Verwaltungsrecht

Asyl, Nigeria, Familie mit zwei minderjährigen weiblichen Kindern, Mutter erneut schwanger, Gefahr der Beschneidung, Schwester mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht)

Aktenzeichen  M 13 K 21.32509

Datum:
14.7.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18658
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. November 2021 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin ¾ und die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet. 

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Insoweit war die Klage abzuweisen. Zur Begründung wird auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch darauf, dass die Beklagte für sie ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG feststellt.
Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) müssen die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine Handlung oder Unterlassung von Verfolgungsakteuren (vgl. § 3c AsylG) zurückzuführen sind, können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen Denn Art. 3 EMRK enthält keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, nicht bleibeberechtigte Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft mit einer Wohnung oder finanzieller Unterstützung zu versorgen, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 20). Nach der neueren Rechtsprechung kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not wiederfände, die es ihr nicht erlauben würde, selbst die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, namentlich sich zu ernähren, zu waschen und ein Obdach zu finden, und ihre Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2021, § 60 AufenthG Rn. 23). Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris LS 1 und Rn. 9, 11).
Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.
Im vorliegenden Fall geht der Einzelrichter davon aus, dass bereits jetzt absehbar ist, dass der Klägerin und ihrem Familienverband mit ihren Eltern (ihre Mutter ist aktuell im 8. Monat schwanger) und ihrer 2016 geborenen Schwester bei einer Ausreise nach Nigeria mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen eine Verelendung drohen würde.
Zur Begründung wird auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen der Urteile des auch hier erkennenden Einzelrichters vom 14. Juli 2022 betreffend die Mutter der Klägerin und ihrer Schwester A., die an der Sichelzellerkrankung leidet (M 13 K 17. …*), sowie betreffend den Vater der Klägerin (M 13 K 17. …*) verwiesen. Gerade auch weil das Bundesamt die Klägerin mit ihren Eltern wegen einer durch die Familie des Vaters der Klägerin drohenden Beschneidungsgefahr auf die Inanspruchnahme internen Schutzes verwiesen hat, steht eine Unterstützung durch diese Familie des Vaters der Klägerin nicht zur Verfügung. Die Mutter der Klägerin hat auch keinen unterstützungsfähigen Familienverband (mehr).
Mit der Aufhebung von Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids und der Verpflichtung der Beklagten, das Vorliegen der diesbezüglichen Abschiebeverbotsvoraussetzungen festzustellen, wird die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 gegenstandslos, ebenso die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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