich an Autobahnüberführungen abseilten, um gegen die IAA zu protestieren, parallel auch an anderen Autobahnen statt. Die Taten wirkten vorbereitet und geplant, nachdem die Aktivisten Transparente, Klettergurte und Seile bei sich trugen. Weitere Aktivisten filmten und streamten die Taten live.
Die Betroffene wurde durch zwei Beamte gesichert und anschließend nach oben auf die Brücke angehoben. Die Betroffene wurde zur KPI Erding zur weiteren Sachbearbeitung transportiert und dort in Gewahrsam genommen.
Die Betroffene wollte sich nicht zur Sache äußern, war unkooperativ und verweigerte die Angabe ihrer Personalien. Bei der Betroffenen wurde unter anderem diverses Kletterwerkzeug wie Klettergurte und -seile sichergestellt.
Die KPI Erding hat gemäß Art. 18 Abs. 1 PAG eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und die Fortdauer der Freiheitsentziehung bis 12.09.2021 beantragt. Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf diesen Antrag Bezug genommen.
II.
Die Betroffene wurde am 07.09.2021 mündlich gehört. Sie erklärte, sie habe keine weiteren Aktionen geplant. Sie wolle unmittelbar nach Beendigung des Gewahrsams zurück nach Hamburg.
III.
Das AG Erding ist sachlich und örtlich zuständig (Art. 18 Abs. 3 PAG, §§ 415, 416 FamFG).
IV.
Die Freiheitsentziehung ist gemäß Art. 17 Nr. 2 PAG zulässig. Sie ist unerlässlich, um die unmittelbar bevorstehende Begehung bzw. Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.
Die Annahme, dass eine Person eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich insbesondere darauf stützen, dass die Person die Begehung der Tat angekündigt oder dazu aufgefordert hat oder Transparente oder sonstige Gegenstände mit einer solchen Aufforderung mit sich führt; dies gilt auch für Flugblätter solchen Inhalts, soweit sie in einer Menge mitgeführt werden, die zur Verteilung geeignet ist oder bei der Person Waffen, Werkzeuge oder sonstige Gegenstände aufgefunden werden, die ersichtlich zur Tatbegehung bestimmt sind oder erfahrungsgemäß bei derartigen Taten verwendet werden, oder ihre Begleitperson solche Gegenstände mit sich führt und sie den Umständen nach hiervon Kenntnis haben musste, oder die Person bereits in der Vergangenheit mehrfach aus vergleichbarem Anlass bei der Begehung von Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder Straftaten als Störer betroffen worden ist und nach den Umständen eine Wiederholung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist.
Die Betroffene führte Kletterausrüstung mit sich, seilte sich an einer Autobahnbrücke ab und brachte hierdurch den Verkehr zum Erliegen. Gleichzeitig fanden auch an anderen Autobahnörtlichkeiten vergleichbare Aktionen statt. Die Aktionen wurden gefilmt und live gestreamt. Da die Aktionen professionell vorbereitet waren und durchgeführt wurden, die IAA noch einige Tage läuft und unter den sichergestellten Gegenständen der Betroffenen Kletterutensilien sind, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es während der IAA zu gleichgelagerten Aktionen und damit zu Straftaten kommen soll.
Die weitere Freiheitsentziehung bis 12.09.2021, 18:00 Uhr ist geboten und auch nicht unverhältnismäßig. Aufgrund des massiven Verstoßes der Betroffenen vom 07.09.2021 ist mit an hoher Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Betroffene bis zum Ende der IAA auch weitere ähnliche Verstöße begehen wird, um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen und es hierdurch zu erheblichen Sicherheitsstörungen kommen wird. Die Behauptung der Betroffenen, sie wolle unmittelbar nach Beendigung des Gewahrsams zurück nach Hamburg ist als Schutzbehauptung zu werten, da die Betroffene weder ein Zugticket vorlegen kann noch genauere Angaben zu ihrer Rückreise macht.
Weniger einschneidende Maßnahmen kommen nicht in Betracht. Es ist sicherzustellen, dass die Betroffene keine weitere Gefährdung des Straßenverkehrs begehen kann. Es handelt sich auch um Ordnungswidrigkeiten bzw. Straftaten von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit. Durch die Handlung der Betroffenen sowie koordinierter vergleichbarer Handlungen weiterer Betroffener wurde der Straßenverkehr in München auf mehreren Autobahnen im Berufsverkehr zum Stillstand gebracht. Weiter geht durch das riskante Abseilen von einer Autobahnbrücke im laufenden Verkehr eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben aus.
IV.
Die Entscheidung über die sofortige Wirksamkeit beruht auf Art. 96 Abs. 1 BayPAG i.Vm. § 422 Abs. 2 FamFG.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 128c Abs. 1, 3 KostO.


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