Aktenzeichen B 4 K 16.36
KAG Art. 13 Abs. 1 Nr. 3b, Abs. 2
AO AO § 125, § 130 Abs. 1, § 169 Abs. 1
Leitsatz
1 Nachdem gemäß § 130 Abs. 1 AO die Rücknahme im Ermessen der Behörde steht, kommt ein Anspruch auf Teilrücknahme von Beitragsbescheiden nur in Betracht, wenn die Rücknahme die einzig rechtmäßige Entscheidung ist, also ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. (redaktioneller Leitsatz)
2 Dies wäre etwa dann gegeben, wenn die Bescheide einen so schweren Fehler aufwiesen, dass sie nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 b) KAG in Verbindung mit § 125 AO nichtig wären, oder wenn die Aufrechterhaltung der bestandskräftigen Verwaltungsakte mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit „schlechthin unerträglich“ wäre (Anschluss an BayVGH BeckRS 2012, 51967). (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine Ermessensreduktion liegt auch dann vor, wenn ein Beharren auf der Bestandskraft der Bescheide als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erschiene (Anschluss an BayVGH BeckRS 2015, 55246). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die auf eine Teilrücknahme der Beitragsbescheide vom 21.11.2013 zielende Verpflichtungsklage ist zulässig, gemäß § 113 Abs. 5 VwGO aber unbegründet. Die Kläger haben weder einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme der Beitragsbescheide im Umfang von insgesamt 534,16 EUR (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) noch einen Anspruch auf erneute Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO), weil der Ablehnungsbescheid vom 01.04.2015 rechtmäßig ist und die Kläger dadurch nicht in ihren Rechten verletzt sind.
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 b), Abs. 2 KAG in Verbindung mit § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Ob die Beitragsbescheide vom 21.11.2013 teilweise rechtswidrig sind, lässt sich nicht ohne weiteres verbindlich feststellen. Zwar ergibt ein Vergleich des Bauantrages Nr. … und der Tektur Nr. …, dass an die Stelle einer ursprünglich genehmigten Garage mit überdachtem Vor Platz ein Büro und eine Diele getreten sind. Das schließt aber nicht von vorn-herein aus, dass bereits die Geschossflächen der Garage und des überdachten Vorplatzes im Jahr 1972 mit veranlagt wurden, je nachdem, wie sich die Gesetzes- und Satzungslage damals darstellte. Waren die Geschossflächen der Garage und des überdachten Vorplatzes in der im Jahr 1972 veranlagten Geschossfläche von 178,85 m2 enthalten, wäre durch die Tektur keine zusätzliche beitragspflichtige Geschossfläche geschaffen worden, die im Rahmen der streitgegenständlichen Beitragserhebung über die veranlagten 178,85 m2 hinaus von der aktuellen Geschossfläche von 755,13 m2 hätte abgezogen werden müssen. Einer abschließenden Klärung dieser Frage bedarf es nicht, weil die Ablehnung des Rücknahmeantrages auch dann rechtmäßig ist, wenn man die teilweise Rechtswidrigkeit der Beitragsbescheide vom 21.11.2013 unterstellt.
Nachdem gemäß § 130 Abs. 1 AO die Rücknahme im Ermessen der Behörde steht, kommt ein Anspruch der Kläger auf Teilrücknahme der Beitragsbescheide nur in Betracht, wenn die Rücknahme die einzig rechtmäßige Entscheidung ist, also ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Dies wäre etwa dann gegeben, wenn die Bescheide einen so schweren Fehler aufwiesen, dass sie nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 b) KAG in Verbindung mit § 125 AO nichtig wären, oder wenn die Aufrechterhaltung der bestandskräftigen Verwaltungsakte mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit „schlechthin unerträglich“ wäre, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt (BayVGH, Beschluss vom 21.05.2012 – 20 B 12.251 – juris Rn. 14). Eine Ermessensreduktion liegt auch dann vor, wenn ein Beharren auf der Bestandskraft der Bescheide als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erschiene (BayVGH, Beschluss vom 15.09.2015 – 20 ZB 15.1573 – juris Rn. 4).
Keiner dieser Fälle liegt hier vor. Nichtig ist ein Verwaltungsakt gemäß § 125 Abs. 1 AO, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Auf die Beitragsbescheide vom 21.11.2013 trifft das nicht zu, nachdem – wie dargelegt – nicht einmal ihre (unterstellte) Rechtswidrigkeit offensichtlich ist. Ferner lassen die Umstände, unter denen die Beitragsbescheide zustande gekommen sind, ihre Aufrechterhaltung weder als schlechthin unerträglich noch als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen. Seitens der Beklagten wurde nach bestem Wissen und Gewissen versucht, die beitragspflichtige Geschossflächenvergrößerung durch Abzug der im Jahr 1972 bereits veranlagten Geschossfläche korrekt zu ermitteln. Keinesfalls wurde versucht, hinsichtlich einer früher unbemerkt gebliebenen Geschossflächenvergrößerung den Ablauf der Festsetzungsfrist (Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) bb), Abs. 2 KAG in Verbindung mit § 169 Abs. 1 Satz 1 AO) bewusst zu umgehen. Die Annahme einer vormals nicht veranlagten, zwischenzeitlich verjährten Geschossflächenvergrößerung drängte sich auch nicht auf, sodass keine Veranlassung bestand, alte Bauakten nach einer solchen Geschossflächenvergrößerung zu durchforsten.
Besteht somit kein Anspruch der Kläger auf Teilrücknahme der bestandskräftigen Beitragsbescheide, hat das Gericht im Weiteren nur zu prüfen, ob die getroffene ablehnende Entscheidung der Beklagten rechtmäßig ist, nicht hingegen, ob auch eine Entscheidung zu-gunsten der Kläger, also die Rücknahme der bestandskräftigen Beitragsbescheide, ermessensfehlerfrei in Betracht gekommen wäre.
Der Ablehnungsbescheid vom 01.04.2015 ist rechtmäßig, weil die Beklagte ihr Rücknahmeermessen nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 b) KAG in Verbindung mit § 5 AO entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat. Zweck der Ermessensermächtigung in § 130 Abs. 1 AO ist es, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch die Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits eine Abwägung zu treffen. Bei der Anwendung des § 130 Abs. 1 AO auf einen rechtswidrigen bestandskräftigen Beitragsbescheid ist davon auszugehen, dass die materielle Gerechtigkeit grundsätzlich im gesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelfsverfahren gegen den Ausgangsbescheid zu verwirklichen ist, wobei allerdings die Belange des Klägers nicht außer Betracht bleiben dürfen (BayVGH, Beschluss vom 21.05.2012 – 20 B 12.251 – juris Rn. 17). Gemessen daran sind die von der Beklagten im Bescheid vom 01.04.2015 angestellten Ermessenserwägungen umfassend und sachgerecht. Insbesondere wird zutreffend berücksichtigt, dass es den Klägern möglich gewesen wäre, die Bauakten des Voreigentümers innerhalb der Rechtsbehelfsfrist zu sichten und rechtzeitig Widerspruch oder Klage zu erheben. Bei dieser Sachlage und angesichts der Tatsache, dass die (unterstellte) Rechtswidrigkeit der Beitragsbescheide – wie dargelegt – nicht auf einer schuldhaften Pflichtverletzung seitens der Beklagten beruht, ist ihre Entscheidung, dem durch die Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden den Vorrang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit einzuräumen, nicht zu beanstanden.
Nach alledem ist die Klage mit der Kostenfolge der §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO, wonach die Kläger als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner tragen, abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.