Verwaltungsrecht

Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes

Aktenzeichen  M 26 K 16.35259

Datum:
5.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3e, § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2
RL 2004/83/EG RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, Art. 8 Abs. 1
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

Einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ist (in Afghanistan) ausgesetzt, wer unter Anwendung von Gewalt gezwungen wird, bei der Arbaki-Miliz, die vor allem Raubüberfälle und Diebstähle begeht, mitzumachen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 23. November 2016 wird in den Ziffern 3 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist form- und frist-gerecht geladen worden und hat unabhängig davon gemäß allgemeiner Prozesserklärung von 25. Februar 2016 auf Einhaltung der Ladungsfrist sowie Ladung gegen Empfangsbekenntnis verzichtet.
Die zulässige Klage ist im Hauptantrag begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bzw. mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Der angegriffene Bescheid war daher, soweit er dem entgegensteht, aufzuheben (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Über den Hilfsantrag brauchte daher nicht entschieden zu werden.
1. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach Satz 2 dieser Vorschrift (1.) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, (2.) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder (3.) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Bei der Prüfung, ob dem Ausländer ein ernsthafter Schaden droht, ist, wie auch bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft, der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 ff.). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung bzw. Schädigung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Im Falle einer Vorverfolgung privilegiert Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU („Qualifikationsrichtlinie“, Neufassung) den Vorverfolgten bzw. Geschädigten durch die (widerlegbare) Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 a.a.O. – noch zum insoweit wortgleichen Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG).
Das Gericht muss dabei allerdings sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Furcht vor Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
1.1. Aufgrund des glaubhaften Vortrags des Klägers in der persönlichen Anhörung durch das Bundesamt sowie in der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass er in Afghanistan vor seiner Flucht einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ausgesetzt bzw. erneut von einer solchen bedroht war. Der Kläger hat sein bereits beim Bundesamt vorgetragenes Verfolgungsschicksal in der mündlichen Verhandlung bestätigt und dabei das Verfolgungsgeschehen in eigenen Worten anschaulich, nachvollziehbar und ausreichend substantiiert geschildert. Darüber hinaus erschien der Kläger dem Gericht von seinem persönlichen Eindruck her glaubwürdig; er hat seine Fluchtgründe eindringlich, jedoch ohne Übertreibungen dargelegt.
Der Vortrag des Klägers, er sei in seiner Herkunftsregion, der Provinz K., unter Anwendung von Gewalt gezwungen worden, bei einer „…“ mitzumachen, welche vor allem Raubüberfälle und Diebstahl begangen habe, ist auch vor dem Hintergrund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel plausibel. Aus dem Bericht von Human Rights Watch vom April 2011, aber auch aus verschiedenen Presseberichten ergibt sich, dass die sog. Arbaki-Milizen nicht nur, aber insbesondere auch in der Provinz K. aktiv und verbreitet sind. Die Arbaki sind lokale Milizen, die zunächst von der afghanischen Regierung mit finanzieller Unterstützung der US-Armee ausgerüstet wurden, um die afghanischen Sicherheitsbehörden zu unterstützen bzw. selbst lokale Sicherheitsaufgaben wahrzunehmen. Insbesondere sollten sie als lokalansässige Milizen die Taliban zurückdrängen. Die Arbaki haben sich aber zunehmend selbstständig gemacht und haben ihre Macht und ihre Waffen dazu genutzt, Straftaten zu begehen. Die Arbaki begannen, sich gegenseitig zu bekämpfen, die Bevölkerung auszuplündern und illegale Steuern zu erheben.
Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19. Oktober 2016 zufolge geht die größte Bedrohung für die Bürger Afghanistans von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handele sich meist um Anführer von Milizen, die zwar nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet seien, die sie häufig missbrauchten. Die Zentralregierung habe auf viele dieser Personen kaum Einfluss und könne sie nur begrenzt kontrollieren bzw. ihre Taten untersuchen oder verurteilen. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens blieben diese Menschenrechtsverletzungen daher häufig ohne Sanktionen.
Neben dem Motiv des Onkels und Cousins des Klägers, den Kläger für die Zwecke der Miliz zu missbrauchen, hält das Gericht auch die Aneignung des Grundstücks als weiteren Beweggrund für die gegen den Kläger gerichteten Drohungen für plausibel und weiterhin relevant. Hierfür sprechen insbesondere die Umstände der Todesfälle der Eltern und des älteren Bruders des Klägers.
Nachdem § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG der Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9) – QRL – dient, muss dem Kläger die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugutekommen, dass er im Falle der Rückkehr nach Afghanistan erneut dieser Gefahr ausgesetzt wäre. Der erforderliche innere Zusammenhang mit dem erlittenen ernsthaften Schaden bzw. der unmittelbaren Gefahr, der der Kläger vor der Ausreise ausgesetzt war, liegt vor, denn die zu erwartende Schädigung im Falle der Rückkehr ginge von denselben Akteuren i.S.d. § 3c Nr. 3 i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG aus und würde auf denselben Gründen beruhen. Stichhaltige Gründe dafür, dass der Kläger nicht erneut von solcher Verfolgung bedroht wäre, sind nicht ersichtlich.
1.2. Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche (interne) Schutzalternative i.S.d. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG zur Verfügung. Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor solcher Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftiger Weise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Beim internen Schutz sind nach § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG die im sicheren Teil des Herkunftslandes vorhandenen allgemeinen Gegebenheiten sowie die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 QRL zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zu berücksichtigen. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 20) und erfordert eine Einzelfallprüfung (st. Rspr., z.B. BayVGH, B.v. 23.9.2013 – 13a ZB 13.30252 – juris Rn. 4; B.v. 11.12.2013 – 13a ZB 13.30185 – juris Rn. 5). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 QRL kommt dem vorverfolgten Antragsteller auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG (vgl. vormals Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – NVwZ 2009, 1308 in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG).
Vor dem Hintergrund der Vermutung des Art. 4 Abs. 4 QRL geht das Gericht im vorliegenden Einzelfall nicht von einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Kläger aus. Der Kläger hat bereits zweimal versucht, internen Schutz in K1. zu erlangen. Beim ersten Mal wurde er bereits nach einer Woche aufgespürt. Beim zweiten Versuch drohte ihm selbiges aufgrund der gegen seine Schwester gerichteten Bedrohungen, welche vor dem Hintergrund der Todesfälle der Eltern und des älteren Bruders des Klägers aus der Sicht eines vernünftig denkenden Adressaten wohl durchaus ernst zu nehmen waren. Zum anderen brachen dem Kläger aufgrund dieser Drohungen und der Suche seiner Familie nach ihm sowohl seine wirtschaftliche Grundlage als auch seine Unterkunft weg. Vor dem Hintergrund der zwei missglückten Versuche, internen Schutz in einem anderen Landesteil zu finden, kann im vorliegenden Einzelfall nicht davon ausgegangen werden, dass dort keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben