Verwaltungsrecht

Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis einer an PTBS erkrankten Marokkanerin mangels ausreichender Versorgung an Psychiatern im Herkunftsland

Aktenzeichen  W 7 S 16.5

Datum:
21.1.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 25 Abs. 3 S. 1, § 60 Abs. 7 S. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Das Suspensivinteresse der Abschiebungsanordnung einer Asylsuchenden aus Marrokko, bei der sehr starke PTBS mit dissoziativer Symptomatik, Phobien und Depressionen mit latenter Suizidalität, mit jederzeitiger Möglichkeit zur akuten Suizidalität besteht, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse an der Abschiebung.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage W 7 K 16.4 gegen den Bescheid der Stadt Würzburg vom 30. November 2015 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
IV.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt B…,, für dieses Verfahren beigeordnet.

Gründe

I.
1.
Die Antragstellerin ist marokkanische Staatsangehörige. Am 2. Juni 2014 heiratete sie in Marokko einen deutschen Staatsangehörigen. Sie reiste am 15. September 2014 mit einem bis zum 8. Dezember 2014 gültigen Visum zum Zweck des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Am 19. September 2014 beantragte sie bei der damals zuständigen Ausländerbehörde des Landratsamts Main-Spessart die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
Am 23. Dezember 2014 teilte der deutsche Ehemann der Antragstellerin der Ausländerbehörde mit, dass sie die gemeinsame Ehewohnung verlassen habe und die eheliche Lebensgemeinschaft nicht mehr bestehe.
Seit dem 23. Dezember 2014 wohnt die Antragstellerin in einem Frauenhaus in Würzburg.
Mit Telefax vom 11. Februar 2015 an die damalige Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin wurde diese von der Antragsgegnerin zur beabsichtigten Antragsablehnung angehört. Hierauf teilte die damalige Verfahrensbevollmächtigte mit Schreiben vom 25. März 2015 mit, dass ein Härtefall nach § 31 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliege. Die Antragstellerin sei von ihrem Ehemann sexuell genötigt worden. Er habe sie massiv in ihrer Freiheit auf selbstbestimmtes Handeln eingeschränkt. Wie sich aus dem psychiatrischen Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E. vom 7. März 2015 ergebe, sei die Antragstellerin deshalb psychisch erkrankt, leide insbesondere an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Ihr Vater sei mit der Ehe nicht einverstanden gewesen und kurz nach der Eheschließung gestorben. Sie habe massive Ängste vor einer Rückkehr nach Marokko. Als geschiedene Frau sei sie für ihre altgläubige Familie eine Schande und würde zwangsverheiratet werden. Nach Beendigung des Mandatsverhältnisses mit der vormaligen Verfahrensbevollmächtigten ergänzte diese Ausführungen der dann Bevollmächtigte mit Schreiben vom 4. August 2015.
Am 11. September 2015 wurde die Ehe zwischen der Antragstellerin und ihrem Ehemann geschieden.
Mit Bescheid vom 30. November 2015, dem damaligen Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin am 2. Dezember 2015 zugestellt, lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer 1), forderte die Antragstellerin zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides, für den Fall der Anordnung der aufschiebende Wirkung der Klage gegen diesen Bescheid innerhalb eines Monats nach Bestandskraft des Bescheides, auf (Ziffer 2) und drohte für den Fall der nicht fristgerechten freiwilligen Ausreise die Abschiebung nach Marokko oder einen anderen Staat an, in den sie einreisen darf oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist (Ziffer 3). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i. V. m. § 27 Abs. 1 AufenthG nicht (mehr) vorlägen, da die eheliche Lebensgemeinschaft zwischen der Antragstellerin und ihrem (früheren) deutschen Ehemann nicht mehr bestehe. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG komme nicht in Betracht. § 31 AufenthG sei eine reine Verlängerungsnorm. Der Antragstellerin sei jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG erteilt worden. Zwar sei die Ausstellung eines elektronischen Aufenthaltstitels bei der Bundesdruckerei in Auftrag gegeben worden, dieser sei der Antragstellerin jedoch nicht ausgehändigt und damit nicht i. S. einer Bekanntgabe erteilt worden. Auch die Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit und sonstiger Aufenthaltstitel seien nicht gegeben. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Gründe des Bescheides vom 30. November 2015 Bezug genommen.
2.
Gegen diesen Bescheid ließ die Antragstellerin mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 4. Januar 2016, bei Gericht am selben Tag als Telefax eingegangen, Klage erheben (W 7 K 16.4), über die noch nicht entschieden ist. Zugleich ließ sie einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO stellen. Zur Begründung ist im Wesentlichen vorgetragen, dass die Antragsgegnerin die persönlichen Verhältnisse und den gesundheitlichen Zustand der Antragstellerin, die sich seit mehreren Monaten in psychotherapeutischer Behandlung befinde und suizidgefährdet sei, nicht ausreichend zur Kenntnis genommen habe. Im Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E. vom 7. März 2015 werde ausdrücklich ausgeführt, dass im Falle einer Abschiebung der Antragstellerin nach Marokko mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer erheblichen Gefährdung und Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin auszugehen sei. Die Antragstellerin, die sich in einem Frauenhaus in Würzburg aufhalte, befinde sich seit dem 17. Juni 2015 in psychotherapeutischer Behandlung. Die Psychotherapeutin T. weise darauf hin, dass eine Behandlung notwendig sei, weil die Antragstellerin von Angst- und Panikattacken belastet sei und eine Reihe posttraumatischer Symptome gezeigt habe, wie Flashbacks von Gewalterfahrung aus der Zeit ihrer Ehe sowie Dissoziation in einem starken Ausmaß. Sie werde von Depersonalisations- und dereellen Assoziationszuständen in Verbindung mit Angstgefühlen überflutet. Sie leide unter PTBS. Mit diesen Befunden habe sich die Antragsgegnerin nicht auseinandergesetzt. Eine traumatherapeutische Behandlung sei dringend erforderlich. Dazu sei jedoch ein sicherer Aufenthaltsstatus nötig. Hinzu komme, dass die Antragstellerin bei einer zwangsweisen Rückkehr nach Marokko ohne Einkommen und Arbeit wäre. Die Familie der Antragstellerin lebe wie achtzig Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Bezüglich der drohenden Zwangsverheiratung der Antragstellerin sei zu berücksichtigen, dass im ländlichen Bereich religiöse Elemente eine große Rolle spielten. Wegen der weiteren Einzelheiten der Antragsbegründung wird auf die Schriftsätze des Prozessbevollmächtigten vom 4. Januar 2016 und 18. Januar 2016 Bezug genommen.
Die Antragstellerin lässt sinngemäß beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage W 7 K 16.4 gegen den Bescheid der Stadt Würzburg vom 30. November 2015 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Ergänzend zur Begründung des angefochtenen Bescheides führt die Antragsgegnerin im Wesentlichen aus, dass weder Abschiebungshindernisse noch Duldungsgründe ersichtlich seien. Im Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E. vom 7. März 2015 werde die Antragstellerin als labil und unsicher beschrieben. Sie wirke auch depressiv und verzweifelt. Sie habe massive Ängste vor einer Rückkehr nach Marokko, dort drohe ihr Zwangsverheiratung. Abschließend komme Frau E. zu der Beurteilung, dass im Falle einer Abschiebung nach Marokko mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer erheblichen Gefährdung und Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin auszugehen sei. Nach Auffassung der Antragsgegnerin habe die Antragstellerin sich jedoch mit der Heirat eines deutschen Mannes mit katholischem Glauben über die Einstellungen und den Einfluss ihrer Familie hinweggesetzt. Zudem habe sie in Marokko Touristik studiert. Sie verfüge über gute Englischkenntnisse und habe vor ihrer Einreise nach Deutschland in einem Hotel in Marrakesch an der Rezeption gearbeitet. Sie habe bis zu ihrer Einreise in das Bundesgebiet ein eigenständiges Leben geführt. Es sei davon auszugehen, dass ihr bei einer Rückkehr schnell wieder möglich sein werde, ein von ihrer Familie unabhängiges Leben zu führen. Zudem habe sie in Deutschland weitere Berufs- und Spracherfahrung gewinnen können. Nach der ärztlichen Stellungnahme würde sich eine Abschiebung negativ auf ihre Gesundheit auswirken, der Antragstellerin werde jedoch die freiwillige Ausreise ermöglicht. Die Ausführungen der Psychotherapeuten widersprächen den tatsächlichen Gegebenheiten. Die Antragstellerin sei als arbeitssuchend (als Hotelfachfrau) gemeldet. Sie habe im Februar als Servicekraft in einer Pizzeria und von April bis Juni 2015 in einem Hotel in Würzburg gearbeitet. Von Juli bis Dezember 2015 habe sie ganztägig an einem Sprachkurs teilgenommen, derzeit nehme sie an einem Bewerbertraining des Jobcenters teil. Sie habe sich auch über die Möglichkeit eines Studiums informiert. Diese Biographie stehe in völligem Kontrast zu dem Bild, das von der Antragstellerin selbst und ihrer Psychotherapeutin gezeichnet werde. Die vorgetragene psychische Verfassung der Antragstellerin beruhe allein auf deren Angaben, die sie gegenüber Frau E. bzw. Frau T. gemacht habe. Gegenüber der Polizei habe sie widersprüchliche Angaben gemacht. Das Ermittlungsverfahren gegen ihren früheren Ehemann sei eingestellt worden. Die Antragstellerin könne auch in Marokko psychologisch bzw. psychotherapeutisch behandelt werden. In den großen Städten seien entsprechende Einrichtungen vorhanden. Eine Zwangsverheiratung drohe ihr nicht. Die Antragstellerin sei in Casablanca geboren, habe die Schule besucht und studiert. Sie habe vor ihrer Ausreise in Marrakesch gelebt und in der Tourismusbranche gearbeitet. Dieser Werdegang zeige, dass die Antragstellerin nicht konservativ aufgewachsen sei und gelebt habe. Die nähere Familie lebe ebenfalls nicht auf dem Land. Ihre Mutter sei in Rabat geboren, ihre fünf Geschwister lebten in Marrakesch. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die Schriftsätze vom 8. Januar 2016 und 20. Januar 2016 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Akten der Verfahren W 7 K 16.4 und W 7 S 16.5 und der beigezogenen Behördenakte verwiesen.
II.
1.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Verfahren W 7 K 16.4 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. November 2015 ist zulässig und begründet. Die Interessenabwägung ergibt bei offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ein Überwiegen des privaten Suspensivinteresses.
1.1.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall eines gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, welche Interessen höher zu bewerten sind, diejenigen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als ein wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (BVerwG, B. v. 25.3.1993 – 1 ER 301/96 – NJW 1993, 3212, juris Rn. 3): Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt voraussichtlich erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
1.2.
Im Rahmen der vorzunehmenden summarischen Prüfung ist offen, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 i. V. m. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat.
Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Bezogen auf krankheitsbedingte Verschlechterungen des Gesundheitszustands eines Ausländers bei Rückkehr in sein Heimatland muss daher ernsthaft zu befürchten stehen, dass sich sein Gesundheitszustand in seinem Heimatland wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, etwa weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte. Erforderlich ist, dass die drohende Gesundheitsgefahr von besonderer Intensität ist und die zu erwartende Gesundheitsverschlechterung alsbald nach Rückkehr in den Zielstaat einzutreten droht (vgl. nur BVerwG, U. v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – und v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – jeweils juris).
Ausgehend hiervon ist jedenfalls offen, ob für die Antragstellerin eine erhebliche konkrete Gefahr i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Falle einer Rückkehr nach Marokko besteht. Wie sich aus dem psychiatrischen Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie E. vom 7. März 2015 ergibt, leidet die Antragstellerin unter einer sehr starken PTBS mit dissoziativer Symptomatik, Phobien und Depressionen mit latenter Suizidalität, die jederzeit in eine akute Suizidalität umschlagen könne. Es bestehe kein Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragstellerin, es zeigten sich auch keine Anzeichen für eine Simulation oder Aggravation der angegebenen Symptomatik oder der erlebten Bedrohungen. Für eine Stabilisierung und auch erfolgreiche Therapie sei eine sichere Umgebung dringend erforderlich, um den Gesundheitszustand der Antragstellerin nicht weiter zu gefährden. Bei einer Rückführung nach Marokko sei schon vorher bei der Ankündigung mit einer Dekompensation der Störung zu rechnen, bei Durchführung mit erheblichen Retraumatisierungen und einer Gefährdung für ihre Gesundheit und ihr Leben. Eine ausreichende Behandlung in Marokko wäre nicht möglich, da für eine erfolgreiche Behandlung einer Traumafolgestörung eine sichere Umgebung oberste Priorität habe. Dabei sei nicht wesentlich wie diese objektiv beurteilt werde, sondern die Betroffene sie subjektiv empfinde, was bei nachvollziehbarer Angst vor einer drohenden Zwangsehe nicht gegeben sei. Im Kurzbefund der Diplom-Psychologin T. vom 14. Januar 2016 werden diese Beurteilung und deren noch bestehende Aktualität bestätigt. Die Antragstellerin befinde sich seit dem 17. Juni 2015 bei ihr in psychotherapeutischer Behandlung, komme zuverlässig und hoch motiviert zur Therapie. Allerdings sei es nur möglich, stabilisierend und psychoedukativ mit ihr zu arbeiten, weil eine traumakonfrontative Arbeit, die ihr helfen würde, die erlebten Gewalterfahrungen zu verarbeiten erst unter äußerlich sicheren Bedingungen, d. h. unter einem gesicherten Aufenthaltsstatus möglich sei.
Ob die danach erforderliche psychotherapeutische Behandlung der Antragstellerin in Marokko für sie erhältlich ist, ist derzeit jedenfalls offen. Die medizinische Grundversorgung in Marokko ist vor allem im städtischen Raum weitgehend gesichert. Medizinische Dienste sind kostenpflichtig, die Kosten werden bei Mittellosigkeit aber erlassen. In den Medien finden sich regelmäßig Berichte über wenig motiviertes Personal insbesondere in den öffentlichen Krankenhäusern, das unter schwierigen Arbeitsbedingungen und schlechter Bezahlung leidet. Eine Behandlung kann oft nur über Bestechung bzw. einen Eigenanteil sichergestellt werden. Eine Studie von November 2012 hat darauf hingewiesen, dass es einen großen qualitativen Unterschied zwischen öffentlicher und (teurer) privater Krankenversorgung gibt. So hat der Regionalarzt des Auswärtigen Amtes bei seinem Besuch im Oktober 2012 festgehalten, dass die medizinische Versorgung in Rabat, soweit sie durch private Institutionen/Krankenhäuser erfolgt, “größtenteils mitteleuropäischen Standard” hat. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht krankenversichert. Die seit 2005 existierende gesetzliche Krankenversicherung („Assurance Maladie Obligatoire“ – AMO) ist an ein bestehendes oder früheres Beschäftigungsverhältnis gekoppelt. Laut offiziellen Angaben sind rund 6 Mio. Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 33 Mio.) über die AMO krankenversichert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage im Königreich Marokko v. 28.11.2014, S. 21). Nach dem Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements EJPD Staatssekretariat für Migration SEM Sektion Analysen, Focus Marokko, Gesundheitsversorgung vom 25. Februar 2015 verfügt Marokko gemäß dem Mental Health Atlas 2011 der Weltgesundheitsorganisation WHO über 80 Einrichtungen, welche ambulante psychiatrische oder psychologische Therapien anbieten. Zudem gibt es in Marokko gemäß WHO zehn Psychiatrien, die zusammen über 1.461 Betten verfügen, sowie allgemeine Spitäler mit insgesamt 773 Betten, die für psychisch erkrankte Menschen bestimmt sind. Gemäß Berichten in der marokkanischen Presse, die sich auf Zahlen des Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2014 bezieht, bietet die öffentliche Gesundheitsversorgung 27 Einrichtungen, die sich auf die Behandlung psychisch erkrankter Personen spezialisiert haben. Marokko verfügt gemäß dem WHO Mental Health Atlas 2011 über 0.9 Psychiater und über 0.04 psychotherapeutisch tätige Psychologen pro 100.000 Einwohner (Vergleich, Psychiater/Psychologe pro 100.000 Personen: Algerien 1.55 /4.26,120 Tunesien 1.98 /1.12,121 Spanien 8.59 /Unbekannt). Anders formuliert gibt es in Marokko rund einen Psychiater pro 100.000 und rund einen Psychologen pro 2.000.000 Einwohner. Gemäß Medienberichten, die sich auf Angaben des Gesundheitsministeriums berufen, gibt es in Marokko 320 Psychiater. 35.5 Prozent der Psychiater praktizieren in den Universitätsspitälern in Rabat und Casablanca. In den Universitätsspitälern in Fès und Marrakech sind acht beziehungsweise neun Psychiater angestellt. In der Stadt Casablanca wird die Zahl auf psychisch kranke Menschen auf etwa 100.000 Personen geschätzt, für die rund 240 stationäre Behandlungsplätze zur Verfügung stehen. In der marokkanischen Presse und Zivilgesellschaft wird das Betreuungsangebot für psychisch kranke Menschen als unzureichend kritisiert, weil es an Fachpersonal und Behandlungsplätzen fehlt. Der Gesundheitsminister Houcine El Ouardi hat den Ausbau von Behandlungsstrukturen in der Psychiatrie zu seiner zweiten Priorität erklärt, gleich nach der Verbesserung der Notfallstrukturen.
Es kann daher bei summarischer Prüfung nicht sicher beurteilt werden, ob in Anbetracht der nach der Berichtslage nur sehr eingeschränkten psychologischen und psychotherapeutischen Versorgung die für die Antragstellerin notwendige Behandlung erhältlich ist. Zudem ist nicht hinreichend feststellbar, ob die Antragstellerin eine ggf. teure private Behandlung finanzieren kann. Zu berücksichtigen gilt schließlich, dass nach den vorgelegten psychotherapeutischen Berichten eine aus Sicht der Antragstellerin sichere Umgebung für einen Behandlungserfolg unabdingbar ist. Diese ist wohl in Marokko auch im Fall einer freiwilligen Ausreise, zu der die Antragstellerin jedoch erkennbar nicht bereit ist, nicht gegeben.
Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass die nach § 72 Abs. 2 AufenthG erforderliche Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für die Entscheidung der Ausländerbehörde über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG bislang nicht erfolgt ist.
2.
Somit ist eine gerichtliche Interessenabwägung vorzunehmen. Hierbei überwiegt das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das staatliche Vollzugsinteresse.
Das Gericht berücksichtigt dabei das gesetzlich angeordnete, grundsätzliche öffentliche Vollzugsinteresse (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, Art. 21a BayVwZVG) und auch, dass sich die Antragstellerin erst seit September 2014 im Bundesgebiet aufhält und die eheliche Lebensgemeinschaft nicht länger besteht.
Allerdings geht das Gericht aufgrund der mitgeteilten Umstände, insbesondere aufgrund der vorgelegten fachärztlichen und psychotherapeutischen Stellungnahmen davon aus, dass sich die Antragstellerin gesundheitlich in labilem Zustand befindet. Ihr Wunsch, das Hauptsacheverfahren im Inland abzuwarten, überwiegt vor diesem Hintergrund im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 GG das staatliche Vollzugsinteresse.
Unter Abwägung dieser Umstände und unter Berücksichtigung des Gewichts der auf Seiten der Antragstellerin zu schützenden Belange gelangt das Gericht vorliegend zu dem Ergebnis, dass das private Suspensivinteresse der Antragstellerin das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung basiert auf §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG.
4.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist gemäß § 166 VwGO i. V. m. §§ 114, 115 ZPO begründet, weil die Antragstellerin nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.


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